Montag, 11. November 1918 – Bolschewisten überall: Grippe und Landesstreik

Ernst Kind, der einundzwanzigjährige, frischgebackene Offizier der Schweizer Armee über die Lage in Europa, seine Sympathien nicht verhehlend:

8. November 1918: Folgende Worte, die ganz aus der momentanen Stimmung heraus, aber wie ich überzeugt bin, immerhin noch mit klarem Blick in die Verhältnisse geschrieben werden, sind vielleicth das letzte, was ich in ruhiger Umgebung schreiben kann. Man muss heute, wo die Idee des Bolschewismus wie eine scheussliche Seuchedurch alle Länder geht, mit jedem Tag den Ausbruch einer Revolution fürchten. Es ist alles, das ganze Unglück der jetzigen Lage, so rasend schnell gekkommen, dass man es noch nicht in seiner ganzen Wirklichkeit fassen kann. Die Kriegsereignisse seit dem Frühling sind wie ungeheure Schläge nacheinander gefolgt:

Im März begann die deutsche Kriegsoffensive. (Im Sommer 1917 war die russische Revolution zur vollen Wirkung gelangt, indem das Heer sich auflöste und die ungeleiteten Massen sich raubend u. plündernd im Land herumtrieben. Zum Schutz der Ukraine hatten die Deutschen Truppen dorthin [an dieser Stelle ein * im Text und oben der Hinweis: Forts. Am 11. Nov. 1918.] gesandt u. waren bis weit über die Krim hinaus vorgerückt. Dann war es zum Frieden von Brest-Litowsk gekommen, wodurch die Feindseligkeiten gegen die russische Sowietrepublik (Arbeiter- u. Soldatenrat: Lenin u. Trotzky) ein Ende erreichten. Die Ukraine schloss ein wirtschaftlich wichtiges Abkommen mit den Zentralmächten, indem sie deren Verproviantierung erleichtern sollte. Auch Rumänien wurde der Frieden von Bukarest aufgezwungen. So standen die Deutschen trotz scheusslicher u. drohender Fortsetzung der Revolution in Russland (Terror in Petersburg u. Moskau, fürchterliche Hungersnot, Cholera) im Osten gesichert da, u. hatten sich militärisch u. wirtschaftlich erleichtert. Aber doch hat jener Abschluss des Krieges im Osten u. die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Russland unendlich mehr geschadet als genützt. Die Revolution, der Bolschewismus, hatte nun freien Zutritt in Deutschland u. Österreich, indem die Sowjetgesandtschaften ihr Exterritorialitätsrecht so schändlich missbrauchten, dass sie in den Gesandtschaftshäusern ganze Magazine revolutionärer Propagandaschriften aufhäuften u. diese dann auf verborgenem Weg den deutschen u. österr. Arbeitern in  die Hände spielten. Jedenfalls ist in dieser Beziehung kolossal gearbeitet worden seit letztem Jahr; nur so lässt sich ds heutige Verhalten erklären. Auch in der Schweiz haben wir eine solche Sowietbotschaft erhalten, u. in unserem Lande hatte es die Agitation naturgemäss noch leichter als bei den Kriegführenden mit ihrer Zensur u. ihrem teilweisen Belagerungszustand. –

So viel glaubte man aber allgemein, dass Deutschland jetzt im Osten frei, seine überzähligen Truppen an den Westen transportieren u. dort die Entscheidung suchen werde. In Italien erfolgte der Sturm im Okt. 1917. Mit deutschen Truppen an den entscheidenden Stellen griff das österreichische Heer auf riesiger Front an, brach am Isonzo durch u. brachte das italienische Heer zu einem grauenhaften Rückzug, vielmehr zu einer Flucht. (Katastrophe am Tagliamento, wo 60000 Mann sich ergaben). Erst hinter dem Piave kam der Angriff an französ.-englischen Hilfstruppen zum Stehen. Italien erholte sich bald wieder. Im Frühling 1918 kam es dann eben dort zum Generalangriff, wo einzig die Hauptentscheidung fallen konnte, in Frankreich. In mehreren furchtbaren Offensivstossen [sic] stiessen die Deutschen in Frankreich vor. Zu äusserst westlich erreichten sie beinahe die Ränder von Amiens u. im Süden der Angriffsfront erreichte man die Marne, zum zweitenmal der Schicksalsfluss. Foch’s Reserven (Foch war durch die Not zum Generalissimus der Entente geworden) waren aber nicht erschöpft, ungeheure Massen kamen aus Amerika; der U-Bootkrieg versagte den Transporten gegenüber, jeden Monat kamen seit Mai 1918 durchschnittlich 300000 Mann. Mit diesen u. seinen letzten Kräften an Franzosen u. Engländern setzte Foch zum Gegenangriff an. (Mitte Juli.) Und das ist die Peripetie des grossen Dramas. Von da an kam Schlag auf Schlag das Unglück über Deutschland. Zu schwacb gegen die Übermacht, Mangel leidend an Material wie an Nahrung, schliesslich verlassen u. verraten von allen Bundesgenossen, schliesslich verlassen u. vor allem, durchseucht vom Bolschewismus, d.h[.] gelähmt an seiner inner Kraft, ist es jetzt zusammengebrochen, militärisch viel weniger als politisch.

Die Ereignisse folgten sich etwa so: Durch die vielerorts erfolgten übermächtigen Tankoffensiven der Alliierten (der Unzahl der Tanks vermochte die deutsche Artillerie nicht mehr beizukommen; selbst hatten sie von dieser Waffe fast nichts.) wurden die Deutschen zur Aufgabe aller in diesem Frühling eroberten Gebiete gezwungen. Dann kam der Rückzug zum Stillstand. Vor diesem deutschen Rückzug ist es noch bei den Österreichern zu einer unglücklichen Offensive gekommen. Ein Vorstoss über den Piave drang nicht durch, der ausserordentlich anschwellende Strom unterbrach die Verbindungen u. so kam die Notwendigkeit eines mühsamen, deprimierenden Rückzuges über den Piave.

Im Herbst nahm das Unglück ein rasendes Tempo an. Bulgarien verriet die Bundesgenossen u. liess nach einer militärischen Kommödie [sic] die Entente einmarschieren. Die Verbindung mit dem Orient war verloren. Die Entente beherrschte Bulgarien u. drang durch ganz Serbien vor. Gleichzeitig erlitten die Türken in Palästina geradezu vernichtende Niederlagen u. schlossen ganz nach den Bulgaren einen Waffenstillstand, der eine Kapitulation war Als letzter Verbündeter Deutschland[s] kam Österreich mit dem unerhörtesten Verrat. Das alte habsurg. Reich fiel auseinander. In 1 Woche erklärten die einzelnen Staaten der zusammengewürfelten Monarchie ihre Selbständigkeit. Einem italienischen Angriff leistete das Heer noch kurzen Widerstand, während hinten im Land der reinste revolutionäre Hexensabbat los war Dann löste sich die Armee einfach auf, schloss einen schleunigen Waffenstillstand, u. Kaiser Karl zögerte nicht, Sonderfriedensverhandlungen zu unterbreiten. Aber auch so rettete er seinen Tron [sic] nicht mehr. Österreich hat kapituliert wie kaum vorher ein Staat. In seinem Innern wütet die Revolution, u. die Entente hat das Recht, das Land zu besetzen. Vor einer guten Woche ist es aber zum Schlimmsten gekommen. Auch Deutschland hat die Revolution. Alles ist in Bewegung. Ludendorff ist schon länger zurückgetreten. In der Flotte haben kolossale, blutige Meutereien stattgefunden, Arbeiter- u. Soldatenräte traten überall zusammen; Bayern wurde über Nacht Republik, am 9. Nov., also vorgestern hat der deutsche Kaiser Wilhelm II abgedankt u. der Kronprinz verzichtet u. heute am 11. Nov. ist der Waffenstillstand mit der Entente abgeschlossen worden, der Deutschland jedenfalls wieder zum Sklaven macht, und eine furchtbare Katastrophe für lange sein wird. Möge nur um alles der Bolschewismus nicht lange triumphieren, sonst stirbt das, was man bisher echt deutsch nannte. Der deutsche Staat ist ja bereits gestorben, ohne einem verjüngten Wesen Platz zu Machen.

Jetzt komme ich auf unsere Verhältnisse zu sprechen. Sie sind bitter ernst, verzweifelt ernst. Letzte Woche hatten die Bolschewiki, deren wir ja so viele haben, den Jahrestag der russ. Revolution feiern wollen; dabei war ein gewaltsamer “Putsch” geplant. Da hat nun der zürcherische Regierungsrat offenbar sehr Angst bekommen und endlich einmal dringend Truppen in Bern verlangt. Und glücklicherweise hat man auch dort den Ernst der Sache erfasst und gleich energisch vorgesorgt. Innert 2 Tagen wurden 4 Inf. Regimenter und sämtliche 4 Kav.brigaden aufgeboten; die Kavallerie, hauptsächlich Bauern, war eine bestimmt zuverlässige Truppe, und an Infanterie hatte man auch gute Leute ausgewählt, vor allem Thurgauer u. Luzerner Truppen. Am 8. Nov. war bereits ein Regiment Inf. und eine Kav.brigade in und um Zürich bereit. –

Offenbar fand Ernst Kind vor der Jahreswende nicht Zeit, über den Fortgang und Ausgang des Landesstreiks zu schreiben. Erst am 13. Januar 1919 notierte er wieder in sein Tagebuch:

Fortsetzung am 13. Januar 1919.

Am 9. Nov. verreiste Papa per Auto an die Grenze, als stellvertretender Kommandant der 5. Division. Für den selben Tag war in der ganzen Schweiz ein 1-tägiger “Proteststreik[“] verkündet worden, Protest gegen das “herausfordernde” Truppenaufgebot. Soviel man nachher erfuhr, ist dieser Proteststreik nur in Zürich einigermassen zur Ausführung gekommen; er war eben nicht vorbereitet; auch gaben die zahlreichen Truppen jedenfalls vielen Arbeitswilligen den Mut, an ihrer Arbeit zu bleiben. Vormittags fuhren sogar die Strassenbahnen, allerdings nur die Leute vom Personal, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten, falls man ihnen Schutz zusichere. Deshalb standen vorn u. hinten auf der Plattform je 3 Mann Feldgraue mit aufgepflanztem Bajonett. Nachmittags musste der Tramverkehr trotzdem eingestellt werden.

Immerhin, schlimm war dieser Tagesstreik noch nicht; die Geschäfte und Läden waren zum grössten Teil offen; Gaswerk, Elektrizitätswerk u. Wasserwerk arbeiteten ruhig weiter, trotzdem man am Freitag abend schon das Gegenteil befürchtet hatte, und infolgedessen noch Badewanne, Eimer u. Krüge mit frischem Wasser gefüllt hatte! (Ich verwechsle das; erst am Montag, 11. Nov. morgens tat man das, als infolge Weiterdauerns des Streiks darob Befürchtungen entstanden.) Der Sonntag verging sehr unruhig, riesenhafte Demonstrationen infolge der bolschewistischen Agitation fanden im Stadtinnern statt. Das Militär sperrte wichtige Plätze ab. Beim Räumen des Fraumünster- und Paradeplatzes waren die Truppen gezwiugen, zur Warnung scharfe Salven über die Köpfe der Radaumacher hin abzugeben. Das Strassenbild war kaum zu vergleichen mit normalen Zeiten: Keine Strassenbahn, dafür häufig Militärlastautomobile mit schussbereiten Soldaten besetzt, sogar z.T. mit Maschinengewehren ausgerüstet. Auf alle Fälle spürte man, die Sache war noch nicht zu Ende mit dem Samstagsstreik.

In der Sonntagnacht beschloss wirklich das Oltener Aktionskomité [sic] eine Fortsetzung und Ausdehnung des Streikes im ganzen Land (das Oltener Komité ist so eine Art Sowiet, der gern die Nebenregierung neben dem Bundesrat spielt u. darauf ausgeht, schliesslich ganz ans Ruder zu kommen.) Also ging der gefährliche Unsinn am Montag weiter, auf unbestimmte Zeit; man wollte es auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wer es länger aushalte, die Bolschewiki oder der schweizerische Bürger. Hier sind am Montag wieder gewaltige Demonstrationen veranstaltet worden. Jetzt stockte aller Verkehr, auch alle Bahnen und der Briefpostverkehr. Bei Zusammenstössen mit Demonstranten ist ein Soldat erschossen worden; abends veranstaltete unsere national gesinnte Studentenschaft eine Zusammenkunft, um zu beraten, wie man helfen könnte, um die gestörten Betriebe wieder in Gang zu setzen. Vor allem sollte dem empörenden Schauspiel abgeholfen werden, dass an allen Ecken das ketzerische «Volksrecht» , unser Bolschewikiblatt, feilgeboten wird, während keine einzige bürgerliche Zeitung erscheinen kann. Die Versammlung war voll guten Willens zum patriotischen Helfen, wenn es auch infolge der Erregung dabei sehr laut herging. Ich habe mir dort den Keim zur zweiten Grippe geholt und habe das leidige Übel schon in er Nacht gehabt. Abends erfuhr ich noch neue Truppenaufgebote, beinahe 2 ganze Divisionen. Im Ganzen werden wir wegen dieser innern Unruhen etwa 60000 Mann aufgeboten haben. – Wie gesagt was nach dem Montag während des Streiks passiert ist, kenne ich nur aus der Zeitung u. vom Hören. Ich lag mit Grippe im Bett. Doch freute mich schon am Dienstag die Mitteilung, dass unter Mithilfe unserer Studenten ein bürgerliches Blatt herauskam, die nationale «bürgerliche Presse Zürichs». Vom Mittwoch an vertrugen meine Kommilitonen auch die Brief- u. Packetpost [sic]! Und in der Mittwochnacht sahen die Oltener Leute endlich ein, dass ein russisches Programm in der Schweiz noch nicht durchführbar ist, und sie gaben den Kampf auf; d.h. sie unterwarfen sich. Der endlich in der Not befolgte Zusammenschluss der Bürger hat ein drohendes Unheil abgewendet. Die Soldaten blieben aller Agitation gegenüber taub. Hingegen ist es oft vorgekommen, dass sie einen der ärgsten Schreier gehörig verklopft haben, wie es solchem unerzogenen frechen Jungburschengesindel gegenüber am besten ist.

Allmählich ist dann alles wieder zur Ruhe u. wieder in Gang gekommen. Seither steht ständig ein Regiment in und um Zürich bereit, neuen Putschen gleich entgegen zu treten. Doch bin ich überzeugt, dann ginge es schlimmer zu, blutiger. Unsere Truppen haben unter der Grippe während des Streiks schwer gelitten; über 800 Tote haben sie in der ganzen Schweiz verloren, einzig, weil der Streik sie zusammengeführt hat. Ein zweites Mal würden sie kaum mehr über die Köpfe schiessen, die Empörung u. der Rachedurst ist zu gross. –

Nachdem endlich die Spartacusbewegung in Berlin nach scheusslichen Strassenkämpfen niedergeworfen worden ist, glaube ich nicht, dass bei uns der Kampf wieder losgeht. Auf eine Wiederholung ist man aber, soviel ich merke, militärisch sehr gut vorbereitet. Ich bin der neugegründeten Stadtwehr beigetreten, die sich organisiert hat, um Eigentum und Arbeit bei neuen bolschewistischen Versuchen zu schützen. Seit 31. Dez. 18 bin ich Leutnant. (Kp. III/70, Zürich, Landschaft.)

Flugblatt Rückseite

Quelle; Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Einträge vom 08.11.2018, 11.11.1918 und 13.01.1919; zusätzliche Absätze zur besseren Lesbarkeit eingefügt) und W 240/1.3-11.4 (Beitragsbilder: Dokumentation von Jakob Jäger, 1874-1959, über den Landesstreik, Flugblatt der Volksstimme zum 13. November 1918, Vorder- und Rückseite)

Visitenkarte Major Riklin

Samstag, 2. November 1918 – Riklin darf endlich nach Hause

Der Psychiater Franz Beda Riklin-Fiechter, aus dessen Korrespondenz bereits einige Beiträge publiziert wurden (letztmals zum 8. Juni 1918) weilte immer noch im Militärdienst. Er war unterdessen Kommandant der ESA (Etappen-Sanitäts-Anstalt) in Solothurn. Anfang Oktober hatte man ihn zum Major befördert, was er im Brief an seine Ehefrau vom 7. Oktober folgendermassen kommentierte: Ich bin jetzt also Major, u. das macht mir sogar etwas Spass. Hier wird es ähnlich wie ein freudiges Familienereignis durchgenommen, u. es gab sofort Leute, die herumfuhren[,] um schleunigst die nötigen Uniformänderungen vornehmen zu lassen. Sonst bin ich ganz verstrickt in Seuchenbekämpfung [gemeint ist die Spanische Grippe] u. Wachsamkeit. Beim Militär ist hier der Höhepunkt wieder überschritten, aber in der Bevölkerung nicht. Wir hatten zwei Todesfälle im Ganzen, auf etwa 100 Erkrankungen, u. einige schwere Fälle, die durchkamen, darunter mehrere Offiziere. Zudem helfen wir der Civilbevölkerung hier u. in der Umgebung aus. […] Die Beförderung zum Major ist mir gleichsam die symbolisch-formale Bestätigung vieler anderer Erfüllungen, die ich auch erwarte, eine Art Rehabilitation und ein Symbol des Richtiggehens.

Auf der Visitenkarte (siehe Beitragsbild) steht: Diese Visitenkarte hat mir mein Bureau geschenkt. Herzlichste Grüsse an Dich u die Kinder v. Deinem treuen Major Franz Riklin Kommandant E.S.A. Wie steht’s mit der d. Weinlese? Schicke bald Wäsche 8.10.18. Solothurn

Im Brief vom 29. Oktober 1918 an seine Frau heisst es:

Liebste Frau!

Am 31. kommt mein Nachfolger, Oberstlt. Riggenbach. Wahrscheinlich komme ich dann schon am Samstag heim. Ich bin sehr froh darüber u. freue mich unendlich. Hoffentlich war es der letzte Dienst u. der letzte Akt u. die letzte kleine Mithilfe auf dem Wege zum Frieden.

Der Epidemieschub [Spanische Grippe] hier geht stark zurück, u. so ist meine Sache getan. Ich freue mich auf anderes, u. weg von der lieblosen Atmosphäre von Solothurn. Also auf ein frohes Wiedersehen.

Dein Franz.

Da die überlieferte Briefkorrespondenz mit dem 29. Oktober endet, ist anzunehmen, dass Riklin tatsächlich am betreffenden Samstag, also am 2. November, nach Hause fahren durfte und sein langer Militärdienst, der mit Kriegsausbruch 1914 begonnen  und oft monatelang gedauert hatte, damit beendet war.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter, Korrespondenz)

Grenzwache 1918

Donnerstag, 31. Oktober 1918 – Grippe im Militär und Gedanken zum Offizierssein

Auszug aus dem Tagebuch von Ernst Kind, später Rektor der Kantonsschule St.Gallen, über seine Offiziersausbildung im Sommer 1918:

31. Oktober 1918: Wenn ich auch in diesen Tagen von persönlich Erlebtem schreibe, wo doch Ereignisse in der Welt passieren, die den Wert des Einzelnen zerdrücken und uns tief ins Gemüt greifen, so kann ich das nur, weil mein Leben diesen Frühling, Sommer u. Herbst unter dem Eindruck dieser Zeit sich so abgespielt hat. Während dieser ganzen Zeit war ich immer Soldat. Am 13. März rückte ich hier in die Unteroffiziersschule ein, nach deren Abschluss wir gleich Gelegenheit hatten, unsere Fähigkeit als Vorgesetzte zu erweisen. Am 4. April begann diese Rekrutenschule, die ich als Korporal mitmachte, und am 8. Juni war sie zu Ende.

Meine Erfahrungen sind die: Als Vorgesetzter war ich etwas zu schwach, zu unentschlossen gegen meine Rekruten. Sie sind zwar im Ganzen rechte Soldaten geworden; aber ich glaube, ich brauche mehr Straffheit. Mit grosser Begeisterung und mit ein wenig ängstlicher Spannung rückte ich dann am 17. Juni (nach 9 Tagen Urlaub) zum Grenzdienst ein (mit ängstlicher Spannung in Erwartung der Mannschaft, die mir jungem Korporal zugeteilt würde, die schon 3 Jahre Grenzdienst erlebt haben u. zum grossen Teil viel älter als ich sein würden.) Die 3 Wochen Wachtdienst am Rhein bei Rheinfelden sind in meinem bisherigen militärischen Leben die uninteressantesten; man sass den ganzen Tag im Wachtlokal u. las, einzig unterbrochen durch die Wachtablösung alle 2 Stunden. Ein sichtbares Resultat hat dieser Grenzbewachungsdienst nicht gebracht, wir haben keine Schmuggler gefangen und hatten keine fremden Flieger.

Als dann die Ablösung kam, freuten wir uns auf einen richtigen Dienstbetrieb, wie wir uns den jetzt folgenden Juradienst vorstellten. Das Programm sah grössere Übungen auch mit kombinierten Waffen voraus. Da ist alles durch die zuerst im Juni aufgetretene Grippe zuschanden gemacht worden. Diese spanische Krankheit hat uns innert einer halben Woche mehr als die Hälfte des Bestandes niedergeworfen. In meinem Zug erkrankten sämtliche Unteroffiziere ausser mir in den ersten Tagen. Ein Zugführer war nicht zur Stelle, da unser Leutnant ebenfalls krank war, unser Zug aber von der Komp. getrennt allein in einem Bauernhof 5 Minuten von der Grenze entfernt lag. (In Steinboden, nahe der Lützel, 1 Stunde nördlich Pleigne.) So sah ich mich auf einmal gleichzeitig als Zugführer, Führer Rechts und als einfacher Korporal, wozu dann noch das Amt der Krankenpflege trat. Von Ausrücken zum Felddienst war damals keine Rede mehr, hatten wir doch nur noch 17 oder 18 Mann im Zug, die aufrecht waren, und die brauchten wir gerade zur Pflege der andern Hälfte, umsomehr, als wir das Essen bei der Komp. 20 Minuten weiter oben, immer für die Kranken holen und heruntertragen mussten. Da war es kein Wunder, dass ich schliesslich auch angesteckt wurde und dann 3 Tage inmitten meiner Soldaten krank im Stroh lag. Dann war das Fieber vorbei und nach weitern 2 Tagen, währenddessen wir noch den nötig gewordenen Umzug zur Komp[.] mit Gesunden, Kranken u. allem Material bewerkstelligten, reiste ich nach Zürich für 7 Tage Erholungsurlaub. Das konnten damals alle Gripperekonvaleszenten tun, u. unsere Komp. hat damals etwa 80 Mann auf diese Art in der ganzen Schweiz zerstreut gehabt. Ich verbrachte diese Zeit in St.Gallen, wohin Mama mit Silvia gereist war. (Doris war in Arosa.)

Dann rückte ich wieder bei der Einheit ein und traf auf überaus traurige Zustände. Die Komp. war zum Bat. nach Pleigne disloziert worden, da Pleigne infolge grossen Abganges leer geworden war. Ich fand die Komp., was an Gesunden noch da war, auf etwa 20 Mann zusammengeschrumpft, alle im gleichen Kantonnement; auch mir blieb kein anderer Ort zum Schlafen übrig. Ich habe die 4 Tage bis zu meiner zweiten Abreise ausgefüllt, in dem [sic] ich das schauderhaft aussehende Magazin der Kp. suchte in Ordnung zu bringen, ein ekliges Geschäft, da über 100 alte Exerzierkleider von Grippekranken herumlagen, deren Besitzer mi Krankenzimmer waren. Ich musste es unter den allgemeinen so niederdrückenden Zuständen, wie sie bei meiner Truppe waren, als wahre Erlösung empfinden, am 28. Juli wieder aus dieser denkwürdigen Grenzbesetzung zurückkehren zu können; die Grippe hatte nicht nur unser ganzes Programm über den Haufen geworfen, sondern die Stimmung überall so bedrückt gemacht, dass es traurig war, dies mitanzusehen.

Etwa 2 Wochen lang waren fortwährend 10-12 Mann der Kp. unterwegs, um beinahe jeden Tag einen andern toten Kameraden aus dem Spital in Delsberg oder andernorts zum Bauernhof zu begleiten, damit er in seiner Heimat begraben werde. Unsere Kp. hat 7 Tote verloren, das Bataillon ungefähr 24. Was aber an bleibenden Nachteilen für die Wiedergenesenen vorhanden ist, das kann man gar nicht ausrechnen; fast jeder hat eine längere Zeit nachher noch mit dem Herz zu tun. –

Ich bin also am 30. Juli in Zürich in die Offiziersschule eingerückt, von der Grippe ordentlich geheilt und darauf gefasst, einen strengen Dienst vor mir zu haben. Er ist streng gewesen, doch scheint es, dass man etwas Rücksicht auf die Grippe genommen hat und sich ängstlich in Acht nahm, sie von dieser Schule fernzuhalten. Bis in die zweitletzte Woche konnten wir so durchhalten, während sämtliche Schulen anderer Divisionen aufgelöst werden mussten. Dann, in Stans, hatten wir plötzlich soviele Fälle, dass eine um 8 Tage zu frühe Entlassung nötig wurde. Immerhin gilt die Schule für beendet[,] und ich bin froh, meine Offiziersausbildung hinter mir zu haben. Ende des Jahres wird jetzt die Ernennung zum Offizier erfolgen; damit ist mein diesjähriger Dienst zu Ende geführt.

Ich habe wenigstens für die viele geopferte Zeit ein gewisses Ziel erreicht. Seit dem 18. Oktober trage ich wieder Zivil u. freue mich meiner Ungebundenheit vor dem Publikum. Mein Standpunkt als Offizier ist nicht ganz der, zu dem man uns erzogen hat.  Ich verachte die Auswüchse des übertriebenen Ehrgefühls, ebenso auch die, welche leider bei jeder gemütlichen Zusammenkunft sich zeigen. Es gehört nun einmal absolut nicht zu einem Offizier, dass er einen Rausch gehabt haben muss. Das Ideal, das da immer zur Entschuldigung vorgebracht wird[,] nämlich die Erziehung zur Selbstbeherrschung durch den Trinkzwang, ist Blödsinn. Denn tatsächlich habe ich keinen unter unseren Offizieren u. Aspiranten gesehen, der sich noch beherrscht hätte, wenn er voll war; sondern alle haben das jämmerliche Bild eines betrunkenen Menschen gegeben, der sich im Offizierskleid solcher Schande aussetzt. Wir besitzen überdies genügend Mittel, um unsere Selbstbeherrschung zu üben u. zu erproben.

Ferner betrachte ich den Krieg nicht als etwas, worüber sich der Offizier freuen soll, denn wenn er sich über den Krieg an sich freut, so freut er sich eben über das Morden, und vielfach ist auch eigentlich das der Grund der Freude. Der rechte Offizier nach meiner Überzeugung freut sich im Kriege rein nur darüber, dass er sein Vaterland schützen darf, u. dass er hier allein Gelegenheit findet, im Ernst seinen Charakter und seine Mannheit zu zeigen. Aber wie darf er das innerste menschliche Gefühl aus der Seele bannen, dass da etwas Furchtbares geschieht, etwas Hirnwütiges, das eigentlich für das Menschengeschlecht eine Schande ist. –

Ich glaube, immerhin, meine Qualifikation in dieser Schule ist richtig: Ich soll etwas mehr aus mir herausgehen, die eigene Schüchternheit überwinden, mehr Selbstvertrauen haben. Das sind meine richtig erkannten Fehler. Ich bin noch zu schwächlich, erkenne eigentlich in mir immer noch sehr viel ganz Kindliches, nicht Männliches. Meine Erscheinung ist auf alle Fälle nicht die eines Offiziers, als mein Blick nicht scharf ist. Was aus meinen Augen spricht, ist nicht Entschlossenheit, sondern eher Schwachheit, – wenn ich mich zusammennehme, so sieht es wieder wie Bitterkeit u. Ärger aus. Ich sehe soviel mir auffällt, nicht jünger als meine Kameraden aus; aber der Mann schaut mir noch nicht aus den Augen. –

Was mich eigentlich jetzt unendlich mehr bewegt, die ungeheuren Ereignisse ringsum, davon zu schreiben brauche ich mehr Zeit. Die Lage ist zudem so unsicher, dass in einer Woche alles noch ganz anders aussehen kann. Unendlich traurig ist, was sich gegenwärtig ereignet. Die Lüge feiert gerade jetzt ihre grössten Triumphe, denn der sehnsüchtige Glaube an einen Rechtsfrieden ist zerschlagen, vorerst hat der Krieg entschieden und bleibt ungestraft. Die Anarchie wälzt sich von Russland her immer näher u. hat bereits ganz Österreich in ein wüstes Chaos zerrissen, und bei uns klopft sie nicht mehr bloss an die Tür, sondern steht bereits zur Hälfte im Land. Doch davon will ich bei besserer Gelegenheit schreiben.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Eintrag vom 31.10.2018) und W 132/2-334 (Beitragsbild zur Grenzbesetzung: Unteroffiziersposten der Geb. Sch. Kp. III/8. Kp. am Grenzacher Hörnli, Februar/März 1918)

Dienstag, 20. August 1918 – Gewissensbisse eines Deserteurs

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

20. August 1918 Nun ist er gekommen, der Freudentag, der uns endlich einmal unsern Louis brachte für einige Wochen Urlaub in die Schweiz. Aber allzu rasch kam der Tag, da er wieder einrücken sollte. Wo er hinkommt, da heissts: „Sie werden doch nicht so dumm sein & wieder gehn.“ Selbst seine Kameraden im Felde haben gesagt: „Wenn Du wieder kommst, dann sollte man Dich prügeln.“ – Louis kämpfte böse Stunden durch zwischen Pflicht & Vernunft & schliesslich siegte das Letztere, indem er sich entschloss zu bleiben & alles Unangenehme eines Deserteurs auf sich zu nehmen ! – Er meint, seinem Vaterlande später mehr nützen zu können, als wenn er wieder gehe & sich ev. schon von der ersten Kugel verstümmeln oder töten lasse.

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918 und 1. Juli 1918

Quelle: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser)

Briefkopf des Hotels in Lyon

Samstag, 8. Juni 1918: Der Dienst will nicht enden

Der Militärdienst wollte kein Ende nehmen, Franz Beda Riklin konnte auch Anfang Juni noch nicht zu seiner Familie heimkehren (vgl. Beiträge zum 7. und zum 13. Mai 1918). Nach wie vor weilte er als Mitglied der Commission Franco-Suisse Pour l’Internement des Prisonniers de Guerre in Lyon. In mehreren kurzen Briefen hatte er seiner Frau berichtet, wie langweilig der Dienst und wie uninspirativ seine Kameraden seien. Ein überraschender Kurzbesuch seiner Frau eine gute Woche zuvor war eine mehr als willkommene Abwechslung gewesen.

Lyon, 8. Juni 1918.

Liebster Schatz! Ich weiss nicht, ob dieser Brief das Glück hat, Dich gleich zu erreichen. Mein Termin ist abgelaufen, aber der Nachfolger noch nicht da u. im übrigen die Grenze gesperrt. Gut, dass Du nicht dageblieben bist; ein Gefühl von möglichen Überraschungen hielt mich zurück, etwas Ausserordentliches zu unternehmen. Man hätte jetzt die allerärgsten Schwierigkeiten für Deine Rückkehr. Drei Collegen sind blo[c]kiert. Wir hoffen heute mit den offiziellen Nachrichten nach Bern das Nötige zu erreichen, dass auf diplomatischem Wege die Überschreitung der Grenze möglich gemacht wird. Also etwas Geduld. Es wird nicht lange gehen. Der letzte Zug kam von der Grenze mit französischem Personal. Heute Nacht kommt wieder einer, und wir hoffen, dass wahrscheinlich Oberst Bohny persönlich mit nach Lyon kommen kann, und dass wir ihm mündlich unsere dringenden Anliegen mitteilen können.

Ich habe reichlich genug von hier. Es beginnt ganz entsetzlich öde zu werden, u. fein war es nie.

Dein Besuch war der glänzende Punkt in der ganzen Unternehmung, u. ich habe eine unendliche Sehnsucht, Dich wiederzusehen, Dich zu lieben u. mit Dir zu leben. Ich bin hier meist müde u. schlafe unendlich viel.

Heute habe ich hier im Museum, trotz Hitze u. muffiger Luft, mit einigem Vergnügen eine Anzahl sehr schöner[,] moderner Franzosen zu sehen bekommen.

Addio, cara mia. Ich freue mich unendlich auf Dich und die Rosen. Grüsse die Kindlein herzlich. Grüsse auch Mutter, u. wer nach mir fragt. Ich sehne mich so sehr nach frischer Luft u. Grün, nach der heissen Stadt.

Wir waren kürzlich in Vienne. Heisse, schmutzige Stadt, mit einigen schönen römischen Bauten. Ich küsse u. umarme Dich herzlich u. danke für Deine letzten guten Nachrichten.

Es könnte nichts schaden, wenn Du beim Internierungsbureau, Schänzlistr. ca. 50, Bern, einmal telephonisch vorstellig würdest, u. sagen, dass man mich zuhause dringend benötigt.

Dein treuer

Franz.

Oberst Karl Bohny (1856-1928) war Chefarzt des Roten Kreuzes. Zusammen mit seiner Frau, Marie Bohny-Pertsch, leitete er die Organisation von Transportzügen für die Repatriierung von Gefangenen und Verletzten der verschiedenen Kriegsparteien, vgl. https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/die-repatriierung-verletzter-auslaendischer-soldaten.html

Riklin steckte in Lyon fest. Eigentlich hätte sein Einsatz nach sechs Wochen beendet sein sollen, und er wartete schon lange sehnlichst auf Ablösung. In einem wegen der Zensur französisch verfassten Brief vom 13. Juni 1918 berichtete er seiner Frau, dass sein Nachfolger, der am 10. Juni hätte eintreffen sollen, wegen der geschlossenen Grenzen nicht nach Frankreich einreisen könne. Ausserdem beklagte er sich über seinen Chef, Lt.Col. Breiter. Ihm mangle es an Initiative und Fähigkeit im Umgang mit einer solch speziellen Situation. Les chemins administratifs sont malheureusement un peu longues. Autrement je suis en bonne santé, mais très peu enchanté de la situation. Je ne retournerai jamais à Lyon sous pareilles circonstances. In einer zweiten, kurzen Notiz vom gleichen Tag heisst es, er habe endlich die Erlaubnis erhalten, in ein oder zwei Tagen die Grenze zu überschreiten. Dies scheint aber doch nicht geklappt zu haben, ist doch ein weiterer Brief vom 18. Juni 1918 erhalten: Me voilà encore à Lyon. J’attends le permis pour rentrer – depuis une semaine. J’espère que cette Autorisation arrivera enfin, à peu près demain ou après demain. Inutile de de raconter mes réflexions et les détails des démarches faites à ce sujet. Tu l’entendras après mon retour. Demande encore une fois à Berne. Nous [statt: Nos] moyens de communications [sic] sont très restraints. Je n’ai pas de tes nouvelles depuis 8 à 10 jours.

Offenbar hatte er die Erlaubnis schliesslich doch noch erhalten. Der nächste Brief der erhaltenen Ehekorrespondenz ist einen guten Monat später datiert mit: Küsnacht, 15.7.18. Dieses Schreiben «reiste» ins Toggenburg, wo seine Familie Sommerferien verbrachte. Riklin selber versuchte, wieder ein ziviles Leben zu führen, Patienten zu behandeln und zu Hause zum Rechten zu sehen. Für die psychiatrischen Dienste in Solothurn, deren Betrieb in diesen Tagen durch die Spanische Grippe stark eingeschränkt war, erstellte er wöchentlich Gutachten zu Patienten.  Daneben beanspruchte die Gemeinde Küsnacht, wie einem weiteren Brief vom 20. Juli 1918 zu entnehmen ist, seine Dienste bei der Lebensmittelinspektion und bei der damals so genannten Kostkinderkontrolle (Kontrolle von Kindern, die in Privatfamilien fremdplatziert waren).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin, Korrespondenz)

Lyon um 1918

Montag, 13. Mai 1918: Nachrichten aus Lyon mit Vorboten der Grippe

Der Psychiater Franz Beda Riklin weilte immer noch in Lyon (vgl. Beitrag zum 7. Mai 1918). Alle zwei bis drei Tage verschickte er einen Brief an seine Ehefrau, zwischendurch auch Ansichtskarten mit teils sehr knappem Inhalt. So hiess es auf einer Karte vom 8. Mai 1918: Bloqué. Vais bien. Mille salut. Franz. Einen Tag später war er guter Hoffnung, bald zurückkehren zu können, weil ein Nachfolger am kommenden Tag eintreffen sollte. Von einem konkreten Rückkehrdatum war in der folgenden Korrespondenz jedoch keine Rede mehr:

Lyon, 10.5.18.

Liebste Frau!

Morgen früh 8 Uhr soll endlich ein Austauschzug ankommen, u. nachmittags auf dem Rückweg in die Schweiz soll dieser Brief mitgehen. Am liebsten käme ich selber mit; denn die Herrlichkeiten u. Emotionen hier sind nicht übertrieben. Eine etwas meridionale Stadt, ohne die Schönheiten von Florenz. Immerhin schöne Parke [sic] u. Plätze. Bisher hatten wir nur zwei Sitzungstage. Seither müssen wir wegen des mangelnden disponiblen Unterkunftraums warten, bis wieder einige hundert Mann abgefahren sind.

Gestern war ich krank, hatte Fieber, Kopf- & Gliederschmerzen, etwas Bronchialkatarrh, u. dazu eine recht öde, gottverlassene Stimmung. Heute ists [sic] schon viel besser; ich habe gestern u. heute möglichst viel im Bett gelegen u. es mir sonst bequem gemacht. Also schon wieder ziemlich gesund. Natürlich konnte ich da in der freien Zeit nichts leisten.

Im Theater hörten wir statt des angesagten Cyrano den Aiglon, immerhin sehr gut gespielt. Die Kameraden sind sehr ordlechi [sich, Schweizerdeutsch für «sehr ordentliche»]; aber gar nicht interessant.*) [Einschub am Rand: *)u. man muss mit ihnen in einem schweizerdeutschfranzösisch conversi[e]ren, dass es einem im Ohr weh tut.] Zu essen bekomme ich viel, mit reichlich Olivenöl.

Wenn man erschöpft ist, so kommt gleich die Traurigkeit u. man meint, überhaupt nichts mehr zu sein u. tun zu können. Aber die Influenza war viel Schuld daran. Wenn’s nur Euch gut geht, lieber Schatz. Und Du mich lieb hast. Das Leben der Kleinigkeiten sieht man hier so drückend-überwältigend, besonders durch die Complication des Kriegs.

Sonntag fahren wir nach St-Pierre …?, 50 km. nach Süden, zu einem schweizer. Fabrikbesitzer, einem Herrn Hegetschwiler. Hoffentlich ist’s schön. Und nach Avignon möchte ich unbedingt für 2 Tage, zur Compensation.

Das Hotel ist recht, natürlich lärmt es sehr auf der Strasse, aber man gewöhnt sich.

Vielleicht kann Dir Dr. [?] Häberlin noch Auskunft geben, wie man rationell Briefe spedi[e]rt. Ich freu  mich sehr auf Nachrichten. Das Buch von Barbusse «Le feu» ist sehr gut geschrieben; Schützengrabenleben; sehr wahr, reich in der Beobachtung, viel reicher als «Lettres d’un soldat». Aber man hat doch bald genug Kriegsliteratur.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, u. hab Dich lieb. Grüsse u. küsse die Kindlein.

Dein treuer

Franz.

Nach über einer Woche Aufenthalt in Lyon erhielt er erstmals Post von seiner Frau:

Lyon, 13. Mai 1918.

Allerliebste Frau!

Soeben habe ich Deinen ersten lb. Brief erhalten u. bin sehr froh darüber, zu sehen, dass man sich wenigstens berichten kann, u. froh etwas von Dir zu haben. Hier ist ja alles recht u. gut, aber eigentlich langweilig; es erinnert zu sehr an frühere Dienste; interessant ist nicht viel an der ganzen Sache, u. im Herumreisen ist man sehr gehemmt, obwohl (ich möchte fast leider sagen) Zeit genug da wäre.

Vorgestern habe ich mir die Ankunft eines Zuges mit rapatriirten [sic] Internierten angesehen; grosse Zeremonie mit Anwesenheit des kommandi[e]renden Generals von Lyon, Kavallerie, viel Clairons, grosse Rede u.s.f. Die Heimkehrenden u. wa  man von ein paar anwesenden Angehörigen sehen konnte, waren sehr emotioniert [sic]. Ich habe den Kameraden einen Brief für Dich mitgegeben.

Hier sind viele italienische Soldaten. Es sind die, welche uns durchschnittlich am höflichsten grüssen. Ob es ist[,] weil sie unsere Uniform kennen oder weil sie sie sie gerade nicht  kennen? Item. Es sind die freundlichsten.

Heute Nacht kommt ein Austauschzug an u. kehrt mit gewechselter Fracht wieder zurück. Den Brief für Dich gebe ich aber einem Kameraden mit, der sich auf der Durch- & Heimreise befindet.

Der ganze ärztliche Modus der Gefangenenauswahl wird jetzt überholt durch die viel bedeutenderen u. weitern Berner Abmachungen, auf Grund derer gewaltige Zahlen nichtkranker Gefangener ausgewechselt werden kann.

Lieber Schatz, es ist mir nicht sehr wohl hier, eben weill ich weiss, wie Du Dich inzwischen abhundest, u. weil anderes Wichtiges zu tun wäre. Ich gebe heute auch einen Brief an Claparède mit.

Meine «Krankheit» ist vorüber; als Rest bleibt nur noch ein Rifenbart [?] von ziemlicher Ausdehnung. Ein bis zwei Tage war es misslich, besonders die Stimmung. Übrigens hats die andern teilweise auch gepackt; es muss eine Grippeinfection im Hôtel genistet haben.

Einer der Collegen ist ein Dr. Barry, ursprüngl. u. in s. Wesen ein Landschaftler [sic, eigentlich «Landschäftler», d.h. aus  dem Kanton Baselland], war lange Jahre in Vitznau, jetzt zeitweilig Hotelarzt in St.Moritz. Dein Vater war Hausarzt der Familie u. hat ihn auch behandelt.

Sturzenegger ist viel eintöniger als ich mir gedacht habe. Überhaupt ist nicht viel los mit den Herrschaften. Brunner ist noch der beweglichste.

Ja, geh doch ein paar Tage ausruhen irgendwo. Diese Putzerei beängstigt mich wirklich, dazu die ungelöste Hausfrage, u. die Beobachtung, dass Dir der Auszug auch schwer fällt. Aber wir wollen mutig sein. Und ich sage Dir, wir leben doch ein interessanteres Leben als viele, u. reicher. Ich will alles herausschlagen, was ich aus mir herausholen kann, u. wir wollen durchkommen, so oder so.

Barbusse «Le feu» ist eigentlich doch furchtbar; d.h. der Krieg ist furchtbar, grauenhaft in seinem eintönigen Dreck u. Zerstörung. Und ich habe für lange genug von der Kriegsliteratur.

Bald geht der Zug ab, und ich muss schliessen. Es ist nicht weit nach Hause, u. doch gehen sehnsüchtige Wünsche mit diesem Brieflein. Ich hoffe, es gehe alles gut, u. Du tragest etwas Sorge für Dich.

Schreibe mir ein paar Warenpreise auf für Wolle, Seife u. ähnl., damit ich weiss, ob ich Dir hier kaufen soll. (10 [Zeichen für: Pfund] Marseillerseife kosten hier z.B. ca 14 Schweizerfranken, 1 kg Wolle ca 8 Schweizerfranken).

Tausend herzlichste Küsse u. viele Grüsse an die lieben Kindlein.

Ich komme sobald als möglich, u. jedenfalls allerspätestens nach dem Ablauf von 6 Wochen; es ist nun schon mehr als eine vorüber.

Auf Wiedersehen.

Dein treuer

Franz.

Wieder zwei Tage später schrieb Franz Beda Riklin, die ersten paar Zeilen in schwarzer, danach in blauer Tinte:

Lyon 15.5.18.

Allerliebste Frau!

Es geht wieder ein College in die Schweiz zurück, u. ich gebe ihm ein Brieflein für Dich mit. Von Dir habe ich bisher zwei Briefe bekommen, den ersten direkt, nach 4-5 Tagen, den zweiten mit dem Austauschzug am 2. Tage nach Deinem Datum. Ich bin wirklich etwas in Sorge wegen Deiner Gesundheit u. möchte Dich sehr bitten, Dich lieber zu schonen. Ich habe 5 kg Marseillerseife gekauft, zu frs 18.75 cts französ. Geld, macht etwa 14 frs Schweizergeld. Soll ich Wolle kaufen, das [Zeichen für Pfund] (od kg?) zwischen 7 u. 11 frs französ Geld (5 bis 8 frs Schweizergeld)?

Das Leben hier ist wirklich nicht sehr interessant. Eine grosse Krämerstadt. Und die Collegen hier bieten furchtbar wenig. Mon dieu! Einer der letzthin zurückkam, ein Welscher, war wenigstens auf dem Himalaja, kurz vor dem Herzog der Abruzzen, u. wusste mir sehr viel Interessantes davon zu berichten.

Die Arbeit ist natürlich monoton. Mit den französ. Kameraden ist auch nicht sehr viel anzufangen. Entweder sind es Militairs, die in ihren Bureaus sehr viel Arbeit erledigen müssen, od. vielbeschäftigte Professoren der Fakultät von hier. Die haben alle zu tun u. sind in ihrem Tramp u. haben keine Zeit. Sonst sind sie alle sehr recht und nett.

Man fühlt doch überall sehr die Mühseligkeiten u. Einschränkungen des Kriegs; alle sind Bestandteile der Maschine, u. wir auch. Man speist vor allem das.

Lyon hat einige interessante Bauten, einige römische Reste, einen schönen Park, u. zwei Flüsse; sonst alles[,] alles Kramläden, Fabriken. Die Läden erinnern an Italien. Es ist alles teuer. Unsere Verpflegung täglich kommt, abgesehen vom Zimmer, auf etwa 20 frs. pro Kopf, ohne etwas ganz Ausserordentliches zu bieten, da auch Einschränkungen sind.

So freue ich mich vor allem auf die Rückkehr. Vielleicht kann ich noch, mit spez. Erlaubnissen, noch etwas von der Landschaft sehen.

Im Strassenbild ist sehr viel Militair [sic] aller Art, darunter ein starkes Kontingent Italiener, dann viel Krüppel und Spitäler, indem Lyon ein besonderes Spitalzentrum ist. Es geht alles etwas bescheidener zu als in England.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, auch für die Kindlein.

Von Deinem treuen

Franz.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter; Beitragsbild: Ansichtskarte, verschickt am 16.06.1918)

Adresse

Dienstag, 7. Mai 1918: Man isst gut, ohne Zucker.

Der Psychiater Franz Beda Riklin (vgl. diverse Beiträge zu ihm im Jahr 1917) war nach wie vor im Dienst und erneut im Ausland. Nachdem er im Herbst 1917 mit einer Schweizer Ärztemission nach England geschickt worden war, weilte er im Frühling 1918 als Mitglied der Commission Franco-Suisse pour l’internement des prisonniers de Guerre in Lyon und half bei der Organisation zum Austausch von Kriegsgefangenen mit. Diese Transporte wurden per Eisenbahn über die Schweiz abgewickelt, was ihm Gelegenheit gab, jeweils einen Brief oder eine Karte an seine Frau mitzuschicken.

Riklin war auf der Suche nach einer Neuordnung seiner Lebenssituation, die ihm mehr Zeit für seine künstlerischen Ambitionen als Maler liesse. In seiner Korrespondenz an seine Frau taucht deshalb immer wieder die Wohnungsfrage auf.

Am 6. Mai 1918 schrieb er:

Lyon, 6. Mai 1918

Hotel Royal, Place Bellecour

Allerliebste Frau!

Ich benutze die Gelegenheit, dem Kommandanten des Austauschzuges, der heute nacht 10h mit Verwundeten von Konstanz kommt u. nachts zwei Uhr wieder mit deutscher Fracht in die Schweiz zurückfährt, um Dir Nachrichten von mir zu geben. Wir sind gut gereist u. gut aufgehoben; der Dienst ist nicht zu streng, sodass reichlich zu anderm, u. vielleicht auch zu nützlicher Arbeit Gelegenheit ist. Es regnet in Strömen. Von Schweizerärzten sind anwesend: Oberst Sturzenegger v. Zch [Zürich], Major Brunner v. Küsnacht, ein Oberlt [Oberleutnant] Berry (?) [sic] von Basel u. ich. Die Franzosen sind sehr nett. Man isst gut, ohne Zucker. Brotkarte im Hotel keine. Fettsaucen reichlich. (Die Fettkarte musste ich auch abgeben).

Claparède, in Genf, war leider abwesend, sei gespannt auf meine Rückkehr. Genf wäre entschieden zu machen. Ich sah eine Wohnung v. 6 teils grossen Zimmern, komfortabel, am Quai; für 1600 frs [sic]! Etwas auf dem Lande kann man noch billiger wohnen, mit Trams überall. Steuern niedriger als Zürich. Bitte hetze dich in der Zwischenzeit ja nicht zuviel ab; es wird sich alles machen.

Es wird etwas schwieriger sein, von Dir Nachricht zu bekommen als von mir z.Z. Vielleicht kannst Du beim militär. Bahnhofkommando Zürich erfahren, wann Austauschzüge fahren u. die Briefe zum Mitgeben deponi[e]ren.

Adr. Commission franco.suisse de rapatriement, Cpt Riklin, Hôtel Royal, Lyon, Place Bellecour.

Sonst probi[e]re direkt zu schreiben.

Man bekommt hier Rauchwerk und Streichhölzer nicht. Das wird Dich freuen! Sonst scheint Lyon eine comfortable [sic], ruhige Stadt zu sein.

Ich schliesse, da ich zu einer Untersuchungssitzung muss, mit herzlichsten Grüssen an Dich und die Kinder.

Dein treuer

Franz.

Einen Tag später fand er erneut Gelegenheit, ein Briefchen abzusenden. Dieses erreichte Küsnacht, den Wohnort der Riklins, zwei Tage später, wie dem Poststempel zu entnehmen ist:

Lyon, 7.5.18.

Allerliebster Schatz!

Der bewusste Sanitätszug ist heute noch nicht erschienen; wir geben die Briefschaften einem heimreisenden Collegen mit. Da Oberstlt [Oberstleutnant] Breiter in Andelfingen nächstdem [sic] nachkommt, schicke auf alle Fälle Nachrichten durch ihn, Du kannst ihm einfach verschlossene Briefe zuschicken mit der Bitte[,] sie mitzunehmen. Du kannst ihm auch telephoni[e]ren.

Ich hatte heute frei, gestern etwas Arbeit; ich habe heute die Stadt u. Umgebung besehen. Wenn ich nur die Preise wüsste f. Wolle, Leinen etc, so würde ich hier vom billigern kaufen. Vielleicht lasse ich ein gutes Civilkleid machen, für 175 frs [sic]! französisch = ca 130 frs. schweizer [sic] Geld; ich will zuerst sehen, was die andern bekommen. Tabak u. Zündhölzer gibt es hier nicht!

[Randnotiz und Schluss:] Ich lese Barbusse «Le feu». Gut! U. sonst habe ich etwas Heimweh. Herzlichste Grüsse v. D. tr. Franz.

«Le Feu» (Das Feuer)  war ein autobiographisch geprägter Roman des französischen Politikers und Schriftstellers Henri Barbusse (1873-1935). Er verarbeitete darin eigene Erfahrungen als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg. Das Werk wurde bereits im Erscheinungsjahr 1916 mit dem Prix Goncourt, einem renommierten Literaturpreis, ausgezeichnet und später in 60 Sprachen übersetzt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Feuer_(Barbusse) ).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W (Korrespondenz Franz Beda Riklin, Brief und Karte vom 06.05.1917 und vom 07.05.1917)

Soldaten mit Gasmasken

Samstag, 20. April 1918 – Lage der Zivilbevölkerung und der Truppen im Aktivdienst

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

20. April. Es wird immer schlimmer. Die Teuerung wächst zusehends. 1 Liter Milch kostet 40 cts. Die Kohlennot ist so gross, dass fast keine Bahnzüge mehr verkehren. Es ist nur ein Glück, dass es der bessern Jahreszeit entgegen geht & man bald nicht mehr heizen muss. Der Vater hat zwar schon vorgesorgt & hat buchene Scheiter gekauft, die er nach & nach versägen will. Der Meter kommt auf 40 frs.! Wer irgendwie kann, der pflanzt Gemüse & Kartoffeln. Der Staat verlangt, dass der Boden dazu verwendet wird & gibt die Steckkartoffeln gratis & den m2 Land zu nur 5 fr. zu pachten. –

Soldaten beim JassenWährend Schweizer Soldaten an ihren Posten an der Grenze höchstens einen «Gasmaskentürk» über sich ergehen lassen mussten, daneben Wartezeiten aber auch mit Jassen zubringen konnten, sah das Leben der kämpfenden Truppen im Ausland ganz anders aus:

Am 21. März hat die grosse Offensive begonnen im Westen, an der wieder unsäglich viel Blut vergossen wird. Louis [Verwandter von Hedwig Haller] schreibt: „Die Kämpfe mit den Engländern sind furchtbar hart. Wir kampieren immer im Freien, da die Gegend so verwüstet ist, wie glatt rasiert dem Boden gleich ist Alles.“ – Wenn nur einmal eine triftige Entscheidung käme, die all dem Elend endlich Halt gebieten würde. ! –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917 und 1. Oktober 1917

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) sowie Staatsarchiv St.Gallen, W 132/2-337 und W 132/2-338 (Bilder aus dem Erinnerungsalbum des Geb. Sch. Bat. 8 im Aktivdienst an der Grenze bei Basel vom 18. März bis 2. Juni 1918)

Maiskolben

Mittwoch, 16. Januar 1918 – Ehemaligenbrief: Friedenshoffnungen

Brief eines Ehemaligen des Landerziehungsheims Hof Oberkirch in Kaltbrunn an seine frühere Ausbildungsstätte:

Neuenburg, den 16.I.1918.

An den Hof denke ich hin und wieder, und jedesmal, wenn auf irgend eine Art und Weise auf ihn die Rede kommt und sogar ein Zeichen, wie die Hofzeitung mir zukommt, so treten all die Erinnerungen frisch auf, eine nach der andern, und dann verliert man sich wieder einmal für einige Augenblicke ins Land der Träume. Ich bedaure auch sehr, nicht an den Alt-Höflertag haben kommen zu können, aber mit den heutigen Verbindungen und Kosten ist’s so eine Sache, von einem Samstag abend auf einen Sonntag abend von Neuenburg nach Kaltbrunn zu reisen.

Bei mir wird wahrscheinlich dieses Jahr der Militärdienst kommen, wenn nicht mit dem Frieden das Militär vollständig abgeschafft wird, was nicht unmöglich wäre. Viele reden hier von einem Frieden im Februar oder im März, aber ich kann für den Augenblick noch nicht dran glauben, obwohl niemand nichts sehnlicher sich wünschen mag, al eine Freiden, dass man wieder warm haben und sich quasi satt essen kann. Von diesen Sachen klingen uns die Ohren immer hier. Es ist ein Wimmern und Seufzen in Pensionsmütterchens Gesicht. Manchmal ist’s schwierig, richtig mit den Leuten auszukommen jetzt. Manchmal rumoren die jugendlichen Mägen bedenklich, die Platten sind manchmal gar mager belegt; das Fleisch ist oft stärker als der Geist. Dann gibt’s nachher eine kleine Diskussion auf französisch und man schickt sich wieder drein, l’estomac tranquillisé. – Auf dem Bureau habe ich’s sehr streng, von 8-12 und 1½-6. Dann noch 8 Stunden besondere Fächer in der Woche! Dann bin ich müde am Abend um 10 Uhr und freue mich auf meine Kiste.

Felix Stockar.

Felix Stockar, Jahrgang 1899, war von 1912 bis 1915 Schüler im Hof Oberkirch. Nach Schulaustritt machte er eine Fachausbildung für Seidenfabrikation in Frankreich, Italien und Zürich. Ab ca. 1924 war er im Rohseideneinkauf tätig und wohnte in Schanghai in China.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Landerziehungsheim Hof Oberkirch, Kaltbrunn, Hof-Zeitung, Nr. 12, April 1918, Text; Hof-Zeitung, Nr. 13, Juli 1918, Linoleumschnitt von Paul Tobler, Beitragsbild; Hof-Zeitung, Nr. 40, Juni 1927, Hinweis auf Felix Stockar)

Molitor

Dienstag, 20. November 1917 – Brief nach Deutsch-Südwest-afrika

Richard Molitor, Soldat in der deutschen Armee, schrieb noch eine dritte Karte an seinen Kollegen in St.Gallen, Joseph Fischer (vgl. Beiträge vom 23. Juli und vom 8. November 1917). Im Sommer hatte er die Zusendung von Schokolade gewünscht, und in der Mitteilung vom 8. November hatte er Joseph Fischer gebeten, einen Brief von ihm an einen Bekannten in Namibia weiterzuleiten:

Ohrdruf, 20. Nov. 1917

M. l. Jo. [Mein lieber Joseph]

Herzl. Dank für die rasche Antwort. Die wiederholte Adresse ist richtig. Brief geht in nächster Zeit ab. Er ist nicht gross. Möchte Dich aber doch um eine weitere Gefälligkeit bitten. Es wäre mir sehr lieb, wenn Du den Brief etwa 14 Tagen [sic] nach dessen Abgang in engl. Übersetzung nochmals an Albert abgehen lassen würdest. Einen davon dürfte er dann wohl erhalten. Für Deine grosse Freundlichkeit herzl. Dank. Ja, Dein l. Kärtchen vom Sept. betr. Choc. [Schokolade] habe ich s. Zt. richtig erhalten u. Dir auch bestätigt. Sollten meine Zeilen nicht angekommen sein, was ich befürchte, so sage ich [zweites «ich» gestrichen] Dir nochmals recht vielen Dank. Ich mache Dir doch grosse Mühe, gelt? Ich freue mich, dass es Dir immer recht gut geht. Ja, hoffentlich gibt’s nach dem Kriege ein Wiederluge [sic, schweizerdeutsch «Wiederluege» für «Wiedersehen»], der Friedensengel wird doch endlich einmal kommen. Empfange herzl. Grüsse von Deinem Freunde Richard.

Die Postkarte, auf dem die Mitteilung geschrieben wurde, enthielt auf der Vorderseite das Beitragsbild. Als Bildunterschrift steht Für «ihn»! Auf der Rückseite ist Näheres zur Serie zu erfahren: Wennerberg-Karte der Lustigen Blätter (Serie VII Nr. 7.) Grosse farbige Kunstblätter mit dem gleichen Bild auf Chromokarton (42:33 cm) 2 M. [2 Mark] Verlag der Lustigen Blätter (Dr. Eysler & Co.) G.m.b.H., Berlin SW 68.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 207, Album „Aus den Kriegszeiten“ (Karte an Joseph Otto Ferdinand Fischer (1892-1967) in St.Gallen)