Scherenschnitt Doris Schwarz

Mittwoch, 1. Januar 1919 – Neujahr: Katze im Geigenkasten

Fortsetzung der Tagebucheinträge von Alfred Schwarz (vgl. Beiträge vom 23.-25. und vom 31. Dezember 1918)

1.I.1919. (Neujahr. – Mittwoch.) – Mit T[h]eo im Bett geschwätzt. – Dann bald aufgestanden (9h). – Allerlei mit den Kindern gespielt. – Ankunft von Doris [Schwarz, Schwester von Alfred Schwarz]! – Mittagessen. – Gemeinsamer Spaziergang auf den Zürchberg (Fluntern, neue Kirche!), resp. seinen Anfang . – Jause. – – Dann mit Doris fort (ca. 5h) & zu Hugi in die Gemeindestrasse. – von Hugi & seiner Schwester Margrit sehr nett & gemütlich empfangen & in ihrer «Bude» ein vergnügtes Tee-Plauderstündchen verbracht! – Von dort direkt zu Hugs zum Nachtessen! x [Zeichen für Einschub resp. Nachtrag, s. unten] – Nach dem Nachtessen geplaudert (im Weih. Zimmer natürlich!) & nocheinmal den Christbaum angezündet! – Doris schildert das tägliche Wiener «Menu» (Rübensuppe & Sauerkraut oder umgekehrt!) – «Loos»-Theorie vom «Sitzen» wird von Hans, Evi & mir «ausprobiert»! – Während die anderen im Musikzimmer musizieren & zuhören, erzählt Evi bei Christbaumbeleuchtung von ihrem Genfer Leben! Dann geht auch Hans ins Musikzimmer & wir zwei warten noch das Abbrennen der letzten Kerze ab & gehen dann auch hinüber! – Hier wird noch gegeigt, & zw. von Onkel Ad. auf einer alten Meistergeige aus dem Geschäft (Wert Fr. 60000.-!) jedoch dann bald Schluss gemacht. Katze im Geigenkasten! – Noch ein wenig im Weih.Zimmer gelesen & geplaudert. Dann Aufbruch & Heimweg zu Baumanns! Theo wieder nicht aufgewacht! – Nachtrag: x Von Doris Wiener Geschenke & «Guetsli [Plätzchen] von Zuhause» erhalten!

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/140.07-07 (Tagebuch Alfred Schwarz für die Weihnachts- und Neujahrstage 1917 und 1918) und W 054/144.03.06-18 (Scherenschnitt Doris Schwarz, 1920)

Montag, 11. November 1918 – Bolschewisten überall: Grippe und Landesstreik

Ernst Kind, der einundzwanzigjährige, frischgebackene Offizier der Schweizer Armee über die Lage in Europa, seine Sympathien nicht verhehlend:

8. November 1918: Folgende Worte, die ganz aus der momentanen Stimmung heraus, aber wie ich überzeugt bin, immerhin noch mit klarem Blick in die Verhältnisse geschrieben werden, sind vielleicth das letzte, was ich in ruhiger Umgebung schreiben kann. Man muss heute, wo die Idee des Bolschewismus wie eine scheussliche Seuchedurch alle Länder geht, mit jedem Tag den Ausbruch einer Revolution fürchten. Es ist alles, das ganze Unglück der jetzigen Lage, so rasend schnell gekkommen, dass man es noch nicht in seiner ganzen Wirklichkeit fassen kann. Die Kriegsereignisse seit dem Frühling sind wie ungeheure Schläge nacheinander gefolgt:

Im März begann die deutsche Kriegsoffensive. (Im Sommer 1917 war die russische Revolution zur vollen Wirkung gelangt, indem das Heer sich auflöste und die ungeleiteten Massen sich raubend u. plündernd im Land herumtrieben. Zum Schutz der Ukraine hatten die Deutschen Truppen dorthin [an dieser Stelle ein * im Text und oben der Hinweis: Forts. Am 11. Nov. 1918.] gesandt u. waren bis weit über die Krim hinaus vorgerückt. Dann war es zum Frieden von Brest-Litowsk gekommen, wodurch die Feindseligkeiten gegen die russische Sowietrepublik (Arbeiter- u. Soldatenrat: Lenin u. Trotzky) ein Ende erreichten. Die Ukraine schloss ein wirtschaftlich wichtiges Abkommen mit den Zentralmächten, indem sie deren Verproviantierung erleichtern sollte. Auch Rumänien wurde der Frieden von Bukarest aufgezwungen. So standen die Deutschen trotz scheusslicher u. drohender Fortsetzung der Revolution in Russland (Terror in Petersburg u. Moskau, fürchterliche Hungersnot, Cholera) im Osten gesichert da, u. hatten sich militärisch u. wirtschaftlich erleichtert. Aber doch hat jener Abschluss des Krieges im Osten u. die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Russland unendlich mehr geschadet als genützt. Die Revolution, der Bolschewismus, hatte nun freien Zutritt in Deutschland u. Österreich, indem die Sowjetgesandtschaften ihr Exterritorialitätsrecht so schändlich missbrauchten, dass sie in den Gesandtschaftshäusern ganze Magazine revolutionärer Propagandaschriften aufhäuften u. diese dann auf verborgenem Weg den deutschen u. österr. Arbeitern in  die Hände spielten. Jedenfalls ist in dieser Beziehung kolossal gearbeitet worden seit letztem Jahr; nur so lässt sich ds heutige Verhalten erklären. Auch in der Schweiz haben wir eine solche Sowietbotschaft erhalten, u. in unserem Lande hatte es die Agitation naturgemäss noch leichter als bei den Kriegführenden mit ihrer Zensur u. ihrem teilweisen Belagerungszustand. –

So viel glaubte man aber allgemein, dass Deutschland jetzt im Osten frei, seine überzähligen Truppen an den Westen transportieren u. dort die Entscheidung suchen werde. In Italien erfolgte der Sturm im Okt. 1917. Mit deutschen Truppen an den entscheidenden Stellen griff das österreichische Heer auf riesiger Front an, brach am Isonzo durch u. brachte das italienische Heer zu einem grauenhaften Rückzug, vielmehr zu einer Flucht. (Katastrophe am Tagliamento, wo 60000 Mann sich ergaben). Erst hinter dem Piave kam der Angriff an französ.-englischen Hilfstruppen zum Stehen. Italien erholte sich bald wieder. Im Frühling 1918 kam es dann eben dort zum Generalangriff, wo einzig die Hauptentscheidung fallen konnte, in Frankreich. In mehreren furchtbaren Offensivstossen [sic] stiessen die Deutschen in Frankreich vor. Zu äusserst westlich erreichten sie beinahe die Ränder von Amiens u. im Süden der Angriffsfront erreichte man die Marne, zum zweitenmal der Schicksalsfluss. Foch’s Reserven (Foch war durch die Not zum Generalissimus der Entente geworden) waren aber nicht erschöpft, ungeheure Massen kamen aus Amerika; der U-Bootkrieg versagte den Transporten gegenüber, jeden Monat kamen seit Mai 1918 durchschnittlich 300000 Mann. Mit diesen u. seinen letzten Kräften an Franzosen u. Engländern setzte Foch zum Gegenangriff an. (Mitte Juli.) Und das ist die Peripetie des grossen Dramas. Von da an kam Schlag auf Schlag das Unglück über Deutschland. Zu schwacb gegen die Übermacht, Mangel leidend an Material wie an Nahrung, schliesslich verlassen u. verraten von allen Bundesgenossen, schliesslich verlassen u. vor allem, durchseucht vom Bolschewismus, d.h[.] gelähmt an seiner inner Kraft, ist es jetzt zusammengebrochen, militärisch viel weniger als politisch.

Die Ereignisse folgten sich etwa so: Durch die vielerorts erfolgten übermächtigen Tankoffensiven der Alliierten (der Unzahl der Tanks vermochte die deutsche Artillerie nicht mehr beizukommen; selbst hatten sie von dieser Waffe fast nichts.) wurden die Deutschen zur Aufgabe aller in diesem Frühling eroberten Gebiete gezwungen. Dann kam der Rückzug zum Stillstand. Vor diesem deutschen Rückzug ist es noch bei den Österreichern zu einer unglücklichen Offensive gekommen. Ein Vorstoss über den Piave drang nicht durch, der ausserordentlich anschwellende Strom unterbrach die Verbindungen u. so kam die Notwendigkeit eines mühsamen, deprimierenden Rückzuges über den Piave.

Im Herbst nahm das Unglück ein rasendes Tempo an. Bulgarien verriet die Bundesgenossen u. liess nach einer militärischen Kommödie [sic] die Entente einmarschieren. Die Verbindung mit dem Orient war verloren. Die Entente beherrschte Bulgarien u. drang durch ganz Serbien vor. Gleichzeitig erlitten die Türken in Palästina geradezu vernichtende Niederlagen u. schlossen ganz nach den Bulgaren einen Waffenstillstand, der eine Kapitulation war Als letzter Verbündeter Deutschland[s] kam Österreich mit dem unerhörtesten Verrat. Das alte habsurg. Reich fiel auseinander. In 1 Woche erklärten die einzelnen Staaten der zusammengewürfelten Monarchie ihre Selbständigkeit. Einem italienischen Angriff leistete das Heer noch kurzen Widerstand, während hinten im Land der reinste revolutionäre Hexensabbat los war Dann löste sich die Armee einfach auf, schloss einen schleunigen Waffenstillstand, u. Kaiser Karl zögerte nicht, Sonderfriedensverhandlungen zu unterbreiten. Aber auch so rettete er seinen Tron [sic] nicht mehr. Österreich hat kapituliert wie kaum vorher ein Staat. In seinem Innern wütet die Revolution, u. die Entente hat das Recht, das Land zu besetzen. Vor einer guten Woche ist es aber zum Schlimmsten gekommen. Auch Deutschland hat die Revolution. Alles ist in Bewegung. Ludendorff ist schon länger zurückgetreten. In der Flotte haben kolossale, blutige Meutereien stattgefunden, Arbeiter- u. Soldatenräte traten überall zusammen; Bayern wurde über Nacht Republik, am 9. Nov., also vorgestern hat der deutsche Kaiser Wilhelm II abgedankt u. der Kronprinz verzichtet u. heute am 11. Nov. ist der Waffenstillstand mit der Entente abgeschlossen worden, der Deutschland jedenfalls wieder zum Sklaven macht, und eine furchtbare Katastrophe für lange sein wird. Möge nur um alles der Bolschewismus nicht lange triumphieren, sonst stirbt das, was man bisher echt deutsch nannte. Der deutsche Staat ist ja bereits gestorben, ohne einem verjüngten Wesen Platz zu Machen.

Jetzt komme ich auf unsere Verhältnisse zu sprechen. Sie sind bitter ernst, verzweifelt ernst. Letzte Woche hatten die Bolschewiki, deren wir ja so viele haben, den Jahrestag der russ. Revolution feiern wollen; dabei war ein gewaltsamer “Putsch” geplant. Da hat nun der zürcherische Regierungsrat offenbar sehr Angst bekommen und endlich einmal dringend Truppen in Bern verlangt. Und glücklicherweise hat man auch dort den Ernst der Sache erfasst und gleich energisch vorgesorgt. Innert 2 Tagen wurden 4 Inf. Regimenter und sämtliche 4 Kav.brigaden aufgeboten; die Kavallerie, hauptsächlich Bauern, war eine bestimmt zuverlässige Truppe, und an Infanterie hatte man auch gute Leute ausgewählt, vor allem Thurgauer u. Luzerner Truppen. Am 8. Nov. war bereits ein Regiment Inf. und eine Kav.brigade in und um Zürich bereit. –

Offenbar fand Ernst Kind vor der Jahreswende nicht Zeit, über den Fortgang und Ausgang des Landesstreiks zu schreiben. Erst am 13. Januar 1919 notierte er wieder in sein Tagebuch:

Fortsetzung am 13. Januar 1919.

Am 9. Nov. verreiste Papa per Auto an die Grenze, als stellvertretender Kommandant der 5. Division. Für den selben Tag war in der ganzen Schweiz ein 1-tägiger “Proteststreik[“] verkündet worden, Protest gegen das “herausfordernde” Truppenaufgebot. Soviel man nachher erfuhr, ist dieser Proteststreik nur in Zürich einigermassen zur Ausführung gekommen; er war eben nicht vorbereitet; auch gaben die zahlreichen Truppen jedenfalls vielen Arbeitswilligen den Mut, an ihrer Arbeit zu bleiben. Vormittags fuhren sogar die Strassenbahnen, allerdings nur die Leute vom Personal, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten, falls man ihnen Schutz zusichere. Deshalb standen vorn u. hinten auf der Plattform je 3 Mann Feldgraue mit aufgepflanztem Bajonett. Nachmittags musste der Tramverkehr trotzdem eingestellt werden.

Immerhin, schlimm war dieser Tagesstreik noch nicht; die Geschäfte und Läden waren zum grössten Teil offen; Gaswerk, Elektrizitätswerk u. Wasserwerk arbeiteten ruhig weiter, trotzdem man am Freitag abend schon das Gegenteil befürchtet hatte, und infolgedessen noch Badewanne, Eimer u. Krüge mit frischem Wasser gefüllt hatte! (Ich verwechsle das; erst am Montag, 11. Nov. morgens tat man das, als infolge Weiterdauerns des Streiks darob Befürchtungen entstanden.) Der Sonntag verging sehr unruhig, riesenhafte Demonstrationen infolge der bolschewistischen Agitation fanden im Stadtinnern statt. Das Militär sperrte wichtige Plätze ab. Beim Räumen des Fraumünster- und Paradeplatzes waren die Truppen gezwiugen, zur Warnung scharfe Salven über die Köpfe der Radaumacher hin abzugeben. Das Strassenbild war kaum zu vergleichen mit normalen Zeiten: Keine Strassenbahn, dafür häufig Militärlastautomobile mit schussbereiten Soldaten besetzt, sogar z.T. mit Maschinengewehren ausgerüstet. Auf alle Fälle spürte man, die Sache war noch nicht zu Ende mit dem Samstagsstreik.

In der Sonntagnacht beschloss wirklich das Oltener Aktionskomité [sic] eine Fortsetzung und Ausdehnung des Streikes im ganzen Land (das Oltener Komité ist so eine Art Sowiet, der gern die Nebenregierung neben dem Bundesrat spielt u. darauf ausgeht, schliesslich ganz ans Ruder zu kommen.) Also ging der gefährliche Unsinn am Montag weiter, auf unbestimmte Zeit; man wollte es auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wer es länger aushalte, die Bolschewiki oder der schweizerische Bürger. Hier sind am Montag wieder gewaltige Demonstrationen veranstaltet worden. Jetzt stockte aller Verkehr, auch alle Bahnen und der Briefpostverkehr. Bei Zusammenstössen mit Demonstranten ist ein Soldat erschossen worden; abends veranstaltete unsere national gesinnte Studentenschaft eine Zusammenkunft, um zu beraten, wie man helfen könnte, um die gestörten Betriebe wieder in Gang zu setzen. Vor allem sollte dem empörenden Schauspiel abgeholfen werden, dass an allen Ecken das ketzerische «Volksrecht» , unser Bolschewikiblatt, feilgeboten wird, während keine einzige bürgerliche Zeitung erscheinen kann. Die Versammlung war voll guten Willens zum patriotischen Helfen, wenn es auch infolge der Erregung dabei sehr laut herging. Ich habe mir dort den Keim zur zweiten Grippe geholt und habe das leidige Übel schon in er Nacht gehabt. Abends erfuhr ich noch neue Truppenaufgebote, beinahe 2 ganze Divisionen. Im Ganzen werden wir wegen dieser innern Unruhen etwa 60000 Mann aufgeboten haben. – Wie gesagt was nach dem Montag während des Streiks passiert ist, kenne ich nur aus der Zeitung u. vom Hören. Ich lag mit Grippe im Bett. Doch freute mich schon am Dienstag die Mitteilung, dass unter Mithilfe unserer Studenten ein bürgerliches Blatt herauskam, die nationale «bürgerliche Presse Zürichs». Vom Mittwoch an vertrugen meine Kommilitonen auch die Brief- u. Packetpost [sic]! Und in der Mittwochnacht sahen die Oltener Leute endlich ein, dass ein russisches Programm in der Schweiz noch nicht durchführbar ist, und sie gaben den Kampf auf; d.h. sie unterwarfen sich. Der endlich in der Not befolgte Zusammenschluss der Bürger hat ein drohendes Unheil abgewendet. Die Soldaten blieben aller Agitation gegenüber taub. Hingegen ist es oft vorgekommen, dass sie einen der ärgsten Schreier gehörig verklopft haben, wie es solchem unerzogenen frechen Jungburschengesindel gegenüber am besten ist.

Allmählich ist dann alles wieder zur Ruhe u. wieder in Gang gekommen. Seither steht ständig ein Regiment in und um Zürich bereit, neuen Putschen gleich entgegen zu treten. Doch bin ich überzeugt, dann ginge es schlimmer zu, blutiger. Unsere Truppen haben unter der Grippe während des Streiks schwer gelitten; über 800 Tote haben sie in der ganzen Schweiz verloren, einzig, weil der Streik sie zusammengeführt hat. Ein zweites Mal würden sie kaum mehr über die Köpfe schiessen, die Empörung u. der Rachedurst ist zu gross. –

Nachdem endlich die Spartacusbewegung in Berlin nach scheusslichen Strassenkämpfen niedergeworfen worden ist, glaube ich nicht, dass bei uns der Kampf wieder losgeht. Auf eine Wiederholung ist man aber, soviel ich merke, militärisch sehr gut vorbereitet. Ich bin der neugegründeten Stadtwehr beigetreten, die sich organisiert hat, um Eigentum und Arbeit bei neuen bolschewistischen Versuchen zu schützen. Seit 31. Dez. 18 bin ich Leutnant. (Kp. III/70, Zürich, Landschaft.)

Flugblatt Rückseite

Quelle; Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Einträge vom 08.11.2018, 11.11.1918 und 13.01.1919; zusätzliche Absätze zur besseren Lesbarkeit eingefügt) und W 240/1.3-11.4 (Beitragsbilder: Dokumentation von Jakob Jäger, 1874-1959, über den Landesstreik, Flugblatt der Volksstimme zum 13. November 1918, Vorder- und Rückseite)

Buchungsjournal Kantonspolizei

Donnerstag, 29. August 1918 – Kartoffelschmuggel im Rheintal

Der Krieg kam den Kanton teuer zu stehen, obwohl er selbst nicht Kriegspartei war. In der Staatsrechnung und in den Buchungsjournalen der Dienststellen tauchen immer wieder unvorhergesehene Überschreitungen von Budgetposten auf. So findet sich auch in der sogenannten Anweisungskontrolle der Kantonspolizei für das Jahr 1918 Abrechnungen über nicht budgetierte Ausgaben. Verschiedene, damals noch Landjäger genannte Polizisten erhielten Sonderzulagen für Kontrollen an der Grenze im Rheintal. Dort hatte offenbar der Kartoffelschleichdiebstahl überhand genommen. 1197 Fr. kosteten diese Zahlungen den Kanton allein im Monat August. Am Wachtdienst beteiligt waren ein Korporal, vier Landjäger und vier Landjäger-Rekruten:

Sonderzulagen

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, KA R. 102 B 10, Bd. 1918 (Anweisungskontrolle, Text und Bilder)

Dienstag, 20. August 1918 – Gewissensbisse eines Deserteurs

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

20. August 1918 Nun ist er gekommen, der Freudentag, der uns endlich einmal unsern Louis brachte für einige Wochen Urlaub in die Schweiz. Aber allzu rasch kam der Tag, da er wieder einrücken sollte. Wo er hinkommt, da heissts: „Sie werden doch nicht so dumm sein & wieder gehn.“ Selbst seine Kameraden im Felde haben gesagt: „Wenn Du wieder kommst, dann sollte man Dich prügeln.“ – Louis kämpfte böse Stunden durch zwischen Pflicht & Vernunft & schliesslich siegte das Letztere, indem er sich entschloss zu bleiben & alles Unangenehme eines Deserteurs auf sich zu nehmen ! – Er meint, seinem Vaterlande später mehr nützen zu können, als wenn er wieder gehe & sich ev. schon von der ersten Kugel verstümmeln oder töten lasse.

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918 und 1. Juli 1918

Quelle: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser)

Max von Orelli

Dienstag, 13. August 1918 – Ent-lassung aus dem italienischen Staatsgefängnis

Aus Neapel schrieb Fritz Wenner-Andrea an seine Ehefrau:

Liebe Maria,

Danke für Deine l. Zeilen, denen ich mit Freuden entnehme, dass es Euch im allgemeinen besser geht. Hier erleben wir einen Festtag. Orelli ist gestern abend in perfetto orario [?] und wohl und zufrieden angelangt. –

Ich gleibe heute u. morgen noch hier. Bitte sage es dem Gennaro [Angestellter], dass er mich erst morgen abholen soll. –

Heute abend essen wir bei Orellis. –

Ich habe sehr viel zu tun und schliesse mit tausend Grüssen an Alle

Dein Fritz

Hintergrund dieser Zeilen war die Freilassung von Max von Orelli (1874-1947) aus dem italienischen Staatsgefängnis. Er war Geschäftsführer der deutschstämmigen Firma Aselmeyer & Co. in Neapel in Neapel gewesen. Diese hatte im März 1916 mit den Textilfirmen der St.Galler Familien Schlaepfer, Wenner & Co. zu einer neuen Firma Corisal (Cotonifici riuniti di Salerno) fusioniert. Trotz Befolgung der hohen Auflagen der italienischen Behörden eröffneten letztere ein Untersuchungsverfahren gegen Orelli als Delegierten des Verwaltungsrates der Corisal und verhafteten ihn am 8. Mai 1918 auf offener Strasse vor der schweizerischen Gesandtschaft in Rom. Ein Militärrichter sprach ihn schliesslich wegen mangelnden Straftatbestandes («per inesistenza di reato») von der Anklage auf Hochverrat, worauf die Todesstrafe durch Erschiessen gestanden hätte, frei. In einem Privatdruck schilderte Orelli ein paar Jahre später seine Erlebnisse als privilegierter Häftling, aus denen hier auszugsweise zitiert wird:

In dem am Tiber, unterhalb des Giannicolo gelegenen Gefängnisses «Regina Coeli» angelangt, musste ich mich zuerst bis aufs Hemd ausziehen und mir eine genaue Durchsuchung gefallen lassen, die feststellen sollte, ob ich nichts bei mir trage, womit ich mein Leben oder das meiner Wärter gefährden oder abkürzen könnte. Wenige Tage vorher hatte sich ein berühmter Gefangener erhängt. Deshalb war die Untersuchung vorübergehend besonders streng. Die Schnüre aus meinen Schuhen wurden herausgezogen, alles was einem Band oder Schnalle an meiner Bekleidung ähnlich sah, entfernt. Hosenträger, Uhr, Kette, Messer, Bleistift, Papier, Brieftasche, Kravatte, alles wurde mir abgenommen und in einem Paket versiegelt. Sodann wurde ich in ein enormes Fremdenbuch eingetragen, wo ich auch die Namen meiner sämtlichen Vorfahren (mögen sie es mir verzeihen) anzugeben hatte, dann endlich wurde ich von meinerm Wärte durch lange, hallende Korridore nach dem dritten Flügel des Gebäudes geführt, wo ich in einer kleinen Zelle für «Passanten» eingeschlossen wurde. Das GEräusch des hinter mich sich drehenden Schlüssels im Schlosse brachte es mir zum erstenmal zum richtigen Bewusstsein, wo ich mich befand. Trotz dieses wenig angenehmen Gefühls nahm ich mir aber fest vor, mich durch alle diese Nebenerscheinungen und bevorstehenden Unannehmlichkeiten nicht einschüchtern zu lassen.

Es war völlig Nacht geworden. Ich entkleidete mich halb und legte mich auf die Pritsche, wo ich sofort fest einschlief. Ich musste einige Stunden geschlafen haben, als ich plötzlich durch ein blendendes Licht aufgeschreckt wurde. Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren und um einen Gefängnisoffizier zu erkennen, der mich mit drohendem Blick anfuhr, ob ich denn icht wisse, wo ich meine Schuhe hinzustellen habe. Auf meine Versicherung, ich sei mit den Gebräuchen des Hauses nicht vertraut, fragte er, ob es denn das erste Mal sei, dass ich mich hier befände; und auf meine Bejahung schüttelte er ungläubig den Kopf. Es stellte sich heraus, dass er ei seiner nächtlichen Runde über meine Schuhe gestolpert war, die ich aus alter Gewohnheit wenigstens an die Türe gestellt hatte.

Am nächsten Morgen wurde mir ein ständiges Gemach angewiesen im ersten Stock des dritten Flügels Nr. 301.

Gegen Entrichtung von 70 Centesimi per Tag hatte man den Vorzug gegenüber den Verurteilten, dass die Zelle morgens und abends von Sträflingen gereinigt wurde. Im übrigen unterschied sie sich von denjenigen der Verbrecher nur darin, dass noch ein Tisch und ein Stuhl, sowie ein Nachttopf statt des sonst üblichen Gefässes (Calabrese), welches alle Zellen schmückt, hineingestellt wurden. Der Raum ist ungefähr 5 m lang und 2 1/2 m breit. Hoch oben befand sich ein vergittertes Fenster, durch welches ich einen bescheidenen Blick nach dem Himmel richten konnte. Die Bettstelle ist ein an der Wand befestigtes, aufklappbares starkes Eisengeflecht. Dieses wurde samt dem übrigen Mobiliar zur Feier meines Einzuges mit einer starken Stichflamme abgefahren, um das in den Verstecken hausende Ungeziefer möglichst zu vertilgen. Das Bettzeug bestand aus einer dünnen Strohmatratze und Kissen, zwei Leintüchern und einer Wolldecke. Auch erhielt ich zwei Handtücher, die öfters gewechselt wurden. Alle der Verwaltung gehörenden Stoffe waren von mehr oder weniger breiten, kaffeebraunen Streifen durchzogen, genau wie die Anzüge der Sträflinge.

Meine Freunde hatten dafür gesorgt, dass mir das Essen aus einer nahe gelegenen Trattoria täglich geschickt wurde. Auch eine Vergünstigung, die den noch nicht Abgeurteilten auf eigene Kosten gewährt wird. Da es aber nur einmal im Tage gebracht werden darf, und an der Türe einer genauen Untersuchung unterzogen wird, war es, bis es zu mir gelangte, immer kalt, was aber in dieser Jahreszeit nicht viel auf sich hatte. Nach und nach konnte ich einige Anschaffungen machen. Vorerst Löffel und Gabel aus Holz, da der vom Staat gelieferte Holzlöffel, den ich mir bei meinem Austritt in dankbarer Erinnerung angeeignet habe, in seiner rohen Schnitzarbeit seinem Zweck wenig entsprach. Sodann liess ich mir Handtücher und Hemden kaufen, denn die mir von zu Hause geschickten Bekleidungsstücke kamen erst mit grosser Verspätung an. Zeitungen durften keine gelesen werden, mit Ausnahme unpolitischer, illustrierter Blätter. Dagegen stand eine grosse Bibliothek zur Verfügung, und es durften auch broschierte Bücher von auswärts bezogen werden, nachdem sie die Zensur passiert hatten. Dieser waren selbstverständlich auch alle ein- und ausgehenden Briefe unterworfen. Und es dauerte volle drei Wochen, bis ich die ersten Nachrichten von meiner Familie erhielt. Alle Auslagen wurden in einer Art zinslosem Sparheft abgerechnet, in welchem das mir beim Eintritt abgenommene Geld als Kapital eingetragen war. Man verfügte also über keine Barmittel, konnte aber im Hause kleine Anschaffungen, wie Kerzen für Beleuchtung, Zigarren, Streichhölzer, Seife, usw. machen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich die Zitrone als äusserst nützliche Frucht kennen, nicht nur zur Bereitung von Limonaden, sondern auch für Zahnpflege und Desinfektion. Denn nichts für diesen Zweck dienendes durfte ohne ärztliche Erlaubnis in die Zelle eingeführt werden.

Eine starke Hautschürfung zog ich mir zu, als ich bei meinen täglichen Turnübungen mit einer Faust versehentlich etwas zu heftig gegen die Wand boxte.

Mein tägliches Leben floss natürlich sehr gleichförmig dahin. Trotzdem ich nicht, wie meine verurteilten Hausgenossen, deren damals etwa 3000 mit mir das Gefängnis teilten, zu einer bestimmten Stunde angekleidet sein musste, erhob ich mich doch regelmässig mit dem ersten Glockenschlag, der gegen 6 Uhr morgens ertönte.

Die sich alle paar Stunden wiederholenden, verschiedenen Glockensignale waren überhaupt das einzige, was in Ermangelung einer Uhr eine Zeiteinteilung erlaubte; mit Ausnahme von dem Kanonenschuss, der um 12 Uhr mittags von dem Giannicolo täglich ertönte.

Ich begann mein Tagewerk mit Lektüre und etwas Turnübungen. Gegen 9 Uhr wurde mjir in einem Glas ein schwarzer Kaffee gereicht, nach 12 Uhr erhielt ich das Essen, wovon ich einen Teil für den Abend beiseite stellte. Ein- bis zweimal am Tag erschien ein Wärter, mit einem eisernen Stab sämtliche Fenstergitter abklopfte, um sich aus dem Klang zu vergewissern, dass sie noch intakt seien. Ein- bis zweimal wöchentlich hatte ich den Besuch des Barbiers, eines wegen einer Messeraffäre Verurteilten. Er kam immer in Begleitung eines Wärters und erzählte mir, das Rasiermesser in der Hand, seine Erlebnisse mit viel Drastik; dabei oft vom Wärter zur Ruhe verwiesen. Morgens um 8 Uhr und abends um 6 Uhr erschien ein Wärter in Begleitung eines Sträflings, der den Auftrag hatte, mein Zimmer zu reinigen. Diese dazu auserlesenen Sträflinge waren meist ganz junge, wegen militärischer Vergehen Verurteilte, die sich beim Aufräumen mit besonderer Liebe auf die bereitgelegten Zigarrenstummel stürzten. Gerne hätte ich ihnen manchmal von meinem nicht verzehrten Essen zugesteckt, aber das war streng verboten. Ihre Tätigkeit beschränkte sich darauf, den Boden aufzuwischen, für Leerung der Gefässe besorgt zu sein, frisches Wasser zu holen und das Bett zu machen. Letztere Arbeit wünschte ich sehr bald selber zu übernehmen, da ich gemerkt hatte, dass nach diesen Reinigungsbesuchen nicht selten eine Jagd auf Ungeziefer notwendig war, worin ich nach und nach eine gewisse Fertigkeit erwarb. Ich liess denn auch mein Bett immer heruntergeklappt, damit es nicht in Berührung mit der Wand komme. Im allgemeinen muss ich aber sagen, dass Gebäude und Zelle im Hinblick auf die darin verpflegte Gesellschaft reinlich zu nennen waren.

[… Informationen über eine im Innenhof des Gefängnisses erstellte Munitionsfabrik, in der Sträflinge arbeiteten]

Abends ging ich immer um 9 Uhr zu Bett, wo ich regelmässig die Töne vieler Glocken von nah und fern hörte, weil dann endlich der Lärm in der Fabrik verstummt war.

Während meines ganzen Aufenthaltes erfreute ich mich eines ausgezeichneten Appetits und Schlafes. Nur ganz wenige Male erinnere ich mich, im Halbschlaf das Geräusch der Runde, die allnöchtlich die Zellen betritt, gehört zu haben.

Das Personal des Gefängnisses, insbesondere der Oberaufseher meiner Abteilung, der Wärter meiner Etage, der Aufseher im Hof waren durchaus freundlich und rücksichtsvoll, da ich mich vom ersten Augenblick an den Anordnungen fügte. Auch der Direktor des Gefängnisses besuchte mich einige Male kurz, um sich zu erkundigen, ob ich Wünsche vorzubringen habe, was ich aber jederzeit verneinte. Während der kurzen Zeit der Zellenreinigung konnte ich meistens mit dem Aufseher plaudern. Allerdings nur über ganz nichtssagende Dinge, denn die Leute hielten sich streng an ihre Vorschrift, die ihnen verbot, Mitteilungen irgendwelcher Art an die Gefangenen gelangen zu lassen. Da ich weder durch Zeitungen noch durch Briefe, noch durch das Personal irgend etwas über die Weltereignisse erfahren konnte, wird man begreifen, dass ich nach meiner Befreiung viele Dinge vernahm, die mich in das grösste Erstaunen versetzten; denn gerade in diesen Monaten hatten sich gewaltige Veränderungen auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen vollzogen.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/128.1 (Korrespondenz Fritz und Maria Wenner-Andreae, 1918) und W 054/47.4 (Max von Orelli: Kriegserlebnisse 1918, Privatdruck, S. 19-26) sowie W 054/47.7.1 (Beitragsbild, Max von Orelli, ca.1930)

Ehepaar Wenner

Mittwoch, 24. Juli 1918 – Familienfestvorbereitungen

Silvia Wenner (1886-1968), die Schwester von Fritz Wenner-Andreae (vgl. den Beitrag vom 1. Mai 1918), hatte offenbar ihre Neffen gehütet. Sie erhielt am 24. Juli einen Brief ihrer ältesten Schwester Lily:

Erhalten i[n] Fratte

24. Juli 1918. – Sils-Maria.

Meine liebe Silvia, – Für Deinen so lieben Brief vom 27. Juni danke ich Dir sehr herzlich u. habe mich ganz besonders gefreut[,] wieder einmal direct von Dir zu hören. Dass Du eine so schwere Zeit als Vice-Mama mit den drei Bübchen erlebt hast[,] war mir sehr leid. Ich habe lebhaft mit Dir fühlen können, aber um so schöner wird es jetzt sein[,] sie so frisch & vergnügen herum springen zu sehen. Nun ist ja Valentin auch schon 1 Jahr alt. Wie die Zeit vergeht! Ich habe am 12ten ds. an ihn gedacht, denn das war doch sein Geburtstag, nicht? – Bei uns geht es, Gottlob [sic], gut. Wir sind bis jetzt von der s.g.  [sogenannten] spanischen Influenza verschont geblieben, denn wenn es auch nichts schlimmes ist, so ist es auch keine Annehmlichkeit. – Wir haben vor einigen Tagen eine Bombenhitze gehabt, s. d. man sich nur noch im Haus hinter geschlossenen Läden verkriechen konnte. – Letzten Samstag kam Anna wieder einmal für 14 Tage. Bis jetzt geht es unberufen leidlich, aber leider wird ja die Ruhe auch nicht lange dauern. – Gestern haben wir den 75. Geburtstag von Herrn v. G. gefeiert. Wir waren mittags zu Tisch drüben, & während dem Essen haben die drei Kinder, statt dem Toast sehr hübsche Verse aufgesagt, die Frau Max gedichtet hatte. Zuerst stand Max auf & sprach von der Vergangenheit, dann fiel ihm Rudi in’s Wort & wies auf die Gegenwart & er wurde wiederum von Marguerite abgelöst, welche die Wünsche für die Zukunft & das «Hoch» auf den Grossvater ausbrachte. Es war sehr nett! – Nun sind wir alle sehr in der Ueberlegung, wie & was man an der goldenen Hochzeit machen wird. Sie ist am 22. Sept., aber bei den jetzigen Verhältnissen muss man mit allem möglichst früh anfangen, denn es ist doch recht schwierig. Wahrscheinlich werden alle Kinder & Enkeln hier sein können für den Tag, & das ist natürlich das schönste, aber gerade darum giebt [sic] es so viel zu überlegen & einzurichten. Ich bin schon so voller Geheimnisse von allen Seiten, dass ich gar nicht mehr weiss, über was ich sprechen darf, u. über was nicht, & immer in Gefahr bin[,] mich zu verplappern. – Weisst Du noch, wie am Abend vor der silbernen Hochzeit der Eltern wir im Schulzimmer die Kränze wanden, & Fritz so viel Unsinn schwatzte, dass wir alle ganz schwach wurden? Wie weit scheint einem doch schon diese Zeit! Wenn Du einmal Bilder von den Zimmern zu Hause auf dem Lande hättest, wäre es mir eine grosse Freude[,] wenn Du sie mir schicken könntest! – Und nun hoffe ich, dass diese Zeilen Euch Alle [sic] wohl antreffen mögen, & dass auch die Berichte von Tante Jeanne leidlich lauten. Wie traurig muss ihr Zustand sein, & wie schwer für Onkel Robert[,] dass er nun auch dieses langsame Aufhören mit erleben muss! – Bitte, grüsse die lb. Eltern ganz besonders herzlich von mir & sage auch Fritz & Maria viel Liebes. Ich habe mich gereut zu hören[,] dass es Maria’s Mutter auch besser geht. – Meine Umgebung lässt vielmals grüssen. Dich selbst aber, mein Liebes Kleinsele, umarmt in treuer Liebe

Deine

Lily Wenner [1877-1959, Elisabeth Jeanne, genannt Lily, älteste Tochter von Friedrich und Emma Wenner-Freitag].

Im Beitragsbild sind Friedrich (1845-1931) und Emma (1852-1942) Wenner-Freitag zu sehen, die – wie im Brief erwähnt – am 22. September 1918 ihre goldene Hochzeit feiern konnten. Die undatierte Aufnahme entstand in der Stadtwohnung des Paars in der Via Medina in Neapel.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Korrespondenz an Silvia Wenner, 1917-1921) und W 054/123.5c (Beitragsbild)

Briefkopf des Hotels in Lyon

Samstag, 8. Juni 1918: Der Dienst will nicht enden

Der Militärdienst wollte kein Ende nehmen, Franz Beda Riklin konnte auch Anfang Juni noch nicht zu seiner Familie heimkehren (vgl. Beiträge zum 7. und zum 13. Mai 1918). Nach wie vor weilte er als Mitglied der Commission Franco-Suisse Pour l’Internement des Prisonniers de Guerre in Lyon. In mehreren kurzen Briefen hatte er seiner Frau berichtet, wie langweilig der Dienst und wie uninspirativ seine Kameraden seien. Ein überraschender Kurzbesuch seiner Frau eine gute Woche zuvor war eine mehr als willkommene Abwechslung gewesen.

Lyon, 8. Juni 1918.

Liebster Schatz! Ich weiss nicht, ob dieser Brief das Glück hat, Dich gleich zu erreichen. Mein Termin ist abgelaufen, aber der Nachfolger noch nicht da u. im übrigen die Grenze gesperrt. Gut, dass Du nicht dageblieben bist; ein Gefühl von möglichen Überraschungen hielt mich zurück, etwas Ausserordentliches zu unternehmen. Man hätte jetzt die allerärgsten Schwierigkeiten für Deine Rückkehr. Drei Collegen sind blo[c]kiert. Wir hoffen heute mit den offiziellen Nachrichten nach Bern das Nötige zu erreichen, dass auf diplomatischem Wege die Überschreitung der Grenze möglich gemacht wird. Also etwas Geduld. Es wird nicht lange gehen. Der letzte Zug kam von der Grenze mit französischem Personal. Heute Nacht kommt wieder einer, und wir hoffen, dass wahrscheinlich Oberst Bohny persönlich mit nach Lyon kommen kann, und dass wir ihm mündlich unsere dringenden Anliegen mitteilen können.

Ich habe reichlich genug von hier. Es beginnt ganz entsetzlich öde zu werden, u. fein war es nie.

Dein Besuch war der glänzende Punkt in der ganzen Unternehmung, u. ich habe eine unendliche Sehnsucht, Dich wiederzusehen, Dich zu lieben u. mit Dir zu leben. Ich bin hier meist müde u. schlafe unendlich viel.

Heute habe ich hier im Museum, trotz Hitze u. muffiger Luft, mit einigem Vergnügen eine Anzahl sehr schöner[,] moderner Franzosen zu sehen bekommen.

Addio, cara mia. Ich freue mich unendlich auf Dich und die Rosen. Grüsse die Kindlein herzlich. Grüsse auch Mutter, u. wer nach mir fragt. Ich sehne mich so sehr nach frischer Luft u. Grün, nach der heissen Stadt.

Wir waren kürzlich in Vienne. Heisse, schmutzige Stadt, mit einigen schönen römischen Bauten. Ich küsse u. umarme Dich herzlich u. danke für Deine letzten guten Nachrichten.

Es könnte nichts schaden, wenn Du beim Internierungsbureau, Schänzlistr. ca. 50, Bern, einmal telephonisch vorstellig würdest, u. sagen, dass man mich zuhause dringend benötigt.

Dein treuer

Franz.

Oberst Karl Bohny (1856-1928) war Chefarzt des Roten Kreuzes. Zusammen mit seiner Frau, Marie Bohny-Pertsch, leitete er die Organisation von Transportzügen für die Repatriierung von Gefangenen und Verletzten der verschiedenen Kriegsparteien, vgl. https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/die-repatriierung-verletzter-auslaendischer-soldaten.html

Riklin steckte in Lyon fest. Eigentlich hätte sein Einsatz nach sechs Wochen beendet sein sollen, und er wartete schon lange sehnlichst auf Ablösung. In einem wegen der Zensur französisch verfassten Brief vom 13. Juni 1918 berichtete er seiner Frau, dass sein Nachfolger, der am 10. Juni hätte eintreffen sollen, wegen der geschlossenen Grenzen nicht nach Frankreich einreisen könne. Ausserdem beklagte er sich über seinen Chef, Lt.Col. Breiter. Ihm mangle es an Initiative und Fähigkeit im Umgang mit einer solch speziellen Situation. Les chemins administratifs sont malheureusement un peu longues. Autrement je suis en bonne santé, mais très peu enchanté de la situation. Je ne retournerai jamais à Lyon sous pareilles circonstances. In einer zweiten, kurzen Notiz vom gleichen Tag heisst es, er habe endlich die Erlaubnis erhalten, in ein oder zwei Tagen die Grenze zu überschreiten. Dies scheint aber doch nicht geklappt zu haben, ist doch ein weiterer Brief vom 18. Juni 1918 erhalten: Me voilà encore à Lyon. J’attends le permis pour rentrer – depuis une semaine. J’espère que cette Autorisation arrivera enfin, à peu près demain ou après demain. Inutile de de raconter mes réflexions et les détails des démarches faites à ce sujet. Tu l’entendras après mon retour. Demande encore une fois à Berne. Nous [statt: Nos] moyens de communications [sic] sont très restraints. Je n’ai pas de tes nouvelles depuis 8 à 10 jours.

Offenbar hatte er die Erlaubnis schliesslich doch noch erhalten. Der nächste Brief der erhaltenen Ehekorrespondenz ist einen guten Monat später datiert mit: Küsnacht, 15.7.18. Dieses Schreiben «reiste» ins Toggenburg, wo seine Familie Sommerferien verbrachte. Riklin selber versuchte, wieder ein ziviles Leben zu führen, Patienten zu behandeln und zu Hause zum Rechten zu sehen. Für die psychiatrischen Dienste in Solothurn, deren Betrieb in diesen Tagen durch die Spanische Grippe stark eingeschränkt war, erstellte er wöchentlich Gutachten zu Patienten.  Daneben beanspruchte die Gemeinde Küsnacht, wie einem weiteren Brief vom 20. Juli 1918 zu entnehmen ist, seine Dienste bei der Lebensmittelinspektion und bei der damals so genannten Kostkinderkontrolle (Kontrolle von Kindern, die in Privatfamilien fremdplatziert waren).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin, Korrespondenz)

Lyon um 1918

Montag, 13. Mai 1918: Nachrichten aus Lyon mit Vorboten der Grippe

Der Psychiater Franz Beda Riklin weilte immer noch in Lyon (vgl. Beitrag zum 7. Mai 1918). Alle zwei bis drei Tage verschickte er einen Brief an seine Ehefrau, zwischendurch auch Ansichtskarten mit teils sehr knappem Inhalt. So hiess es auf einer Karte vom 8. Mai 1918: Bloqué. Vais bien. Mille salut. Franz. Einen Tag später war er guter Hoffnung, bald zurückkehren zu können, weil ein Nachfolger am kommenden Tag eintreffen sollte. Von einem konkreten Rückkehrdatum war in der folgenden Korrespondenz jedoch keine Rede mehr:

Lyon, 10.5.18.

Liebste Frau!

Morgen früh 8 Uhr soll endlich ein Austauschzug ankommen, u. nachmittags auf dem Rückweg in die Schweiz soll dieser Brief mitgehen. Am liebsten käme ich selber mit; denn die Herrlichkeiten u. Emotionen hier sind nicht übertrieben. Eine etwas meridionale Stadt, ohne die Schönheiten von Florenz. Immerhin schöne Parke [sic] u. Plätze. Bisher hatten wir nur zwei Sitzungstage. Seither müssen wir wegen des mangelnden disponiblen Unterkunftraums warten, bis wieder einige hundert Mann abgefahren sind.

Gestern war ich krank, hatte Fieber, Kopf- & Gliederschmerzen, etwas Bronchialkatarrh, u. dazu eine recht öde, gottverlassene Stimmung. Heute ists [sic] schon viel besser; ich habe gestern u. heute möglichst viel im Bett gelegen u. es mir sonst bequem gemacht. Also schon wieder ziemlich gesund. Natürlich konnte ich da in der freien Zeit nichts leisten.

Im Theater hörten wir statt des angesagten Cyrano den Aiglon, immerhin sehr gut gespielt. Die Kameraden sind sehr ordlechi [sich, Schweizerdeutsch für «sehr ordentliche»]; aber gar nicht interessant.*) [Einschub am Rand: *)u. man muss mit ihnen in einem schweizerdeutschfranzösisch conversi[e]ren, dass es einem im Ohr weh tut.] Zu essen bekomme ich viel, mit reichlich Olivenöl.

Wenn man erschöpft ist, so kommt gleich die Traurigkeit u. man meint, überhaupt nichts mehr zu sein u. tun zu können. Aber die Influenza war viel Schuld daran. Wenn’s nur Euch gut geht, lieber Schatz. Und Du mich lieb hast. Das Leben der Kleinigkeiten sieht man hier so drückend-überwältigend, besonders durch die Complication des Kriegs.

Sonntag fahren wir nach St-Pierre …?, 50 km. nach Süden, zu einem schweizer. Fabrikbesitzer, einem Herrn Hegetschwiler. Hoffentlich ist’s schön. Und nach Avignon möchte ich unbedingt für 2 Tage, zur Compensation.

Das Hotel ist recht, natürlich lärmt es sehr auf der Strasse, aber man gewöhnt sich.

Vielleicht kann Dir Dr. [?] Häberlin noch Auskunft geben, wie man rationell Briefe spedi[e]rt. Ich freu  mich sehr auf Nachrichten. Das Buch von Barbusse «Le feu» ist sehr gut geschrieben; Schützengrabenleben; sehr wahr, reich in der Beobachtung, viel reicher als «Lettres d’un soldat». Aber man hat doch bald genug Kriegsliteratur.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, u. hab Dich lieb. Grüsse u. küsse die Kindlein.

Dein treuer

Franz.

Nach über einer Woche Aufenthalt in Lyon erhielt er erstmals Post von seiner Frau:

Lyon, 13. Mai 1918.

Allerliebste Frau!

Soeben habe ich Deinen ersten lb. Brief erhalten u. bin sehr froh darüber, zu sehen, dass man sich wenigstens berichten kann, u. froh etwas von Dir zu haben. Hier ist ja alles recht u. gut, aber eigentlich langweilig; es erinnert zu sehr an frühere Dienste; interessant ist nicht viel an der ganzen Sache, u. im Herumreisen ist man sehr gehemmt, obwohl (ich möchte fast leider sagen) Zeit genug da wäre.

Vorgestern habe ich mir die Ankunft eines Zuges mit rapatriirten [sic] Internierten angesehen; grosse Zeremonie mit Anwesenheit des kommandi[e]renden Generals von Lyon, Kavallerie, viel Clairons, grosse Rede u.s.f. Die Heimkehrenden u. wa  man von ein paar anwesenden Angehörigen sehen konnte, waren sehr emotioniert [sic]. Ich habe den Kameraden einen Brief für Dich mitgegeben.

Hier sind viele italienische Soldaten. Es sind die, welche uns durchschnittlich am höflichsten grüssen. Ob es ist[,] weil sie unsere Uniform kennen oder weil sie sie sie gerade nicht  kennen? Item. Es sind die freundlichsten.

Heute Nacht kommt ein Austauschzug an u. kehrt mit gewechselter Fracht wieder zurück. Den Brief für Dich gebe ich aber einem Kameraden mit, der sich auf der Durch- & Heimreise befindet.

Der ganze ärztliche Modus der Gefangenenauswahl wird jetzt überholt durch die viel bedeutenderen u. weitern Berner Abmachungen, auf Grund derer gewaltige Zahlen nichtkranker Gefangener ausgewechselt werden kann.

Lieber Schatz, es ist mir nicht sehr wohl hier, eben weill ich weiss, wie Du Dich inzwischen abhundest, u. weil anderes Wichtiges zu tun wäre. Ich gebe heute auch einen Brief an Claparède mit.

Meine «Krankheit» ist vorüber; als Rest bleibt nur noch ein Rifenbart [?] von ziemlicher Ausdehnung. Ein bis zwei Tage war es misslich, besonders die Stimmung. Übrigens hats die andern teilweise auch gepackt; es muss eine Grippeinfection im Hôtel genistet haben.

Einer der Collegen ist ein Dr. Barry, ursprüngl. u. in s. Wesen ein Landschaftler [sic, eigentlich «Landschäftler», d.h. aus  dem Kanton Baselland], war lange Jahre in Vitznau, jetzt zeitweilig Hotelarzt in St.Moritz. Dein Vater war Hausarzt der Familie u. hat ihn auch behandelt.

Sturzenegger ist viel eintöniger als ich mir gedacht habe. Überhaupt ist nicht viel los mit den Herrschaften. Brunner ist noch der beweglichste.

Ja, geh doch ein paar Tage ausruhen irgendwo. Diese Putzerei beängstigt mich wirklich, dazu die ungelöste Hausfrage, u. die Beobachtung, dass Dir der Auszug auch schwer fällt. Aber wir wollen mutig sein. Und ich sage Dir, wir leben doch ein interessanteres Leben als viele, u. reicher. Ich will alles herausschlagen, was ich aus mir herausholen kann, u. wir wollen durchkommen, so oder so.

Barbusse «Le feu» ist eigentlich doch furchtbar; d.h. der Krieg ist furchtbar, grauenhaft in seinem eintönigen Dreck u. Zerstörung. Und ich habe für lange genug von der Kriegsliteratur.

Bald geht der Zug ab, und ich muss schliessen. Es ist nicht weit nach Hause, u. doch gehen sehnsüchtige Wünsche mit diesem Brieflein. Ich hoffe, es gehe alles gut, u. Du tragest etwas Sorge für Dich.

Schreibe mir ein paar Warenpreise auf für Wolle, Seife u. ähnl., damit ich weiss, ob ich Dir hier kaufen soll. (10 [Zeichen für: Pfund] Marseillerseife kosten hier z.B. ca 14 Schweizerfranken, 1 kg Wolle ca 8 Schweizerfranken).

Tausend herzlichste Küsse u. viele Grüsse an die lieben Kindlein.

Ich komme sobald als möglich, u. jedenfalls allerspätestens nach dem Ablauf von 6 Wochen; es ist nun schon mehr als eine vorüber.

Auf Wiedersehen.

Dein treuer

Franz.

Wieder zwei Tage später schrieb Franz Beda Riklin, die ersten paar Zeilen in schwarzer, danach in blauer Tinte:

Lyon 15.5.18.

Allerliebste Frau!

Es geht wieder ein College in die Schweiz zurück, u. ich gebe ihm ein Brieflein für Dich mit. Von Dir habe ich bisher zwei Briefe bekommen, den ersten direkt, nach 4-5 Tagen, den zweiten mit dem Austauschzug am 2. Tage nach Deinem Datum. Ich bin wirklich etwas in Sorge wegen Deiner Gesundheit u. möchte Dich sehr bitten, Dich lieber zu schonen. Ich habe 5 kg Marseillerseife gekauft, zu frs 18.75 cts französ. Geld, macht etwa 14 frs Schweizergeld. Soll ich Wolle kaufen, das [Zeichen für Pfund] (od kg?) zwischen 7 u. 11 frs französ Geld (5 bis 8 frs Schweizergeld)?

Das Leben hier ist wirklich nicht sehr interessant. Eine grosse Krämerstadt. Und die Collegen hier bieten furchtbar wenig. Mon dieu! Einer der letzthin zurückkam, ein Welscher, war wenigstens auf dem Himalaja, kurz vor dem Herzog der Abruzzen, u. wusste mir sehr viel Interessantes davon zu berichten.

Die Arbeit ist natürlich monoton. Mit den französ. Kameraden ist auch nicht sehr viel anzufangen. Entweder sind es Militairs, die in ihren Bureaus sehr viel Arbeit erledigen müssen, od. vielbeschäftigte Professoren der Fakultät von hier. Die haben alle zu tun u. sind in ihrem Tramp u. haben keine Zeit. Sonst sind sie alle sehr recht und nett.

Man fühlt doch überall sehr die Mühseligkeiten u. Einschränkungen des Kriegs; alle sind Bestandteile der Maschine, u. wir auch. Man speist vor allem das.

Lyon hat einige interessante Bauten, einige römische Reste, einen schönen Park, u. zwei Flüsse; sonst alles[,] alles Kramläden, Fabriken. Die Läden erinnern an Italien. Es ist alles teuer. Unsere Verpflegung täglich kommt, abgesehen vom Zimmer, auf etwa 20 frs. pro Kopf, ohne etwas ganz Ausserordentliches zu bieten, da auch Einschränkungen sind.

So freue ich mich vor allem auf die Rückkehr. Vielleicht kann ich noch, mit spez. Erlaubnissen, noch etwas von der Landschaft sehen.

Im Strassenbild ist sehr viel Militair [sic] aller Art, darunter ein starkes Kontingent Italiener, dann viel Krüppel und Spitäler, indem Lyon ein besonderes Spitalzentrum ist. Es geht alles etwas bescheidener zu als in England.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, auch für die Kindlein.

Von Deinem treuen

Franz.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter; Beitragsbild: Ansichtskarte, verschickt am 16.06.1918)

Adresse

Dienstag, 7. Mai 1918: Man isst gut, ohne Zucker.

Der Psychiater Franz Beda Riklin (vgl. diverse Beiträge zu ihm im Jahr 1917) war nach wie vor im Dienst und erneut im Ausland. Nachdem er im Herbst 1917 mit einer Schweizer Ärztemission nach England geschickt worden war, weilte er im Frühling 1918 als Mitglied der Commission Franco-Suisse pour l’internement des prisonniers de Guerre in Lyon und half bei der Organisation zum Austausch von Kriegsgefangenen mit. Diese Transporte wurden per Eisenbahn über die Schweiz abgewickelt, was ihm Gelegenheit gab, jeweils einen Brief oder eine Karte an seine Frau mitzuschicken.

Riklin war auf der Suche nach einer Neuordnung seiner Lebenssituation, die ihm mehr Zeit für seine künstlerischen Ambitionen als Maler liesse. In seiner Korrespondenz an seine Frau taucht deshalb immer wieder die Wohnungsfrage auf.

Am 6. Mai 1918 schrieb er:

Lyon, 6. Mai 1918

Hotel Royal, Place Bellecour

Allerliebste Frau!

Ich benutze die Gelegenheit, dem Kommandanten des Austauschzuges, der heute nacht 10h mit Verwundeten von Konstanz kommt u. nachts zwei Uhr wieder mit deutscher Fracht in die Schweiz zurückfährt, um Dir Nachrichten von mir zu geben. Wir sind gut gereist u. gut aufgehoben; der Dienst ist nicht zu streng, sodass reichlich zu anderm, u. vielleicht auch zu nützlicher Arbeit Gelegenheit ist. Es regnet in Strömen. Von Schweizerärzten sind anwesend: Oberst Sturzenegger v. Zch [Zürich], Major Brunner v. Küsnacht, ein Oberlt [Oberleutnant] Berry (?) [sic] von Basel u. ich. Die Franzosen sind sehr nett. Man isst gut, ohne Zucker. Brotkarte im Hotel keine. Fettsaucen reichlich. (Die Fettkarte musste ich auch abgeben).

Claparède, in Genf, war leider abwesend, sei gespannt auf meine Rückkehr. Genf wäre entschieden zu machen. Ich sah eine Wohnung v. 6 teils grossen Zimmern, komfortabel, am Quai; für 1600 frs [sic]! Etwas auf dem Lande kann man noch billiger wohnen, mit Trams überall. Steuern niedriger als Zürich. Bitte hetze dich in der Zwischenzeit ja nicht zuviel ab; es wird sich alles machen.

Es wird etwas schwieriger sein, von Dir Nachricht zu bekommen als von mir z.Z. Vielleicht kannst Du beim militär. Bahnhofkommando Zürich erfahren, wann Austauschzüge fahren u. die Briefe zum Mitgeben deponi[e]ren.

Adr. Commission franco.suisse de rapatriement, Cpt Riklin, Hôtel Royal, Lyon, Place Bellecour.

Sonst probi[e]re direkt zu schreiben.

Man bekommt hier Rauchwerk und Streichhölzer nicht. Das wird Dich freuen! Sonst scheint Lyon eine comfortable [sic], ruhige Stadt zu sein.

Ich schliesse, da ich zu einer Untersuchungssitzung muss, mit herzlichsten Grüssen an Dich und die Kinder.

Dein treuer

Franz.

Einen Tag später fand er erneut Gelegenheit, ein Briefchen abzusenden. Dieses erreichte Küsnacht, den Wohnort der Riklins, zwei Tage später, wie dem Poststempel zu entnehmen ist:

Lyon, 7.5.18.

Allerliebster Schatz!

Der bewusste Sanitätszug ist heute noch nicht erschienen; wir geben die Briefschaften einem heimreisenden Collegen mit. Da Oberstlt [Oberstleutnant] Breiter in Andelfingen nächstdem [sic] nachkommt, schicke auf alle Fälle Nachrichten durch ihn, Du kannst ihm einfach verschlossene Briefe zuschicken mit der Bitte[,] sie mitzunehmen. Du kannst ihm auch telephoni[e]ren.

Ich hatte heute frei, gestern etwas Arbeit; ich habe heute die Stadt u. Umgebung besehen. Wenn ich nur die Preise wüsste f. Wolle, Leinen etc, so würde ich hier vom billigern kaufen. Vielleicht lasse ich ein gutes Civilkleid machen, für 175 frs [sic]! französisch = ca 130 frs. schweizer [sic] Geld; ich will zuerst sehen, was die andern bekommen. Tabak u. Zündhölzer gibt es hier nicht!

[Randnotiz und Schluss:] Ich lese Barbusse «Le feu». Gut! U. sonst habe ich etwas Heimweh. Herzlichste Grüsse v. D. tr. Franz.

«Le Feu» (Das Feuer)  war ein autobiographisch geprägter Roman des französischen Politikers und Schriftstellers Henri Barbusse (1873-1935). Er verarbeitete darin eigene Erfahrungen als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg. Das Werk wurde bereits im Erscheinungsjahr 1916 mit dem Prix Goncourt, einem renommierten Literaturpreis, ausgezeichnet und später in 60 Sprachen übersetzt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Feuer_(Barbusse) ).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W (Korrespondenz Franz Beda Riklin, Brief und Karte vom 06.05.1917 und vom 07.05.1917)

Socken für den Schützengraben

Mittwoch, 1. Mai 1918 – Socken für den Schützengraben

Soldaten in den Schützengräben litten oft an nassen Füssen, was zu Hautirritationen und Infektionen führen konnte. Die zum Wennerschen Firmenkomplex in Süditalien gehörenden Cotonifici Riuniti versuchten, mit ihren Produkten Abhilfe zu leisten.

Fritz Wenner war geschäftlich unterwegs und schrieb an seine Ehefrau auf dieser undatierten Ansichtskarte:

Liebe Maria

Wie ich vorausgesehen habe[,] wird die Sache hier noch einige Zeit länger dauern, als man ursprünglich glaubte, sodass ich vorläufig hier zurückgehalten bin. Was unsere Reise nach Mailand betrifft, so ist es[,] glaube ich[,] besser sie ohne weiteres um eine Woche zu verschieben. Das wird auch Dir besser passen, indem wir den fatalen 4. Mai in Fratte erledigen werden! – Ich würde Dir immerhin raten, wenn Du nach Mail. schreibst[,] das Datum unserer Reise nicht allzusehe zu präzisieren, denn nichts ist sicher auf dieser Welt! Ich hoffe Euch alle wohl und sende Euch Lieben allen meine herzlichsten Grüsse

Dein Fritz.

Seine Frau antwortete:

Fratte, den 1-5-18.

Mein lieber Fritz!

Vielen Dank für Deine l. Zeilen, die mir ja leider sagten[,] dass Du nicht kämest. So entschloss sich Silvia [Schwester von Fritz Wenner][,] wieder nach Neapel zurückzukehren. Sie hofft sehr[,] morgen reisen zu können[,] aber sie bittet keine banozzella [?] an die Bahn zu senden, da sie vielleicht noch im letzten Moment an reisen [am Reisen] verhindert werden könnte.

Hier geht es gut. Dimy [eigentlich Diethelm, Sohn von Fritz und Maria Wenner] ist auch wohler. De Nobili [Arzt] schrieb mir gestern u. verschrieb ihm Lacteol[.] Willst Du bitte noch eine Schachtel davon mitbringen? Ich lege die Ricetta v. D. N. bei. – Ich schrieb auch gleich einen Expressbrief nach Mailand u. teilte ihnen mit[,] uns erst nächste Woche zu erwarten.

Hoffentlich hast Du nicht zu viele tenature [?] u. kommen die Sachen bald ins Klappen.

Soll ich De Nobili für seinen Br. danken? oder [sic] erst abwarten[,] bis Dimy gesund sei, wie er prophezeite.

Eben brachte auch der Bauer die Spargeln u. Biscotto u danke ich Dir dafür auch für die anderen Biscotti[,] die Du sandtest.

Von Mailand habe ich gar keine Berichte mehr. Wahrscheinlich erwarteten sie uns täglich. Hoffentlich geht es der Mammina besser!!!

Wie leid tun mir die Berichte über Tante Jeanne. Bitte sage dem l. Mütterli[,] wie leid es mir tut.

Ich lasse das l. Mütterli herzl. von uns allen grüssen.

Dich küssen die Kinderlein u. Dein treues

Frauchen.

Weitere Beiträge zu Fritz und Maria Wenner-Andreae: 12. und 24. Januar 1916, 7. März 1917, 20. und 21. April 1917.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/128.1 (Korrespondenz zwischen Maria und Fritz Wenner-Andreae, Karte und Brief vom 01.05.1918)