Freitag, 1. März 1918 – Erziehung von Galgenstricken

Emil Nüesch (1877-1959), Lehrer in St.Gallen, berichtete Im Rorschacher Neujahrsblatt 1918 unter dem Titel Galgenstricke über die Erziehung heranwachsender Knaben:

Der Vater meines Schülers Walter Baldauf spricht vor meiner Schultüre vor, um sich, wie er sich selber ausdrückt, nach seinem «Galgenstricke» zu erkundigen. Ja, es ist ein eigenes, nicht uninteressantes Kapitel, das Kapitel der Galgenstricke. –

Wo es sich um Spitzbubenstücklein, ums Lärmen auf den Gassen, ums Radaus[s]chlagen und Raufen handelt, da ist der allzeit unternehmende Bursche aktiv beteiligt. Kriegsspiele anordnen, polternd und lärmend durch die Gassen toben und dabei behäbigen Passanten fast den Bauch einrennen, allerlei verwegene Bubenstreiche inszenieren, Kehrichtgefässe übers Trottoir werfen, warnende und schimpfende Frauen mit Grimassen und foppenden Gelächtern ärgern, – das ist so ganz seine Sache.

Das Stillsitzen in der Schule fällt ihm schwer. Für die meisten Schulfächer bekundet er wenig Interesse und auch wenig Verständnis. Während der Sprachlehre gähnt er, und das Bruchrechnen scheint auch gar nicht nach seinem Geschmacke zu sein. –

Wer ihn nicht besser kennt, wird ihn nach dem Massstabe der positiven Leistungen in den obligatorischen Schulfächern zu den Dummen zählen. Aber der Kerl ist durchaus nicht dumm! Er lässt sich für die vaterländische Geschichte begeistern wie kein zweiter. Wenn von den Heldentaten der Eidgenossen die Rede ist, dann sieht er mich mit gorssen Augen an, stützt die Ellbogen auf den Tisch, hält die Fäuste an die Schläfen und hört mit gespanntester Aufmerksamkeit zu. Dass sich die Schweiz im gegenwärtigen Kriege nicht auch zum Dreinhauen entschliessen kann, will er nicht begreifen.

Kein Schüler bringt mir so viele Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge in die Schule wie er. Für die Natur interessiert sich der junge Baldauf lebhaft. Jüngst sagte er mir, er wisse alle Krähennester im Kapfwalde. Wenn ich mit den Schülern spazieren gehe, muss ich ihm besondere Aufmerksamkeit schenken, denn er hat immer etwas zu fragen und will jeden Felsen erklettern.

Trotz seines rohen Benehmens entbehrt er keineswegs der Zärtlichkeit. Die harte Schale birgt einen weichen Kern. Gefühlswarme Erzählungen machen sichtlichen Eindruck auf ihn. als er vor einigen Wochen wegen eines Spitzbubenstreiches in der Patsche sass, liess er eine empfindliche Strafe ruhig über sich ergehen. Ich erfuhr erst nachträglich durch Unbeteiligte, dass bei jenem Streiche drei Klassengenossen mitschuldig waren. Seine Freundestreue gebot ihm, dies zu verschweigen und die Strafe mit heroischem Mute allein zu ertragen. In der Pause teilt er nicht selten sein Stück Brot mit den Kameraden. Im letzten Jahrmarktsbericht schrieb er, er habe 25 Rappen Taschengeld zur Verfügung gehabt. Für 20 Rp. habe er ein rotes Teufelchen an einer langen Stecknadel gekauft, um es beim Räuberlis machen als Abzeichen des Räuberhauptmanns auf dem Hute zu tragen, und 5 Rappen habe er einem invaliden Bettler gegeben. Ein Mitschüler bestätigte die Tatsache.

Im Schulrechnen ist er unbeholfen. Aber draussen auf dem Spielplatze beherrscht er alle und weiss als schlau berechnender Kopf seine Vorteile zu wahren und seine Spielgefährten zu übertölpeln. Dort ist er erfinderisch und ein geriebener Gauner. Es ist auch bezeichnend, das seine Spielgenossen ihn beim Räuber- und Poli-Spiel regelmässig zum Räuberhauptmann wählen. Da kennt er die Schliche und leistet Hervorragendes. Ein Dummer taugt nicht zum Räuberhauptmann!

Galgenstrick hat ihn sein Vater genannt. – Was soll das heissen? – Walter Balddauf ist ein temperamentvolles, lebenssprühendes, urwüchsig gesundes Naturkind von feuriger, lebhafter Phantasie und triebsgesunder Impulsivität, ein unbändiger Springinsfeld, ein munteres Füllen, das freudig wiehernd über die grüne Weide rennt und gelegentlich im Uebermute ausschlägt, ein Widerspenstiger, dem Ordnung und Sitte oft lästig erscheinen, der Schulweisheit und Schulordnung als unnötigen Ballast empfindet, dagegen mit schöpferischer Vorstellungskraft und viel willensstarker Initiative sich in die Romantik ungezügelten Gaunerlebens hineinphantasiert und dabei glücklich ist.

Selbstverständlich kann man ihn nicht frei schalten und walten lassen. Aber man muss den Galgenstrick zu verstehen suchen, sonst tut man ihm unrecht, schwer unrecht! Das feurige, junge Triebleben, die plastisch darstellende Phantasie, der impulsive Entfaltungsdrang, die Unsumme jugendfrischer Gestaltungskraft, die machen in ihrer Unbändigkeit und inneren, sittenpolizeilichen Zensurfreiheit das Wesen des Galgenstrickes aus. Galgenstricke zu erziehen ist eine Kunst, die ferne von jeglicher Schablone in verständnisvoller Individualisierung sich des Zöglings liebevoll annimmt und in zielbewusster, feiner Führung der Libido den jungen, werdenden Menschen seinen persönlichen Anlagen gemäss erzieht und veredelt. –

Wer da jeden Streich jugendlichen Mutwillens als den Ausfluss böswilliger Ueberlegung oder verdorbenenen Gemütes betrachten wollte und weiter nichts zu tun weiss, als mit Jammern und Schimpfen und Drohen und Schlagen zu «bändigen» und zu «züchtigen», der ist psychologisch falsch orientiert und versteht sich auf den erzieherischen Kompass schlecht. Besinnen wir uns darauf, der flammenden Lebenskraft und dem starken Entfaltungsdrange zweckmässige Betätigungs- und Entfaltungsgelegenheiten zu bieten! Nicht im «Bändigen» und «Züchtigen», Hemmen und Lähmen, sondern im Führen und Richtung geben liegt positiver Erziehungswert.

Ich jammere nicht über einen Galgenstrick,, so gerne ihn mancher verärgerte, ungeschickte Erzieher in der Perspektive des Rütliliedes – «Von Ferne sei herzlich gegrüsset» – betrachten möchte, denn ich weiss, dass Galgenstricke meistens tüchtiges, geeignetes Holz zu guten Pfeifen liefern. Der Fehler liegt nicht immer am Holz, er kann auch am Schnitzler liegen. Aber klagen möchte ich über jene Eltern und Erzieher, deren Erziehungskunst sich in langweiliger, gefährlich einschüchternder, moralingesättigter Prügeltaktik erschöpft. Es tut einem in der Seele weh, beobachten zu müssen, wie so viele Eltern in ausgesprochenem Missverständnis der kindlichen Seele und jugendfröhlichen Gebahrens Disziplinarvergehen als persönliche Beleidigungen auffassen, sich ärgern und rächen. Sie bekunden damit ihr erzieherisches Unvermögen und ihre Unfähigkeit, in aller Ruhe und Gelassenheit von der hohen Warte eines überlegenen geistigen Führers aus zielbewusst die jugendliche Libido zu lenken und zu veredeln.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, P 744 (Rorschacher Neujahrsblatt 1918, S. 21f.; zusätzliche Absätze in den Text eingefügt durch Regula Zürcher)

Maiskolben

Mittwoch, 16. Januar 1918 – Ehemaligenbrief: Friedenshoffnungen

Brief eines Ehemaligen des Landerziehungsheims Hof Oberkirch in Kaltbrunn an seine frühere Ausbildungsstätte:

Neuenburg, den 16.I.1918.

An den Hof denke ich hin und wieder, und jedesmal, wenn auf irgend eine Art und Weise auf ihn die Rede kommt und sogar ein Zeichen, wie die Hofzeitung mir zukommt, so treten all die Erinnerungen frisch auf, eine nach der andern, und dann verliert man sich wieder einmal für einige Augenblicke ins Land der Träume. Ich bedaure auch sehr, nicht an den Alt-Höflertag haben kommen zu können, aber mit den heutigen Verbindungen und Kosten ist’s so eine Sache, von einem Samstag abend auf einen Sonntag abend von Neuenburg nach Kaltbrunn zu reisen.

Bei mir wird wahrscheinlich dieses Jahr der Militärdienst kommen, wenn nicht mit dem Frieden das Militär vollständig abgeschafft wird, was nicht unmöglich wäre. Viele reden hier von einem Frieden im Februar oder im März, aber ich kann für den Augenblick noch nicht dran glauben, obwohl niemand nichts sehnlicher sich wünschen mag, al eine Freiden, dass man wieder warm haben und sich quasi satt essen kann. Von diesen Sachen klingen uns die Ohren immer hier. Es ist ein Wimmern und Seufzen in Pensionsmütterchens Gesicht. Manchmal ist’s schwierig, richtig mit den Leuten auszukommen jetzt. Manchmal rumoren die jugendlichen Mägen bedenklich, die Platten sind manchmal gar mager belegt; das Fleisch ist oft stärker als der Geist. Dann gibt’s nachher eine kleine Diskussion auf französisch und man schickt sich wieder drein, l’estomac tranquillisé. – Auf dem Bureau habe ich’s sehr streng, von 8-12 und 1½-6. Dann noch 8 Stunden besondere Fächer in der Woche! Dann bin ich müde am Abend um 10 Uhr und freue mich auf meine Kiste.

Felix Stockar.

Felix Stockar, Jahrgang 1899, war von 1912 bis 1915 Schüler im Hof Oberkirch. Nach Schulaustritt machte er eine Fachausbildung für Seidenfabrikation in Frankreich, Italien und Zürich. Ab ca. 1924 war er im Rohseideneinkauf tätig und wohnte in Schanghai in China.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Landerziehungsheim Hof Oberkirch, Kaltbrunn, Hof-Zeitung, Nr. 12, April 1918, Text; Hof-Zeitung, Nr. 13, Juli 1918, Linoleumschnitt von Paul Tobler, Beitragsbild; Hof-Zeitung, Nr. 40, Juni 1927, Hinweis auf Felix Stockar)

Weihnachten Hof Oberkirch

Samstag, 22. Dezember 1917 – Weihnachtsvorfreude in Hof Oberkirch

Die Schulchronik des reformpädagogisch geführten Landerziehungsheims Hof Oberkirch bei Kaltbrunn vermerkt für den 21. und den 22. Dezember 1917:

21. Dez. 1917. Die Weihnachtsferien vor Augen wurden die Koffern von dem Dachboden heruntergschaf[f]t und ein eifrig freudiges Packen begann. Auch noch Vorbereitungen für die bevorstehende Weihnachtsfeiher [sic] mussten getroffen wergen [sic]. So war denn reger Betrieb.

Mit den 5 Uhr Zügen trafen wie erwartet die wenigen Gäste ein. Vielen Eltern war es involge [sic] schlechter Zugverbindungen verunmöglicht zu kommen. Dem entsprechend feiherten [sic] wir unsere Weihnachten.

Unser Programm enthielt einige Chorgesänge. Auch sangen Fräulein Irmgard Weber sowie Herr Mäder solo. Die Höflermusiker produzierten sich mit [(mit) gestrichen] ihren gut eingeübten Künsten, worunter sich besonders Paul Tobler auszeichnete. Als wohltuende Abwechslung des Programms rezitierte Ernst Schmidheinz eine Weihnachtsgeschichte und Herr Tobler las was passendes vor. Schlicht jedoch stimmungsvoll, wozu der mit Äpfeln und brennenden Kerzen geschmückte Christbaum beitrug, schloss der Abend mit dem Liede

O du fröhliche …

Doch für uns ging der Bummel erst recht los. Mit Höflerappetit macht man sich anden Weihnachtsfras[s], der trotz des Krieges nichts zu wünschen übrig liess. Nur der Rahm blieb aus, er wurde jedoch durch Früchte u. Torte ersetzt.

Wer erbarmte sich nicht der vollen Bäuche, die vor lachen [sic] fast zerplatzten, denn die Giftspritzer hatten ihr erbarmungsloses Handwerk begonnen. Blass, dann immer röter werdend, steht Einer nach dem Andern vorn, umringt von der, vor Schadenfreude jubelnden Menge. Nach dieser Beschehrung wurden noch verschiedene andere gediegene Sachen gebracht[,]  unter anderm [sic] hielt Welti einem [sic] Festrede.

Inzwischen 12 Uhr geworden, gings dann ins Bett.

22. Dez. 17. Trotz des langen aufbleibens [sic] begann schon früh reges Leben. Jeder machte sich reisefertig. Fieberhaft ass man zu Morgen, denn kaum fassbar erschienen die Ferien. Erst im dahienfahrenden [sic] Zuge kann man es richtig erfassen:

«Hurra Ferien»!

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Hofchronik 1915-1921; Beitragsbild: Linolschnitt von Paul Tobler in der Hof-Zeitung, Nr. 9, April 1917)

Kriegsbrot

Donnerstag, 25. Oktober 1917 – Ferienverlängerung wegen Kohlennot

Die Herbstferien in Hof Oberkirch waren um vier Tage verlängert worden – Kohleknappheit führte dazu, dass in diesem Winter die Schulzeit für viele Schülerinnen und Schüler kürzer, resp. die Ferienzeit länger ausfiel: Da, ein Schreiben vom Hof, Ferienverlängerung, 4 Tage, bis am 29. Oktober. Hurra!!! wer wol[l]te sich da nicht freuen?, heisst es in der Schulchronik.

Am 29. Oktober war die Gnadenfrist jedoch abgelaufen, die Schüler wurden in Kaltbrunn erwartet:

20. Oktober 17. Trotz des wiederholt reduzierten Fahrplans rücken die Meisten [sic] mit den 5 Uhrzügen ein. Nur Cathomas, [Carl] Bois de Chaisne [eigentlich Bois de Chesne], Brandenberger, Schoop und Grieder, der zugleich ausgetreten, waren wegen Krankheit verhindert. Auch Kaspar fehlte. Dagegen erschien Alfons Haase, der seinen Abschied vom Hof schon gefeiert mit 2 Brüdern Mario und Erwin Haase. Also mit 3 Haasen wurde der Hof beglückt. [Hinweis: Die Schüler hielten verschiedene Haustiere auf dem Hof, zeitweise sogar ein Reh.]

Niki ist der Abschied vom Mutti besonders schwer gefallen, denn er konnte sich der Tränen nicht enthalten. Viel freudiger rückte Hugo Raichle ein, den[n] er will mit siner Brille eindruckschinden [sic].

In der Versammlung berichtete Herr Tobler über die Einschränkung des Heizens. Denn es wurde dem Hof Kohle zugeteilt, mit welcher er den kommenden Winter durchschlagen muss. Die obersten 2 Stockwerke werden gar nicht geheizt. Ferner das Naturkunde-[,] Blaue- und Mathematikzimmer nicht. Schule wird im Zeichnungs-[,] Studien- und in den beiden Essälen gehalten. Nicht nur dies gab uns der noch immer tobende Krieg zu spüren, sondern 2 der Lehrer[,] Herr Schlegel [Lehrer für Mathematik, Feldmessen und Buchhaltung] und Herr Dr. Rebmann [Lehrer für Latein, Geschichte und Geografie] sind im Dienst.

Lehrer und Schüler des Landerziehungsheims gruben in dieser Zeit in der Umgebung des Hofs auch selber nach Kohle (Bericht dazu im Beitrag zum 4. März 1917). Die nachstehende Foto von Kurt Bäbler wurde in der Hof-Zeitung vom April 1919 mit der Legende Unsere Kohlengräber 1918/19 publiziert:

Kohlengraeber Oberkirch

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Schulchronik 1915-1921; Beitragsbild in: Hof-Zeitung, Nr. 11, Dezember 1917, Linolschnitt mit dem Titel «Kriegsbrot» von Primarschüler Ulrich Schoop; Foto von Kurt Bäbler aus Album «Lehrer und Schüler auf dem Hof Oberkirch»)

Kartoffelersatz

Freitag, 5. Oktober 1917 – Erntefest in Hof Oberkirch

Die Chronik für das Landerziehungsheim Hof Oberkirch vermerkt für den 5. Oktober ein Erntefest. Die Schüler verbrachten den Tag mit einem Ausflug. Im Wald entspann sich eine Tannzapfenschlacht, und später spielte man Räuberlis. Einige suchten auch Pilze, welche die Köchin der Schule abends zubereitete. Sie war auch für die ausserhäusliche Verpflegung an diesem Tag verantwortlich, es gab eine kräftige Knorrsuppe, Käse, Brot und Äpfel. Auch Brombeeren fand man viele.

Vorangegangen waren diesem Erntefest strenge und andauernde Gartenarbeiten während des ganzen Sommers, zu denen man die Schüler angehalten hatte. Ende September konnte der Segen ausgegraben werden:

Das strenge Arbeiten im Grabacker brachte eine reichliche Ernte: Mehr als das Zwölffache der Saatkartoffeln wurde geerntet. Im Ganzen 50 q. [Zentner] Auch der Mais[,] Kabis und Kohl gedieh gut. Wohl den Hauptverdienst haben die Sechser [6. Klasse, entsprach in dieser Schule den Fünfzehnjährigen], die es nicht scheuten, alle Tage früher als die Andern aufzustehen[,] um im Garten zu arbeiten. Als die Verordnung kam, dass die Gemeinde Kaltbrunn die Äcker am Grabacker zur Anpflanzung von Getreide bis 1. Oktober haben müsse, gab’s richtiger Kriegsbetrieb. Die ganze Schule machte sich ans Ernten, und bald war alles eingeheimst.

Die Schüler selber waren nicht immer beglückt ob des täglichen Einsatzes im Garten, insbesondere das Düngen war unbeliebt, wie sie in ihren Aufsätzen festhielten:

Es läutet zur Gartenarbeit. Weil es heute Dienstag ist, muss ich wohl oder übel auch gehen. Aber es ist wenigstens schönes Wetter und ziemlich warm. Wenn ich dann noch eine anständige Arbeit bekomme, so ist es auszuhalten. Unter anständigen Arbeiten verstehe ich solche, die mir gut gefallen, z.B. Spaten, Obst ablesen, Bäume fällen oder gar bei den Nachbarn heuen. Letzteres hat noch eine besonders gute Seite. Man wird dabei herausgefüttert.

Zwischen den Häusern steht Herr Tobler [Direktor] und macht Antreten.

«Wer will nach Uznach?»

«Ich! ich!» rufen viele Stimmen, denn der Auserwählte kann im Vorbeigehen noch schnell zur «Tante» [im Einkaufslädeli]. Der Kriesi darf gehen; er hat ein Velo.

«Du, Kriesi, bing mit 10 Chocoladensäckli.»

«Und mir für einen 20er Zeltli.» Er wird ganz mit Aufträgen überhäuft.

Nun heisst’s «Spaten». Sofort melde ich mich, denn jetzt im Herbst ist das eine der schönsten Arbeiten. Im Frühling ist’s nicht so angenehm, besonders bei ganz trockenem oder regnerischem Wetter; dann gibt es so grosse Klötze.

Wie ich zum Holzschopf gehe, höre ich noch, wie Herr Tobler zu Nänny sagt: «Du kannst mit 2 Kleineren Birnen schütteln.» Natürlich, der bekommt immer die angenehmsten Arbeiten, wenn er nicht im Büro faulenzt. Hinter uns kommt der Kuhn und holt eine Hacke; er muss jäten. Ich wünsche ihm viel Vergnügen, denn das ist meiner Ansicht nach die langweiligste Arbeit. Nur das Himbeerenaufbinden kommt ihm gleich. Während wir arbeiten, kommt mit grossem Gepolter der Huber mit der «Güllkanone» angefahren. Er hat sich geopfert. Niemand ist besonderer Freund dieser Beschäftigung. Herr Mäder kommt mit den Achtern zum Aufräumen.

Schon nach einer halben Stunde sind wir mit dem uns aufgetragenen Stück fertig. Nun sollen wir in den Johannisbeeren spaten. Danke für Obst!

Diesen Sommer hatten wir auch am Morgen Gartenarbeit [anstelle des sonst praktizierten täglichen Frühturnens]. Das war einmal eine Abwechslung; aber schon nach kurzer Zeit hätte ich lieber wieder Turnen gehabt. Nur zum Beerenablesen war ich dabei; viele verschwanden aber in meinem Magen.

Ein anderer schrieb, wie er auch für seine Familie zu Hause Gemüse zog, eine Möglichkeit, welche die Landschule während der Kriegszeiten anbieten konnte: […] Am Allerliebsten arbeite ich aber doch in meinem eigenen Acker, wo ich jedes Pflänzchen kenne. Und dann das Ernten! Das ist besonders schön, das ist gar keine Arbeit mehr, nur noch Vergnügen. Mama findet zwar, sie habe noch nie so teures Gemüse gehabt; doch – das gehört schon nicht mehr hierher. Die Bemerkung zum teuren Gemüse hatte ihren Hintergrund wohl darin, dass der Erntesegen nach Hause geschickt werden musste, vermutlich per Bahn, wodurch Frachtspesen anfielen.

Einige suchten sich vor der Arbeit zu drücken und erfanden verschiedene Strategien: […] Da kommt der Marcel aus dem Haus und murmelt so schnell, dass man es kaum verstehen kann: «Herr Tobler ich abe eine böse Fuss, kann ich Studin macha?» […] Schnell will ich mich noch umziehen. Leider ist es schon zu spät; ich will es probieren und trete in meinen Schulkleidern an. Herr Tobler hats aber schon gesehen und ich muss mich – gern oder ungern – umkleiden. Droben auf der Terrasse steht Hermes um uns zu fuxen, denn er kann ja cheffreien Nachmittag machen. Andere machens viel schlauer; die kommen überhaupt nicht zum Antreten und wenn es Herr Tobler merkt, haben sie immer noch eine gute Ausrede. […] Für Unterhaltung während der Arbeit muss ich nicht sorgen, denn im Garten nebenan arbeitet oder besser faulenzt der C. und verführt einen solchen Lärm, wie sämtliche Wäscherinnen der ganzen Gegend. […] Langsam schleicht die Zeit vorbei und noch langsamer wird meine Arbeit fertig. Ich schleiche in meine Bude. Ich habe herausgefunden, dass es so am vorteilhaftesten ist.

Ein anderer Schüler beschrieb noch weitere Versuche, um die Arbeit herumzukommen: […] Dann hat der Eine wunde Zehen, der Andere einen geschwollenen Finger, dieser an 7 Orten Eissen [Furunkel, Eiteransammlung], oder Latein. Sch. muss um 3 Uhr in die Uebungsstunde und findet es deshalb kaum mehr nötig anzufangen. (Wir wissen aber, dass seine Stunde erst um 4 beginnt – er ist ein Drückeberger.) […]

Die Buben aus den jüngeren Klassen waren ebenfalls nicht immer motiviert und hatten ihre eigenen Strategien:

Am liebsten tu ich Laub oder sonst was zusammenrechen. Man muss dann nicht zuviel schaffen, da man sagen kann, dass der Wind das Laub immer wieder fortnimmt, oder neues Laub vom Baume falle. Dann kann man sich auch sehr gut drücken, indem man sagt, dass man auf den Abort oder einen andern Besen suchen müsse.

Jetzt wird die Arbeit verteilt. Ich durfte zum Apfellesen gehen. Wir sackten dann viele Aepfel ein. Uns wurden oft kleine Steine nachgeworfen, denn wir warfen den andern faule Aepfel an. Das war sehr lustig. Mancher sagt dann, er müsse auf den Abort. Er ging dann schauen[,] wie spät es ist. Das machte ich oft nach. Andere Knaben mussten dann üben. Sie gingen dann eine viertel Stunde vor der Zeit weg, es war ihnen nur deshalb pressant.

Wenn es mir langweilig wirt [sic]. Schaue ich[,] ob nicht ein Lehrer in der Nähe sei[,] wen[n] ich ni[e]mand sehe[,] gehe ich fort und schaue[,] war für Zeit es war[,] wen[n] es etwa halb vier Uhr war[,] dan[n] ging ich zu den Beerensammlern und half[,] bis es leutete [sic] udn füllte meinen Becher und ass es im geheimen. Manchmal ging ich in das Haus und las in einem Buch[,] bis es leutete[.] ich [sic] freute mich immer[,] wenn es Leutete [sic]. (Ohne Korrektur, von einem Kleinen.)

Der Direktor war sich dieser Verhaltensweisen wohl bewusst und beurteilte sie als Erzieher der Knaben folgendermassen: Dieses Grosse [sich der Zeitlage ohne viel Murren und Schimpfen anzupassen] möchten wir auch unsere Jugend spüren lassen. Den Gedanken hat sie, wenn gefragt, wohl erfasst, sie schafft auch willig mit. Dass sie aber dabei im Alltäglichen die sorglose Jugend bleibt, das ist ihr Vorrecht.

Dass Schüler derart frei, vertrauensvoll und offen beschrieben, wie sie versuchten, Anweisungen der Erwachsenen zu umgehen, zeugt vom speziellen Geist, der in diesen reformpädagogischen Landerziehungsheimen herrschte.

Nächster Beitrag: 6. Oktober 1917 (erscheint am 6. Oktober 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Hofchronik 1915-1921 sowie Bericht des Direktors zu «Die Gartenarbeit» und Aufsätze in: Hof-Zeitung, Nr. 11, Dezember 1917: Texte) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 24.03.1917, Abendblatt)

Stallerberg

Samstag, 14. Juli 1917 – Sommer-(Fuss)reisen der Schüler von Hof Oberkirch (Teil 3)

Hier noch der Bericht der dritten Klasse des Landerziehungsheims Hof Oberkirch (vgl. Beiträge vom 12. und 13. Juli), die auf Sommerreise gehen durfte:

Die Siebner!

von Kurt Schürmann

Heute war endlich nach langem Regen der 1ste schöne Tag. Wir traten unsere langersehnte Sommerreise an. Wir fuhren nach Chuhr [sic] mit den Sechsern, wo die beiden Klassen sich trennten. Wir gingen von da nach Churwalden, oberhalb des Churortes [Kurortes] Passug[g] vorbei und kochten in einem Forste ab. Wir gingen nun über die Lenzerheide an den kleinen Lenzerheidsee. Dort badeten wir. Dann ginge[n wir] durch das Tal der Albula nach Tiefencastel[.] Hier verlor der Detectiv [sic] seine Feldflasche. In Tiefencastel suchten wir ein Heulager. Dann gab es ein Café complet. Alles war fröhlich, nur der Detectiv konnte [sich] nicht über den Verlust seiner Feldflasche trösten[.]

Um 6 Uhr standen wir wieder auf. Dann assen wir im Hôtel Julia. Alsdann gingen wir die Julierstrasse hinauf und durch das Tal der Julia. Hinter dem Dorfchen [sic] Mühlen kochten wir ab. In Bivio übernachteten wir in Betten. Wir gingen am andern Morgen über den Pass des Stallerberges. Nun ging es schleunigst in das Avers hinunter. Dort kochten wir ab und gingen nach Andeer. Da hier alle Gasthöfe mit Militär überladen waren, gingen wir bis nach Zillis und übernachteten. hier.

Die Oberkirchler waren auf der 1895 erbauten sogenannten Alten Averser Strasse unterwegs, die auch heute wieder «bewandert» werden kann (vgl. www.aast.ch).

Die heutige befahrbare Strasse von Juf nach Andeer ist mehr als 27 km lang, der Höhenunterschied allein auf dieser Strecke beträgt mehr als 1000 m. Von Andeer nach Zillis sind es weitere 4 km, d.h. nach dem Gewaltsmarsch vorher von Bivio her waren die Knaben bestimmt noch eine weitere Stunde unterwegs.

Insgesamt hatten die Fünfzehnjährigen und ihr Lehrer auf der Tour von Bivio nach Zillis nicht nur eine bemerkenswerte Anzahl Kilometer, sondern auch etliche Höhenmeter zurückgelegt: Bivio liegt auf 1768 m ü.M., der Stallerberg auf 2581 m ü.M., Juf zuhinterst im Avers auf 2126 m ü.M., Andeer auf 982 m ü.M. und schliesslich Zillis auf 945 m ü.M. Das bedeutet (ohne allfällige Gegensteigungen) 812 m aufwärts und 1636 m abwärts, insgesamt 2448 m Höhendifferenz.

Am andern Tag war das Wetter schlechter. Ein Teil von uns besah mit Herrn Mäder die Kirche von Zillis, die viele Altertümer enthält. Gegen ½ 9 Uhr brachen wir nach einem “zünftigen Café complet” auf, und gingen durch die romantische Via mala[.]

Als wir in T[h]usis ankamen, regnete es stark. Wir fuhren, ohne das Städtchen angesehen zu haben fort nach Chur und von hier auf den Hof.

Carl Mäder war Lehrer für Deutsch, Geschichte und Gesang in Hof Oberkirch.

Paul Schetty

Der Chronist, Paul Schetty, schloss seine Berichte über die Sommerreisen mit folgenden Worten:

Nun ist also schon wieder ein Trimester vorbei. Auch gehen einige liebe Kameraden von uns weg. Es sind Hans Hinnen [?] Alfons Haase und Annaud [?] de Frey.

Ich wünsche ihnen eim Nahmen [sic] aller recht viel Freude und Erfolge im weitern Leben.

Paul Schetty.

Weder unterwegs noch auf dem Stallerberg konnte man sich 1917 an den heute geläufigen Wanderwegweisern orientieren. Die Schweizer Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege SAW entstand erst 1934, legte aber bereits damals die einheitliche Signalisation mit den gelben Tafeln und der schwarzen Schrift fest, vgl. www.wandern.ch

Nächster Beitrag: 16. Juli 1917 (erscheint am 16. Juli 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Hofchronik 1915-1921, Text; Foto von Paul Schetty aus dem Album «Schüler und Lehrer»); Foto des Wegweisers auf dem Stallerberg: Regula Zürcher, Juli 2016

Oberkirch Sechser 1917

Freitag, 13. Juli 1917 – Sommer-(Fuss)reisen der Schüler von Hof Oberkirch (Teil 2)

Nachdem im gestrigen Beitrag die Jüngsten, die auf Reise gehen durften, berichtet hatten, folgt heute die Erzählung der Ältesten. Sirup und Alpenklübler gehörten offenbar zu den Höhepunkten für die etwa sechzehnjährigen Schüler aus der zweitobersten Klasse der Schule (vgl. Beitragsbild):

Die Sechser.

Ihr kennt sicher alle die unruhige Erwartung am Abend vor jedem Ereignis das kommen soll. Ja, so war es auch am Abend vor der diesjährigen Sommerreise. Fast konnte an nicht einschlafen. Am Morgen standen wir frühe auf, den[n] schon um 7 Uhr ging der Zug von Benken ab. Dort stiegen auch die Siebner ein. Beide Klassen fuhren bis nach Chur. Dort trennten wir uns, und wir fuhren mit dem “kleinen Bähnchen” [Rhätische Bahn] nach Disentis. Schon in Chur bekamen wir einen Syrup [sic] und Käse. Man hörte Stimmen, Herr Tobler habe heute einen “ganz Gueten”. In Diesentis [sic] gingen wir auf der Pass[s]trasse nach St.Maria. Es war eine 5stündige Tour. Manchen schien der Luckmanier [sic] länger als sie gedacht hatten. Hier blieben wir nun 3 Nächte. Hat einer von Euch schon in St[.]Maria gelebt für einige Zeit? Nein, das ist eine sehr lustige Pinte, dieses Hospitz. Wir bekamen “Kaffee complet”. Einfach prima! Nur ein wenig spät kam er. Doch auf die letzten Tage haben wir auch diesem Graubündner Übelstand abgeholfen. Wir bestellten unser Essen regelmässig 1 bis 1 ½ Stunden zu früh, und dann kam es etwa zur rechten Zeit. Fluchte man, so sagten die romanischen Leute: “In eine Augenblick.” Immer mit dem gleichen Gesicht schauten sie uns an, ob wir lachten oder fluchten.

Ja, also wir schliefen hier in der ersten Nacht. Wir hatten ein gutes Heulager. Am 2ten Tag gingen wir auf den Scopie [Scopi]. Eine schöne Aussicht erfreute Alle [sic]. Es war 5 Stunden hinauf, die ersten waren in einer Stunde schon wieder unten.

Dann lies[s]en wir noch ein wenig das Kalb los. Zum Essen gab es Spag[h]etti mit – – Gaiskäs! Ihr hättet den Kuenzli sehen sollen, wie er “gefuschtet” hat, als er bemerkte, das[s] e skein Kuhkäse war. Natürlich wurde seine neuste Schwäche sofort gepackt und auf der ganzen Reise ausgenützt.

Nachher gabs [sic] es einen Syrup. Ja, es musste doch wa[h]r sein, das[s] Herr Tobler einen “guten” auf der Reise hatte.

Am 3ten Tag gingen wir an den Ritomsee. Das Wetter war schon nicht mehr ganz bock, aber richtig verregnet wurden wir nicht. Diese Tour füllte den ganzen Tag aus. Zum Abendessen gab es Schaffleisch. Dann verzogen wir uns aufs Heu. Am nächsten Tag war das Wetter ganz bedenklich. Eigentlich wollten wir über den Rondadurapass, aber so mussten wir wieder die Lukmanierstrasse hinunter und wurden traurig verschifft [verregnet.]

In einem ganz kleinen dunkeln und stinkigen Kuhstall mussten wir unterstehen. Dann aber besserte sich der Himmel, und die Sonne kam wieder hervor. Wir gingen nun nach Sedrun und Tschamut. Hier shliefen wir in Betten. Wir hatten es redlich verdient, denn den ganzen Tag waren wir auf den Beinen gewesen.

Das kleine Alphotel war sehr nett eingerichtet. – Hier gab es ein Essen. Omelette und Kartoffeln. Die Leute konnten nicht genug herbeischaffen. Es wurde kiloweise alles verschlungen. Nach dem Essen ging der Kuenzli sofort ins Bett, weil er ganz sicher sein wollte, ja nicht mehr hinausgetrieben zu werden. Dies rief bei allen eine grosse Erheiterung hervor. Nun mussten wir uns auch in’s Fremdenbuch schreiben. Neger schrieb sogar unter Stand hinein “stud. Neger”! und Hurmes [?] auch dorthin “Gewe [? “GW” für Grössenwahn?] im Hage”.

Dann krochen wir in die Kisten. Um 6 Uhr morgens ging es schon wieder hinaus. Auf den Oberalp marschierten wir. Von da aus nach Andermatt. Nun gings die wunderbare Schöllenenschlucht hinab. Einfach grossartig und erhebend. In Göschenen nahmen wir am Bahnhof zu Mittag. Herr Zahn begrüsste uns dann noch. 1257 gings mit dem Gotthardzug nach Flüelen. Die Kehrtunnels bei Wassen machten allen viel Spass. In Flüelen angekommen, bestiegen wir das Schiff und fuhren aufs Rütli; an dieser heiligen Städte [sic] nahmen wir ein[en] Syrup und einen Alpenklübler. Dies war kolossal einfach und hatte eine kollossale [sic] Wirkung. Sehr fröhlich gestimmt, fuhren wir wieder nach Flüelen, und von da asu über Art-Goldau [Arth-Goldau] auf den Hof. Müde und frisch landeten wir und schliefen die Strapazen der Reise aus.

In St.Maria machten wir noch die Bekanntschaft mit Herr[n] Pfarrer Bolt, dem Verfasser der Bücher: Sviz[z]ero, Peterli am Lift und Allzeit bereit. Ein feiner Mensch!

Gemeint ist der in Lichtensteig SG geborene Theologe und Schriftsteller Niklaus Bolt (1864-1947). Die genannten Werke waren über Jahrzehnte beliebte, mehrfach neu aufgelegte und übersetzte Jugendbücher. Der Svizzero erreichte ähnlich hohe Verkaufszahlen wie Johanna Spyris Heidi. (Informationen aus den Artikeln zu Niklaus Bolt im e-HLS und in wikipedia, beide konsultiert am 24.02.2017)

Nächster Beitrag: 14. Juli 1917 (erscheint am 14. Juli 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Hofchronik 1915-1921 und Foto «Die VI-er 1917»)

Linolschnitt Oberkirch

Donnerstag, 12. Juli 1917 – Sommer-(Fuss)reisen der Schüler von Hof Oberkirch (Teil 1)

Die Pädagogen des Landerziehungsheims Hof Oberkirch bei Kaltbrunn waren geprägt von der Wandervogelbewegung. Sie ermöglichten auch ihren Schülern entsprechende Erfahrungen, von denen in der Schulchronik berichtet wird. 1917, mitten im Krieg, durften drei Klassen auf Tour gehen. Hier der Bericht der Jüngsten von ihnen:

12.7.17.

Die Ferienreisen.

Nun hatten uns die Eltern doch erlaubt, eine Sommerreise zu Machen. Am 7ten Juli zogen wir fort. Da ich die Reise der Siebner und 8ter nicht mitgemacht habe, lasse ich ihre Residenten sprechen.

Röbeli Straub gab das Amt zu erzählen dem Aktuar Hasenfratz. Der berichtet folgendes:

Am Morgen des 12ten Juli fuhren wir fort am See entlang nach Pfäffikon. Von dort aus marschierten wir auf den Etzel, wo wir auf einer Wiese Brot bekamen. Wir gingen von da aus nach Einsiedeln. Besondere[s] Interesse erregte die Kirche. Vor diesem Flecken essen wir kalt zu Mittag. Dann gingen wir durch das Alptal bis zum Fusse des Mieten [sic, gemeint ist der Mythen]. Wir kochten ab und assen zu nacht. Nach[h]er ging’s noch bis zu der Sennhütte zwischen den Mieten; hier suchten wir unser enges Strohlager auf.

Schon um halb 4 Uhr standen wir auf, und bestiegen den Mieten; in halber Höhe sahen wir den Sonnenaufgang. Oben sahen wir sehr weit herum und einer Photographierte [sic]. Nach einer Stunde stiegen wir wieder hinunter, packten und tranken kuhwarme Milch. Nun machten wir die Tour über den Sattel nach Schwyz. Dort rasteten wir und besahen Rathaus und das [Bundesbrief-]Archiv. Alsbald gingen wir gegen die Station Sattel am Übergang zum Agerisee [Ägerisee], und von da nach Morgarten. Hier fassten wir unser Nachtessen, und verzogen uns nach[h]er ins Heu. Am andern Morgen fuhren wir mit dem Dampfschiffchen nach Aegeri, wo wir gegen Zug in die Höllengrotte [Höllgrotte bei Baar ZG] marschierten. Wir wurden von 2 Wächtern in den Höllen herumgeführt und schauten die herrlichen Tropfsteingebilde an. Wir assen an der Lorze zu Mittag und dann waren wir rasch in Zug. Hier badeten wir, dann fuhren wir auf den Hof zurück.

Für die 8ter

Aktuar Hasenfratz.

Verfolgt man die Route auf einer Karte, so kann man nachvollziehen, dass die gut vierzehnjährigen Knaben in den drei Tagen fast 70 km zu Fuss marschiert waren. Die einzelnen, beschriebenen Streckenabschnitte sind zu Fuss in jeweils zwei bis drei Stunden zurückzulegen.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Hofchronik 1915-1921 und Hof-Zeitung 1914/15, Linolschnitt von Oskar Türler)

Blume

Montag, 2. Juli 1917 – Elterntag in Hof Oberkirch

Montag, 2. Juli.

Der Elterntag,

Der 2te Juli war da. Schon in der 1sten Stunde kamen die St.Gallereltern. Natürlich spornten wir unsere Leistungen zum höchsten an. Viel Eltern waren es nicht. Erst um 12 Uhr sollten die Zürcher kommen. Und dies waren die Mehrzahl. Die Morgenstunden gingen glatt ab. Nur in der Mathematik bei den Sechsern [6. Klasse] war es ein wenige anders. Wenn nähmlich [sic] Frau Bez.-Ammann hören musste, dass ihr filio Küenzli einen fehlerhaften Satz machte, so schüttelte sie kräftig den Kopf und seufzte unwillig: «ne-!ne-! [sic] Nun war das Mittagessen. DAs Wetter sah bedenklich aus. Doch Herr Tobler liess draussen decken, denn er dachte: «Na, es wird doch halten!» Kaum sass die 35köpfige Gesellschaft am Tisch, als grosse, schwere Tropfen aus dem grauen Gewölk herunterzutropfen anfiengen [sic].

Doch die lustigen Leute und Höfler lies[s]en sich nicht so schnell stören. Man holte Pelerinen & Mäntel. Nun hüllten die Höfler ihre Mamenen [Mütter] ein, und das Diner nahm seinen Fortgang. D

och nun fing es an zu schiffen! Regnen kann man es nicht mehr nennen.

Wir mussten hinauf in den Essaal. Nun rannten die Herrschaften in den Essal [sic]. Wer hätte gedacht, dass alle diese so verschiedengeformten Eltern so rennen könnten?

Jakob, der schöne Portier nahm fast 2 Tische auf einmal – bald sassen wir im grossen und kleinen Speisesaal. Sogar im Pavillon waren Tische. Aber die guten Leute verloren den Humor nicht. Das Essen war auch prima. Die Alwine [?] hatte auch einen guten Tag! Sie war sogar trotz der riesigen Arbeit sehr gut aufgelegt und lachte, wenn auch niemand ein[en] Witz machte. Nach dem Essen gab es eine Aussprache für die Eltern. Die andern machten ein Fussball[spiel] oder Studien. Das hinterlistige Regnen hörte nun Plötzlich [sic] auf. Nach der Aussprache kamen die Eltern zum Fussballplatz herunter. Das Spiel wurde beendet. Nun meinte Herr Schlegel[, Lehrer für Mathematik, Feldmessen und Buchhaltung,] man solle noch ein Wettrennen veranstalten. Doch als man die Leute aufstellen wollte, waren sie nich tmehr da. Nun ging’s zum Schwimmbad. Das ganze Bassin war von Eltern umgeben.

Feurig glitzerten die Augen der Höfler. Denn wenn einer Eindruck schinden will, so kann er dies doch am besten am Elterntag[,] wenn’s Baden gibt. Oder?? – Ihne!! [Hinein!] BäBäBäBäBäBä Pfsch. [sic] Es spritzt nur so. Grossartiger Kopfsprung. Doch schnell hinaus. Es ist eiskalt. Wie immer! Oder hat schon ein Höfler am Elterntag in ordentlich warmen [sic] Wasser gebadet? – Die schon lange vorher geübten Kunststücke werden nun produziert. Freudestrahlend zeiget sich der Sohn seinen glücklichen Eltern.

Nachher gab’s nicht mehr etwas besonderes! Man bunnelte [sic für bummelte?] noch mit seinen Eltern. – Halt fast hätte ich das Abendessen vergessen. Das war ein prima Tee mit Confiture und Butter bis zur Bewusstlosigkeit. Zur allgemeinen Erheiterung sassen wir wieder an unsere alten Plätze vom Mittag, wieder die lustige und gemütliche Unordnung. – Nach dem Tee gingen langsam die Eltern heim. Die meisten Höfler begleiteten sie auf den Bahnhof. Dort die rührenden Abschiedszehnen [sic] und Haendedrücken, einzelne Traenen. Wenn der Zug schon ein wenig ihm [sic] Fahren ist, gibt einem der Papa noch ein «Mocke Gips»[.] Dann rasselt das Liebe davon. – Der Elterntag ist vorbei -.

In der Hof-Zeitung, dem üblicherweise dreimal pro Jahr erscheinenden Mitteilungsblatt berichtete der Direktor über die Themen der Aussprache mit den Eltern:

.[…] Am Nachmittag versammelten sich die Eltern und die Lehrer in der Bibliothek, wo zunächst die bevorstehenden Sommerwanderungen besprochen wurden. Darauf gaben Herr Franz Weber, Wädenswil [Vater eines Schülers in der 6. Klasse], und Herr Traugott Simmen, Brugg [Vater eines Schülers in der 7. Klasse], in packenden Worten ihren Gefühlen der Dankbarkeit und Anerkennung Ausdruck für die Erzieherarbeit auf Hof Oberkirch. Eine kurze Aussprache über den Fussballsport führte dann hinunter zum Spielplatz, wo eben ein Fussballspiel vor sich ging. Wir haben gesehen, dass sich da manche Ansicht geklärt hat. […]

Zum Fussballspielen in Hof Oberkirch vgl. auch den Beitrag vom 10. Mai 1916 (mit Fotos).

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Schulchronik 1915-1921; Hof-Zeitung, Nr. 11, Dezember 1917; Beitragsbild: Linolschnitt von Hans Simmen in: Hof-Zeitung, Nr. 10, Juli 1917)

 

Sonntag, 3. Juni 1917 – Mütterliche Spionage, die Qual der Berufswahl und ein Romeo ohne seine Julia

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Die Tanzerei hat zwar am 16. Mai stattgefunden, aber gerade Margrit P. fehlte. Ich habe erst nachher gemerkt, dass es für mich so jedenfalls bedeutend einfacher war, als wenn sie dagewesen wäre; ich brauchte mich nicht lange zu besinnen, welche Seite ich herauskehren musste. Der Abend verlief ganz nett unter beständigem Tanzen. Etwa um 11 Uhr hörte man damit auf und machte noch ein Spiel. («Romeo und Julia», beide mit verbundenen Augen, wobei Romeo die Julia zu finden hat.) Zum Glück kam ich nicht in den Fall, Romeo zu sein. Ich hätte unter Umständen gerade heraus gesagt, ich finde keine Julia zum Mitspielen. Als man zum Schluss gemeinsam an einen Tisch sass und etwas trank, kam ich neben Margrit P.’s Freundin zu sitzen und erfuhr dabei, dass sie erkältet sei, was mir Gelegenheit gab, ihr gute Besserung zu wünschen durch Vermittlung dieser Freundin.

Seither weiss ich nichts weiteres von ihr. Doch habe ich das Gefühl, sie grüsse wieder deutlicher. Letzten Dienstag brachte mir Doris [Schwester von Ernst Kind] einen Gruss von ihr heim. Sie war in der «Elektra» gewesen, von der ich ihr früher ziemlich viel erzählt hatte; deshalb kam sie wohl darauf, mich das wissen zu lassen. –

Ich glaube, Mama hat mir in die obigen Zeilen gesehen, während ich mit Silvia [jüngere Schwester von Kind] eine etwas «bewegte Szene» erlebte, wie das ja oft vorkommt. Es wäre mir aber sehr unangenehm, wenn jemand hier hineinspürte; freilich wird sich Mama, wenn sie gelesen hat, alle Mühe geben, nichts merken zu lassen; bei Gelegenheit werde ich aber bald heraushaben, ob sie etwas von meinen Gefühlen in dieser Beziehung weiss.

Das Problem der Berufswahl fängt an für mich brennend zu werden. Ich erhielt schon das Aufgebot zur Rekrutenschule für den Juli, muss aber natürlich ein Urlaubsgesuch eingeben, weil ich sonst die Maturitätsprüfung nicht machen kann, die im September stattfindet und letzthin bereits mit einer Arbeit in Physik begonnen hat. Jetzt kommt nun mein künftiger Beruf sehr in Frage. Werde ich Arzt, so muss ich überhaupt eine ganz andere militärische Einteilung bekommen und eine Sanitäts-Rekrutenschule machen, während ich bisher zur Infanterie eingeordnet bin. (Ich habe nämlich stark daran gedacht, Medizin zu studieren, seit wir so ausgezeichnete Stunden in Anthropologie haben, (bei Prof. Dr. H. Bosshardt.) wobei wir uns vor allem sehr mit dem Nervensystem beschäftigen. Ich interessierte mich von jeher sehr für alle Lebensvorgänge in unserem Körper und dachte deshalb schon manchmal an das Studium der Psychiatrie.) Anderseits kämen noch in Betracht Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Zu diesen hätte ich grosse Lust; nur schreckt mich davon ab, dass man bei diesem Beruf notwendig Lehrer an irgend einer Schule werden muss. Denn vor dem Lehrer-werden graust mir. Die Entscheidung muss aber bald erfolgen; schon die eigene Unruhe zwingt mir den Entschluss ab. Woher kommt mir aber das Licht? Ich bin jetzt wie Chateaubriand auf Combourg [Bretagne], wo er und seine ganze Familie das «évènement» [gemeint ist wohl die Französische Revolution] abwarten, selbst aber eigentlich untätig dasitzen.

Das Grausen vor dem Pädagogendasein wird sich verflüchtigen: Ernst Kind wählt schliesslich doch den Lehrerberuf und unterrichtet ab 1925 an der Kantonsschule am Burggraben in St.Gallen. Von 1932-1963 wirkt er auch als deren Rektor. Seine Neigung zur Geschichte kann Kind auch im Historischen Verein des Kantons St.Gallen leben, dem er als Vorstandsmitglied und Präsident dient.

Das Tagebuch konnte mit einem kleinen Schloss gesichert werden (vgl. Abbildung).

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)