Der Militärdienst wollte kein Ende nehmen, Franz Beda Riklin konnte auch Anfang Juni noch nicht zu seiner Familie heimkehren (vgl. Beiträge zum 7. und zum 13. Mai 1918). Nach wie vor weilte er als Mitglied der Commission Franco-Suisse Pour l’Internement des Prisonniers de Guerre in Lyon. In mehreren kurzen Briefen hatte er seiner Frau berichtet, wie langweilig der Dienst und wie uninspirativ seine Kameraden seien. Ein überraschender Kurzbesuch seiner Frau eine gute Woche zuvor war eine mehr als willkommene Abwechslung gewesen.
Lyon, 8. Juni 1918.
Liebster Schatz! Ich weiss nicht, ob dieser Brief das Glück hat, Dich gleich zu erreichen. Mein Termin ist abgelaufen, aber der Nachfolger noch nicht da u. im übrigen die Grenze gesperrt. Gut, dass Du nicht dageblieben bist; ein Gefühl von möglichen Überraschungen hielt mich zurück, etwas Ausserordentliches zu unternehmen. Man hätte jetzt die allerärgsten Schwierigkeiten für Deine Rückkehr. Drei Collegen sind blo[c]kiert. Wir hoffen heute mit den offiziellen Nachrichten nach Bern das Nötige zu erreichen, dass auf diplomatischem Wege die Überschreitung der Grenze möglich gemacht wird. Also etwas Geduld. Es wird nicht lange gehen. Der letzte Zug kam von der Grenze mit französischem Personal. Heute Nacht kommt wieder einer, und wir hoffen, dass wahrscheinlich Oberst Bohny persönlich mit nach Lyon kommen kann, und dass wir ihm mündlich unsere dringenden Anliegen mitteilen können.
Ich habe reichlich genug von hier. Es beginnt ganz entsetzlich öde zu werden, u. fein war es nie.
Dein Besuch war der glänzende Punkt in der ganzen Unternehmung, u. ich habe eine unendliche Sehnsucht, Dich wiederzusehen, Dich zu lieben u. mit Dir zu leben. Ich bin hier meist müde u. schlafe unendlich viel.
Heute habe ich hier im Museum, trotz Hitze u. muffiger Luft, mit einigem Vergnügen eine Anzahl sehr schöner[,] moderner Franzosen zu sehen bekommen.
Addio, cara mia. Ich freue mich unendlich auf Dich und die Rosen. Grüsse die Kindlein herzlich. Grüsse auch Mutter, u. wer nach mir fragt. Ich sehne mich so sehr nach frischer Luft u. Grün, nach der heissen Stadt.
Wir waren kürzlich in Vienne. Heisse, schmutzige Stadt, mit einigen schönen römischen Bauten. Ich küsse u. umarme Dich herzlich u. danke für Deine letzten guten Nachrichten.
Es könnte nichts schaden, wenn Du beim Internierungsbureau, Schänzlistr. ca. 50, Bern, einmal telephonisch vorstellig würdest, u. sagen, dass man mich zuhause dringend benötigt.
Dein treuer
Franz.
Oberst Karl Bohny (1856-1928) war Chefarzt des Roten Kreuzes. Zusammen mit seiner Frau, Marie Bohny-Pertsch, leitete er die Organisation von Transportzügen für die Repatriierung von Gefangenen und Verletzten der verschiedenen Kriegsparteien, vgl. https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/die-repatriierung-verletzter-auslaendischer-soldaten.html
Riklin steckte in Lyon fest. Eigentlich hätte sein Einsatz nach sechs Wochen beendet sein sollen, und er wartete schon lange sehnlichst auf Ablösung. In einem wegen der Zensur französisch verfassten Brief vom 13. Juni 1918 berichtete er seiner Frau, dass sein Nachfolger, der am 10. Juni hätte eintreffen sollen, wegen der geschlossenen Grenzen nicht nach Frankreich einreisen könne. Ausserdem beklagte er sich über seinen Chef, Lt.Col. Breiter. Ihm mangle es an Initiative und Fähigkeit im Umgang mit einer solch speziellen Situation. Les chemins administratifs sont malheureusement un peu longues. Autrement je suis en bonne santé, mais très peu enchanté de la situation. Je ne retournerai jamais à Lyon sous pareilles circonstances. In einer zweiten, kurzen Notiz vom gleichen Tag heisst es, er habe endlich die Erlaubnis erhalten, in ein oder zwei Tagen die Grenze zu überschreiten. Dies scheint aber doch nicht geklappt zu haben, ist doch ein weiterer Brief vom 18. Juni 1918 erhalten: Me voilà encore à Lyon. J’attends le permis pour rentrer – depuis une semaine. J’espère que cette Autorisation arrivera enfin, à peu près demain ou après demain. Inutile de de raconter mes réflexions et les détails des démarches faites à ce sujet. Tu l’entendras après mon retour. Demande encore une fois à Berne. Nous [statt: Nos] moyens de communications [sic] sont très restraints. Je n’ai pas de tes nouvelles depuis 8 à 10 jours.
Offenbar hatte er die Erlaubnis schliesslich doch noch erhalten. Der nächste Brief der erhaltenen Ehekorrespondenz ist einen guten Monat später datiert mit: Küsnacht, 15.7.18. Dieses Schreiben «reiste» ins Toggenburg, wo seine Familie Sommerferien verbrachte. Riklin selber versuchte, wieder ein ziviles Leben zu führen, Patienten zu behandeln und zu Hause zum Rechten zu sehen. Für die psychiatrischen Dienste in Solothurn, deren Betrieb in diesen Tagen durch die Spanische Grippe stark eingeschränkt war, erstellte er wöchentlich Gutachten zu Patienten. Daneben beanspruchte die Gemeinde Küsnacht, wie einem weiteren Brief vom 20. Juli 1918 zu entnehmen ist, seine Dienste bei der Lebensmittelinspektion und bei der damals so genannten Kostkinderkontrolle (Kontrolle von Kindern, die in Privatfamilien fremdplatziert waren).
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin, Korrespondenz)