Samstag, 27. Oktober 1917 – Studentenleben: Türkische Wasserpfeifen, Latein und Griechisch

Walter Muschg-Zollikofer (1898-1965), später Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Basel, schrieb an seinen Schulkollegen Ernst Kind. Kind weilte in der Rekrutenschule, Muschg studierte an der Universität Zürich:

Zollikon, 27.X.17.

Mein Lieber!

Gerne will ich Dir in Beantwortung deines bestens verdankten Briefes einiges von meiner neuen, mehr oder weniger segensreichen Zeit schreiben. Und da ich aus Erfahrung weiss, dass für Soldaten, und speziell für Rekruten immer eine angenehme Abwechslung bedeutet, so habe ich, wie Du siehst, grosses Format gewählt und will sehen, ob ich die vier Folioseiten voll bringe.

Ich habe nach dem gegenwärtigen Stande meines Stundenplans 21 Stunden. Vielleicht ist das etwas viel im ersten Semester, aber einerseits sind dabei verschiedene, die nur als Luxusartikel betrachtet werden können, andrerseits aber ist ein solcher Betrieb «dort oben», dass es einem gar nicht wohl ist, wenn man zu Hause sitzt – besonders, wenn man nichts tut! Dass man daneben mit Vergnügen in allen Fakultäten gratis herum-«schindet», wirst Du auch bald konstatieren; immerhin: Mathematik habe ich bis jetzt in jedem ihrer vielerlei Gewändlein mit Verachtung gestraft.

Zunächst der Angelpunkt dieser wirren [?] Bewegung: Herr [Professor Albert] Bachmann [1863-1934]. Dass da mit blossem Riechen nichts zu machen ist, habe ich allerdings sofort gemerkt und mich sogar gezwungen gesehen, den ersten Band der dreibändigen «deutschen Grammatik» von Wilmans (12 Fr.- pfui Teufel) käuflich an mich zu bringen – hättest Du mir das je zugetraut? Aber es heisst eben: Vogel friss oder stirb – entweder mit Kopfsprung hinein oder dann lieber gar nichts! Immerhin: So schauderhaft, wie uns Spatz das Zeug ausgemalt hat, ists [sic] entschieden nicht und der Grund ist gegeben in meiner ersten diesbezüglichen Grunderkenntnis: Wir Literaten haben vor allen andern, auch den ältesten Semestern, einen ganz unabschätzbaren Vorsprung voraus mit unserem Latein und Griechisch. Die können fast alle gar nichts!

Bis jetzt habe ich für ca. 60 Franken Bücher gekauft: Direkt notwendige und indirekt notwendige.

Sodann [Professor] Adolf Frey [1855-1920]: Der Herr ist etwas senil, hat eine starke Dosis des bekannten Philologen-Grössenwahns und bildet sich überdies viel auf seine Dichterglorie ein. Aber es fällt ja immer etwas ab; wenn einer einmal etwa 10 Stunden auf Jean Paul herumreitet, kommt jeder bis zu einem gewissen Grad zu einem Urteil, wenn er auch nur ein Minimum des betreffenden Autoren gelesen hat. Da man zudem weitaus am meisten in den Seminarien lernt, beteilige ich mich in zweien, natürlich als stiller Teilhaber (höchstens Diskussion!) Frey behandelt das Goethe-Buch von Gundolf und Ermatinger den Grünen Heinrich (beide Fassungen), wobei sicher in beiden Fällen eine sehr respektable Stoffkenntnis resultiert.

Was übrigens die persönliche Vorstellerei betrifft, so war ich lange im Ungewissen; vorgestern aber hat mir Markus sehr geraten, das nicht zu tun, man mache sich nur lächerlich (In Deinem Fall wars [sic] natürlich etwas anderes!). Übrigens kann man ja beim Testieren noch einige Worte fallen lassen.

[Professor Emil] Ermatinger [1873-1953] sucht hauptsächlich durch äussere Erscheinung, unerträgliches Gesten- und Mi[e]nenspiel und sehr affektierte Aussprache Eindruck zu machen – aber eben, es ist für uns doch neu (nämlich der Stoff, nicht das andere!). In seinem «Deutschen Naturalismus» liest er gegenwärtig dessen Vorläufer: Ebner-Eschenbach, Wildenbruch und Konsorten.

Weiterhin gehe ich zu Eugen Müllers Schwiegervater, dem Landesmuseumsdirektor Jehrman [?], der «Höfisches Leben im Mittelalter» bringt und Projektionen versprochen hat. Zuerst aber will ich diese sehen, denn für das was er bis jetzt «bot», reuen mich entschieden 2 mal 6 Franken! Fast am meisten Freude, weil greifbaren Nutzen bringend, macht mir Donatis italienischer – kreuzfideler! – Anfängerkurs; sehr schön ist auch Zemp mit seinem zweistündigen Lichtbildervortrag über die Niederländer. Einen ebensolchen liest er über den italienischen Barock, den ich aber leider nicht besuchen kann.

Ad. Frey liest neben seinem vierstündigen Kolleg über die Romantiker unter anderm noch eines über «Aufgaben der Lit.-Geschichte»; wo es hinaus will, weiss ich noch nicht rechz. Es beruht durchaus auf Praxis; das letzte Mal beantwortete er zum Beispiel die Frage: «Wie hat man zu verfahren bei der wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke z.B. eines Dichters?» Man kann sichs [sic] ja immerhin gefallen lassen.

Im übrigen ist zu sagen: Alle die, welche sich auf die Universität an sich gefreut haben, sind enttäuscht (z.B. alle Chemiker (Jenny!) und Mediziner!); wenn man abe reinmal einen gewissen festen Standpunkt hat und isch in den neuen Betrieb eingelebt hat, so bekommt man einen unheimliche Freude! Man ist eben frei! Dieser gemütliche Seelenzustand äussert sich spontan in unsern Zusammenkünften: Das letzte Mal rauchten unser fünf aus ein und derselben (Friedens-!)Pfeife und haben nach diesem Genuss beschlossen, für di egnaze Bande eine türkische Wasserpfeife mit möglichst viel Schläuchen anzuschaffen als Symbol unser[er] Zusammengehörigkeit!!

Im weitern und letzten wünsche ich Dir eine möglichst dicke Haut für alle «gemeinen Subjekte» und gute Verdauung obiger Kriegsmahlzeit!

Mit kameradschaftl. Gruss Dein

W. Muschg.

Zu Walter Muschg vgl. den Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D6446.php

Zu den genannten Professoren finden sich ebenfalls Artikel im HLS:

http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11483.php (Albert Bachmann)

http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11796.php (Adolf Frey)

http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11774.php (Emil Ermatinger)

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/5 (Korrespondenz Ernst Kind)

 

Sonntag, 6. Mai 1917 – Jedem Rausche folgt Ernüchterung

Nach seinen Frühlingsferien ist der jugendliche Tagebuchschreiber mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind, wieder zurück in der Kantonsschule in Zürich:

Meine Mondschwärmerei hat gestern einen Hieb bekommen, als uns «Spatz» (Dr. Zollinger) im Deutschunterricht Wilhelm Raabe’s Novelle «Deutscher Mondschein» vorlas. Ich fühlte mich ein wenig vor den Kopf gestossen. Aber ich denke jetzt doch, mein bisschen romantischen Anhauch behalte ich ruhig, so lang er nicht von selbst geht. Dass es mit dem Schwärmen nicht getan ist und dass man sich das nur eine Zeitlang erlauben darf, weiss ich wohl. Aber umso mehr tue ich es jetzt noch, da ich das Gefühl habe, mir sei es noch erlaubt.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 238/02.12-60 (Postkarte von 1906). Die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.

Freitag, 4. Mai 1917 – Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte…

Der beginnende Frühling weckt – unterstützt durch die schönen Künste – auch beim Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind (Jg. 1897), die Lebensgeister:

Aus der Ferienreise in den Jura ist nichts geworden. Bis Schulanfang war das Wetter ganz abscheulich und Papa [Schweizer Berufsoffizier] hatte von der Grenze geschrieben, dass der Schnee im Jura das Fortkommen mit Wagen fast nicht möglich mache; also für eine Radfahrt absolut ungangbare Strassen. Nach Peseux bin ich nun natürlich auch nicht gekommen und habe darüber im Stillen viel getrauert. Aber schon am ersten Schultag haben wir uns wieder begegnet. –

Ungefähr seit 26. April ist das Wetter jetzt herrlich, auch warm, und das hat ein beinahe unglaublich plötzliches Wachstum in der Natur zustande gebracht, sodass der Maianfang mitten ins allererste Grünen gefallen ist. Mir ist dieser Mai ein Erlebnis geworden; ich habe den Frühling noch nie mit so starken Gefühlen erlebt; ich bin geradezu in ein romantisches Schwärmen geraten; es mag sein, dass dazu noch beigetragen hat, dass in den letzten herrlichen und warmen Nächten der Mond sich dem Vollmond nähert. Und ich glaube, ein seelisch irgendwie empfindsamer Mensch wird jedesmal zum Romantiker, wenn er eine warme Frühlingsnacht erlebt, besonders wenn er vorher wochenlang nichts als Regen und Schnee gesehen hat. Letzte Woche bin ich dreimal von Herrn Federer in die Konzerte des Klingler-Quartetts eingeladen worden und habe ihn nachher heimbegleitet; dann haben wir beide miteinander Mondscheinspaziergang gemacht und unsere romantische Sehnsucht zu stillen gesucht. Mein Sehnen hat ja einen realen lebendigen Hintergrund; er wird eben als Dichter gefühlt haben. –

Ein grösseres Erlebnis aber war für mich der Konzert-Abend von Nikisch am 30. April. Ich hatte ewas wie eine Ahnung; ich hoffte heimlich, Margrit P. dort zu sehen. In der Pause sah ich sie mit ihrer Freundin. Aber ich wagte nur einen Gruss mit dem Kopf; angesprochen habe ich sie nicht. Nachher fühlte ich, dass das eigentlich etwas ganz natürliches gewesen wäre; gekannt hätte ich sie doch genug dazu, nachdem ich einen ganzen Winter mit ihr zusammen Tanzstunde gehabt habe. Aber ich bin eben so viel in Gedanken mit ihr beschäftigt, dass ich fürchtete, ein Anreden hätte auffallen müssen. Aber ich bin eigentlich glücklich gewesen, dass ich es doch nicht tat. Ich glaube, sie geht auch nicht gleichgültig an mir vorbei. In meinen aufgeregten und sehnlichen Stimmung habe ich auf dem Heimweg vom Konzert noch auf der Strasse (bei einer Laterne) ein paar seltsame Verse geschrieben, die ich aber nicht verbessern will, trotzdem sie nur im ersten Taumel geschrieben wurden. Auch weiss ich wohl, dass ich mich (damals zwar kaum bewusst) in den letzten 4 Zeilen an eines aus der Müller-Liedern anlehne. Übrigens haben die Verse keinen Anfang, ich begann eben gerade da, wo meine Erregung ihren Höhepunkt erreicht hatte, als ich an Margrit P. vorbei gegangen war, aber nach 10 Schritten, einem heftigen Zwang folgend, mich umgedreht hatte und in gleicher Richtung wie sie ging.

Die Liebste sah ich wohl,

Wie sie ihr Köpfchen wandte und ihr ängstlich Auge

Schon durch die Menge streifte.

Doch als meinen Blick sie traf,

(Der ich beklommen in die Ecke war getreten)

Da schlug sie schnell die Augen nieder

Und ihr Köpfchen drehte rasch sich weg.

Mir aber ist der Blick

Ins Herz gedrungen, und es bebte lange. –

Ich gehe langsam heim durch stille Strassen.

Der Mond spielt mit den Wolken seltsam Spiel;

Sie gleiten schnell an ihm vorbei und ziehen weiter

Am einsam funkelnden Nachthimmel hin,

Wie weisse Schwäne ziehen auf dem dunkeln Wasser.

Ihr stillen Wolken, fragen wollt ich euch

– Doch wüsstet ihrs, ihr könntets doch nicht sagen –

Hat wohl das liebe Mädchen mich gesucht,

Als es sein Köpfchen scheu und ängstlich wandte?

(Geschrieben auf Notizblatt unter einer Strassenlaterne beim Mühlebachschulhaus Nachts 11 Uhr, 30 April.)

Vor 3 Tagen, also am ersten Mai, war Herr Federer Abends ein wenig bei uns, und ich musste ihm u.a. auch das herrliche Lied «Frühlingsglaube»: «Die linden Lüfte sind erwacht», vorspielen. Die Singstimme konnten wir uns jeder selbst denken, (Mama war ja nicht da; also wurde sie nicht gesungen) und die Begleitung ist schon für sich etwas Wunderbares. Jetzt erst verstehe ich dieses Lied und fühle, wie tief es in Wort und Melodie ist. Ausser diesem Lied gehen mir jetzt noch einige andere immer wieder durch den Kopf, die ich alle jetzt so recht mitfühle, vor allem die ersten Verse von Lenau’s Lied: «Lieblich war die Maiennacht», … dann auch ein einfaches Mittelhochdeutsches mit unbekanntem Verfasser: In liehter varve stât der walt, der vogel schal nu doenet …. . Und schliesslich habe ich wieder Horazens einzigartig schönes Lied auswendig gelernt: «Solvitur acris hiems…» (carm. I, 4) Es liegt etwas Sehnsuchtstärkendes darin, diese schönen Lieder wieder zu lesen; aber ich tue es deswegen doch, denn eigentlich ist dieses ständige Hoffen und Denken an etwas, das einem lieb ist, etwas Schönes, Belebendes, trotzdem es verzehrt, wie zwar eine grosse Flamme sich schneller verzehrt, aber dafür auch desto heller und schöner brennt. Einmal verbrennt auch die kleine, trotzdem sie nie hell gebrannt hat. Mein Lieben hat mich gerettet vor einem immer ärger werdenden philiströsen Pessimismus. Jetzt muss ich vor allem etwas zustande bringen: Ein Zurückfinden aus dem träumenden romantischen Schwärmerzustand zur Fähigkeit, zu arbeiten (das kann ich nämlich jetzt nicht recht und muss es doch wegen der nahenden Matura tun) und daneben die Kunst, meine Liebe in aller ihrer jetzigen Kraft und Sehnsucht zu erhalten. Das erstere wird schwer sein, das zweite nicht; sonst müsste ich an mir selbst irre werden.

Am zweiten Mai habe ich vor dem zu Bette gehen im Schlafzimmer versucht, meine Stimmung festzuhalten und mir einige Sätze aufs Papier geschrieben: «Die Maiennacht hat ihren Zauber über der Erde ausgebreitet, und die linde Luft fliesst durch mein Fenster herein. Ich fühle, dass etwas treibt und schafft in der stillen Natur. Der Nachtwind ist wie ein leises Streicheln, und er streicht über mein Gesicht wie beim Tanz das weiche Haar der Liebsten, wenn sie ihr Gesicht zur Seite neigt. Der herrliche Himmel glänzt aus unendlicher Ferne; seine strahlenden Sterne leuchten der Liebsten so hell wie mir. Alle Bäume stehen in ihrem Licht und wachsen; die volle Knospe ist zersprengt und hält das Leben nicht mehr, das jetzt zart aus ihr entspriesst.»

Nächster Beitrag: 6. Mai 1917 (erscheint am 6. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897) und W 238/04.06-07 (Postkarte um 1900, Originaltitel: «Schloss Werdenberg: Mondschein, Gruss aus Buchs»)