Mittwoch, 1. März 1916 – Verdun unter Beschuss

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Am Samstag kam vom westlichen Kriegsschauplatz eine wichtige Kunde. Eine deutsche Armee beschoss u. erstürmte ein Fort von Verdun. Wenn ein Fort gefallen ist, dann ist bald die ganze Festung verloren. Auch die Festung Belfort in der Nähe der schweizerischen Grenze wird beschossen. Hr. Bühr glaubt, dass die 42 cm Mörser wieder in Tätigkeit seien. Wir werden bald die Nachricht bekommen, dass die Festung Verdun gefallen sei.

Am Montag bekam Josephina Braun unerwarteten Besuch von der Mutter. Sie brachte ihr traurige Kunde. Ihre Schwester Vreneli ist an Nervenfieber erkrankt. Sie musste in den Kantonsspital verbracht werden. Als sie kam, wurde sie sogleich von Fräulein Doktor untersucht. Sie machte der Mutter keine grosse Hoffnung. Sie sagte, Frau Braun müsse sich auf das Schlimmste gefasst machen. Nervenfieber ist eine ziemlich gefährliche Krankheit, eine Erkrankung des Gehirns u. der Nerven.

Am Sonntag durfte Lina Tobler mit den Schwestern nach Speicher-Schwendi gehen. Sie fuhren zuerst mit dem Tram bis Neudorf. Dann gingen sie nach Speicher zum Grossvater. Ihr Grossvater ist ihres Wissens 85 Jahre alt. Er hat schon ein hohes Alter erreicht. Herr Bühr las vor einiger Zeit im Tagblatt, dass Frau So u. so in der aargauischen Gemeinde N. 100 Jahre alt geworden ist. Der Bundesrat habe ihr gratuliert u. ihr ein Geschenk gemacht. Später las man, es sei nicht wahr, sie habe alle Welt angeschwindelt, sie sei als Betrügerin entlarvt worden. Man habe nachgeforscht, ob es sich so verhalte, sie sei nicht 100 Jahre alt gewesen. Das ist keine liebliche Geschichte. Am Abend ging Lina mit der Mutter heim. Am Montag u. Dienstag wurde ihr Konfirmandenkleid gemacht. Am Dienstag fuhr sie mit dem Lastauto des Käsers nach St.Gallen. Hr. Bühr sagte zu Elsi, Lina sei nicht mit einem Personenauto gefahren, sondern mit dem Lastauto, weil sie kolossal schwer sei. Elsi nahm es für bare Münze. Man darf nicht […] alles für bare Münze nehmen.

Gestern war der 29. Februar. Das war ein Schalttag. In 3 gewöhnlichen Jahren hat der Februar nur 28 Tage. Im vierten Jahren [sic] hat er 29 Tage. Der Kalendermacher hat immer nach 3 gewöhnlichen Jahren ein Jahr mit 29 Tagen im Februar eingeschaltet. Alle Jahre, die man durch 4 ohne Rest teilen kann, sind Schaltjahre. Die Schaltjahre haben 366 Tage. Herr Bühr las im Tagblatt, unser früherer Hausarzt, Hr. Dr. Vetsch, feierte am 29. Febr. zum 15. Mal den Geburtstag. Er ist 60 Jahre alt geworden. Er ist 1856 geboren. Herr Bühr gratulierte ihm auch u. dankte ihm für die Opfer, die er der Anstalt gebracht hat.

Quelle: StASG, W 206 (Text) und P 909, 02.03.1916, Morgenblatt (Bild)

Mittwoch, 1. März 1916 – Lehrer und Schüler im Krieg

In der Schweiz wurden zwischen 1900 und 1930 verschiedene reformpädagogische Schulen mit Internatsbetrieb eröffnet. Das Landerziehungsheim Hof Oberkirch in Kaltbrunn war eine davon. An der Schule arbeiteten teils ausländische Lehrer, teilweise kamen auch die Schüler aus dem Ausland und mussten mit Kriegsbeginn in ihren Heimatländern als Soldaten einrücken.

Von den aktiven Höfler-Soldaten.

Herr Stouvenot [Georges Stouvenot (1885-1955), Lehrer] musste sich einer zweiten Operation unterziehen und wurde zudem schwer krank (Blinddarmentzündung). Er ist jetzt wieder aus dem Spital entlassen und weilt zur Erholung im Elternhaus.

Enrico Bertolini hat die Fliegerschule absolviert und hofft nun bald eine Offiziersschule besuchen zu können. Seine Sehnsucht geht nach der Front.

Walter Grossmann war noch nicht an der Front, obwohl er schon lange ausgebildet ist.

Einer unserer ersten Schüler, Ernst Duregger in Bozen, hat sechs Wochen als Tiroler Standschütze in einer Festung Dienst getan.

Wir wünschen allen Erfüllung ihrer Träume, Glück und Gesundheit und – baldigen Frieden.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127, Hof-Zeitung, herausgegeben im Land-Erziehungsheim Hof Oberkirch unter der Leitung von Anton Blöchlinger, Nr. 6, März 1916, S. 20 (Text) und Fotoalbum Lehrer und Schüler auf dem Hof Oberkirch (Bild)