Maturaklasse Margaritha Gagg

Sonntag, 29. Juli 1917 – Angst vor den Frauen

Die Wochenendbeilage zur Rorschacher Zeitung vom 28. Juli 1917 enthielt zwei Beiträge über das Universitätsstudium in Deutschland:

Frauenstudium. In einer Studie in den «Historisch-politischen Blättern für das kath. Deutschland» über die Studentin stossen wir auf folgenden Satz: «Merkwürdig! Während draussen auf den unermesslichen Schlachtfeldern die Studenten seit drei Jahren Blut und Leben opfern, damit ihre Kommilitoninnen ungestört ihren Studien nachgehen können, organisieren diese den Kampf gegen das männliche Geschlecht und tragen damit einen tiefen Zwiespalt in unsere Hochschulen hinein». «Es spielt dabei wohl auch die Furcht mit, es könnte nach dem Krieg eine starke Reaktion gegen das Frauenstudium einsetzen.»

Diese Worte, wie die gesamte Studie beweisen, dass gegenwärtig in Deutschland und vermutlich auch in andern kriegführenden Staaten das Problem der Frauenarbeit und das Problem der gelehrten Frauenarbeit immer akuter wird. Nicht nur die industrielle Arbeit, sondern auch das Studium steht in der Kriegszeit unter immer stärker werdendem Einfluss der Frau. Wenn wieder normale Zustände zurückkehren, dann wird sich zweifellos eine Auseinandersetzung abspielen, die zu den merkwürdigsten und vielleicht auch traurigsten Blättern der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte gehören. Und sicher wird ein starker Schlagschatten dieses Zwiespaltes auch auf die neutralen Länder übergreifen und wäre es auch nur in der Weise, dass die schweizerischen Universitäten von Studentinnen überflutet werden, die in ihrem eigenen Lande nicht mehr so leicht zukommen. – Der Weltkrieg schafft Probleme, von denen man im August 1914 noch nicht geträumt hätte.

Dreiteilung des akademischen Studienjahres. Eine Anzahl von Professoren der Universität  und der Technischen Hochschule in München haben an den Reichstag die Eingabe gemacht, womit sie für die Dreiteilung – Trimestrierung – des akademischen Studienjahres während der ersten beiden Friedensjahre eintreten. Sie erstreben daher, dass für diese Zeit in den gesetzlichen Bestimmungen über die staatlichen Prüfungen ein Trimester sinngemäss einem Semester gleichgestellt werde, um so den Kriegsteilnehmern den Zeitverlust, den sie im Dienst des Vaterlandes erlitten haben, durch Herabsetzung der Studienzeit auszugleichen. 

Die Schweiz gehörte zu den Vorreiterinnen des Frauenstudiums. Ab 1864 konnten an der Universität Zürich Frauen regulär studieren, erste Gasthörerinnen waren bereits seit den 1840er Jahren zugelassen. Es folgten die Universitäten Bern, Lausanne und Genf, später auch Basel. Die Furcht, es könnten nach Beendigung des Ersten Weltkriegs viele Studentinnen aus dem Ausland in der Schweiz ihre Ausbildung machen wollen, gründete in Erfahrungen, die man mit den frühen Studentinnen gemacht hatte. In den 1870er Jahren waren vor allem aus dem damaligen Russland viele, oft revolutionär eingestellte Frauen zum Studium in die Schweiz gekommen und hatten das «Image» der studierenden Frau nachhaltig geprägt.

Margaritha Gagg im Seitenprofil

Eine, die zwar erst 1918 Matura machte und 1923 ihren Doktortitel für eine Dissertation über Arbeiterinnenschutz erhielt, war Margaritha (Schwarz-)Gagg (1899-1989). Ihr Nachlass und das zugehörige Familienarchiv, aus dem auch die Bilder zu diesem Beitrag stammen, befinden sich im Staatsarchiv St.Gallen. Margaritha Gagg studierte an den Universitäten Bern, Genf und Freiburg im Breisgau Staatswissenschaften. Die spätere dreifache Mutter engagierte sich in der Sozialpolitik und setzte sich ab den 1930er Jahren für die Einführung einer Mutterschaftsversicherung ein.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 913A (Text: Rorschacher Blätter zur Unterhaltung und Belehrung, Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung, Nr. 7, 1917, 28.07.1917) und W 291/17-11.07 und W 291/17-11.14 (Bilder: Gymnasialklasse Margaritha Gagg 1918, Foto: Max Hubacher; Margaritha Gagg im Seitenprofil, 21.10.1918)

Auszug Protokollbuch

Montag, 16. Juli 1917 – Frauen im Verein und im Protokoll

Wann genau der Aktuar des Kantonalen Lehrervereins sein Sitzungsprotokoll vom Samstag, dem 14. Juli 1917 verfasste, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Sehr konzentriert konnte er – sicher ein Lehrer – beim Verfassen aber nicht gewesen sein, da er notierte: Sitzung der Kommission [Vorstand], Samstag[,] den 14[.] Juli nachmittags 3 Uhr nachmittags 3 Uhr im Restaurant «Vitta» in Rorschach (sic, vgl. Beitragsbild). Ob ihn das unter Nummer 14 notierte Geschäft: Wahl einer Lehrerin in die Kommission KLV Gesuch d. Lehrerinnen St.Gallen beschäftigte?

14 Die Sektion St.Gallen des schweizerischen Lehrerinnenvereins wünscht, dass in die zukünftige Kommission des KLV eine Lehrerin aufgenommen werde. Sie begründet das in einem längeren Schreiben u schlägt zugleich hiefür Fräulein Hedwig Scherrer an der [Schule] Blumenau vor. Ob eine Vertretung der Lehrerinnen in der Kommission KLV gerade eine Notwendigkeit u. brennend ist, ist eine Frage, die wir offen lassen. Die Wahl der Kommission KLV ist alleinige Sache des Lehrertages. Mögen die Gesuchstellerinnen dort ihre Anträge stellen. In diesem Sinne hält die Kommission KLV die Sache für erledigt. 

Übrigens: Die Kantonalsektion St.Gallen des Schweizerischen Lehrerinnenvereins widmete sich in diesem Sommer einer ganz praktischen Aufgabe. Im ersten Heft des 22. Jahrgangs der Schweizerischen Lehrerinnen-Zeitung berichtete sie über die Ferienversorgung bedürftiger Schulkinder: 73 Kinder durften sich drei oder vier Ferienwochen lang auf blumenreichen Wiesen, unter obstbehangenen Bäumen, in tannenduftenden Wäldern und schwarzbehangenen Brombeerstauden erholen. Die Ferieneltern bemühten sich um die Kinder, und da und dort wurde sogar mit Ovomaltine nachgeholfen. Die Schweizerische Lehrerinnen-Zeitung – eines der frühesten feministischen Publikationsorgane der Schweiz –  ist wie viele andere Zeitungen und Zeitschriften in den letzten Jahren digitalisiert worden und online bei den sogenannten e-Periodica zugänglich (http://www.e-periodica.ch). Der vollständige Bericht über die Ferienversorgung findet sich unter: http://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=sle-001:1917-1918:22::14

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 018 (Vorstandsprotokoll des Kantonalen Lehrervereins, 14.07.1917)

Arbeiterin

Sonntag, 11. März 1917 – Das Elend des Frauendaseins

Der Beitrag mit oben genanntem Titel war zwar bereits am Samstag, dem 10. März, in der sozialdemokratischen Volksstimme erschienen. Nicht wenige Leser (und erst recht Leserinnen) der Zeitung dürften aber wohl erst am Sonntag Zeit gehabt haben, ihn zu lesen. Ausserdem wurden an diesem Sonntag die Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag 1917 durchgeführt (vgl. Beitrag zum 8. März 1917), da passt der Artikel:

Gross ist die Not in der jetzigen Zeit. Sie wächst von Tag zu Tag, und wird um so schlimmer, je schwieriger die Situation in unserer Stickereiindustrie sich gestaltet. Kummer und Sorge sind die ständigen Gäste der arbeitenden Bevölkerung. Wer in dieser traurigen Periode des unheilvollen Weltkrieges mit offenen Augen Beobachtungen in den Wohnungen der Arbeiterfamilien anstellt, der muss leider wahrnehmen, wie diese der Unterernährung ausgeliefert sind, der kann besonders ein wirkliches Elend des Frauendaseins konstatieren.

Kaum öffnet die Hausfrau morgens die Augen, so verfällt ihr ganzes Denken der Sorge ums liebe Brot. Die reichen Leute leiden trotz der ständigen Verteuerung der Lebenshaltung nicht unter Nahrungsmittelsorgen. Zum Teil haben sie sich mit allem Möglichen versorgt, und sodann können sie sich mit ihrem Geld den Unterhalt noch ganz wohl und nach Belieben verschaffen. Anders beim armen Schlucker. Gewiss schafft ihnen die Abgabe billiger Lebensmittel einige Erleichterung, besonders wenn die Behörden sich zuu einer bessern Organisation verstehen, die nach den Erfahrungen der letzten Verkäufe sehr notwendig ist. Aber gleichwohl greifen Sorgen und Not in den Arbeiterfamilien weiter um sich und es gehört heute gar nicht viel soziales Verständnis dazu, um das Elend der Arbeiterhausfrauen in seiner ganzen Tragweite zu erfassen.

Die Not des Lebens, die innerhalb der Arbeiterklasse zur treibenden Kraft für die Vermehrung der Frauenarbeit wurde, hat die Frau immer mehr in die Erwerbsarbeit, in den Dienst des Kapitals getrieben, Hunderte und Tausende müssen schwere Lohnarbeit verrichten, weil sonst gar keine Möglichkeit besteht, die Familie durchzubringen. Hat dann die Arbeiterin ihre lange Arbeitszeit hinter sich, dann ist sie nicht fertig, der Feierabend winkt ihr nicht, soweit sie verheiratet ist. Denn nun beginnt für sie erst die notwendige Hausarbeit. Alles lastet auf den Schultern dieser schon abgerackerten, müden Lohnarbeiterin. Viele Stunden müssen für die Besorgung des Haushaltes verwendet werden, und für den Schlaf bleibt nur eine kurze Zeit übrig.

Ein paar Stunden Schlaf! Ja wenn diese für ruhigen Schlaf zur Verfügung ständen. Aber die verheiratete Arbeiterin und Hausfrau muss auch die Kinder besorgen und manchmal recht viele. Nur wer selbst solche hat und recht erzieht, wird ermessen, welche Arbeit hier zu tun übrig bleibt. Noch dazu, wenn es sich um kleine Kinder handelt. Diese Mühe und Arbeit ist sehr gross. Wenn man solche Frauen sich betätigen sieht, wie sie mit den Kindern verfahren, so ist in ihnen eine unheimliche Ruhe zu beobachten. Sie arbeiten wie ein Automat, werden vollkommen zur Maschine. Die Seele scheitn nach und nach zu vertrocknen. Wie viele solcher Frauen gibt es, die nicht mehr lachen, ja kaum mehr weinen können. Die Seele, das Gefühl stumpft ab.

Was hat diese Frauen dahin gebracht? Die unendliche Last der Arbeit, welche die Kräfte vom frühesten Morgen bis spät in die Nachtstunden in Atem hält und keinen ruhigen, erquickenden Schlummer gewährt. Der ewige Schacher mit Rappen, der ständige Kampf mit den Tücken des täglichen Lebens zermürbt die armen Frauen. Es ist ein tragisches Geschick, das auf denselben latete, die unter dem Doppelberuf als Arbeiterin, Hausfrau und Mutter zu leben haben. Und so vielfach werden sie verkannt, wird ihnen zu wenig soziales Verständnis entgegengebracht, wie wir letzthin wieder bei einer bürgerlichen Dame wahrnehmen mussten, die noch eine gewisse Rolle in der sozialen Fürsorge spielen will. Diese Leute können eben nicht aus ihrer Haut heraus; sie schliessen von sich aus auf andere und die Vergleiche sind in den meisten Fällen nicht zutreffend. Sie begreifen nicht, wie unsäglich schwer der Kampf all dieser geplagten Frauen ist, dass es mit Worten kaum gesagt werden kann. Das Zuviel an Arbeit knickt den Frühling der Arbeiterin, es beugt ihren Rücken und verlöscht den Glanz ihrer Augen, frühzeitig gräbt es die Runzeln des Alters und der Sorge in ihr Antlitz, es gefährdet ihre Gesundheit und fortwirkend die des Kindes, das sie gebäret [sic], die Ueberbürdung zerstört das Familien- und das Innenleben, hemmt die geistige Weiterentwicklung und lässt den Gedanken an Kampf und Widerstand gar nicht mehr aufkommen, sondern macht die Frau zur müden Arbeitssklavin.

Das alles ist trostlos und zwar um so mehr, weil eine Besserung der Situation für lange nicht zu erwarten, im Gegenteil zu befürchten ist, dass infolge Arbeits- und Verdienstlosigkeit eine noch schlimmere Periode anbreche. Mit tiefer Trauer erfüllt es den Menschenfreund, wenn er in die Verhältnisse der Arbeiterfamilien hineinsieht und wahrnehmen muss, wie Mann und Frau unter der Misere des Tages zugrunde gehen, langsam aber sicher. Wie gerne würde man da helfend eingreifen, die Leute herausheben aus dem Jammer, der sie umgibt. Aber wenn man ihnen klar machen will, dass es doch einen Weg gebe, indem man sich aufraffe, zur Wehre setze, den Klassengenossen anzuschliessen [sic], dann stösst man vielfach auf Verständnislosigkeit und Gleichgültigkeit, weildiese Frauen ihr Los als unabwendbares Schicksal betrachten und dasselbe mit der dem weiblichen Geschlecht eigenen Duldsamkeit tragen.

Und doch ist es möglich, die vermeintliche Schwäche dieser Armen in Stärke umzuwandeln. Es ist der Zusammenschluss, die Eingliederung in die Reihen aller derjenigen Frauen, welche am morgigen Frauentag als Gleichverpflichtete auch Gleichberechtigung mit dem Manne verlangen, das Frauenwahlrecht, durch das sie im eigenen und im Interesse ihrer Klasse Reformen zu erzwingen vermögen, die notwendig sind, um ihnen und den Ihrigen das Leben zu erhellen und zu erleichtern, sie kampffähig zu machen gegen kapitalistische Ausbeutung, sie zu stärken für ihren wirtschaftlichen, geistigen und moralischen Aufstieg, und ihnen ein Mittel zur Erweckung, Sammlung und Schulung der Indifferenten zu geben.

Da geht der Ruf an all die geknechteten Frauen in der heutigen Gesellschaft, die nicht das mindeste Mitspracherecht im Wirtschaftsleben, im Staate, in der Gemeinde haben, sich vor Augen zu führen, dass gegen die bestehende und wachsende Unterdrückung und Rechtlosigkeit nur die gewerkschaftliche und politische Organisation erfolgreich ankämpfen kann. Sie stellt hinter Eure Schwäche als Einzelne die Kraft der Vielheit und dieselbe ringt erfolgreich um bessere Daseinsbedingungen für Euch alle. Begreift das, ihr geplagten Frauen, kommt zu uns in unsere Organisationen, den Arbeiterinnenverein, die Gewerkschaften. Da werdet Ihr Verständnis, Unterstützung, Hilfe finden, Trost und neue Hoffnung, warme Lebenskraft, in der Erkenntnis, dass die Welt nicht so bleiben, sondern umgestaltet werden muss, damit auch die Arbeiterfrauen ein menschenwürdiges Dasein erhalten.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P908 (Die Volksstimme, Sozialdemokratisches Tagblatt für die Kantone St.Gallen, Appenzell, Graubünden und Glarus, 10.03.1917, Text) und W 054/5.1.38 (Bild aus: Roberto Wenner (Hg.): Manifatture Cotoniere Meridionali Roberto Wenner e C. / Industrie Tessili Napoletane, Neapel 1917)

Donnerstag, 8. März 1917 – Internationaler Frauentag

Der «Internationale Frauentag» war aus der deutschen Arbeiterbewegung heraus erwachsen und 1911 erstmals in verschiedenen Ländern Europas und in den USA durchgeführt worden. 1916 war er in der Ostschweiz noch kein Thema gewesen, um so mehr wurde er 1917 in der sozialdemokratischen Presse beworben: Warum wird der Frauentag gefeiert? hiess es am 8. März auf der Frontseite der Volksstimme:

Der Frauentag ist ein Festtag des Proletariats. An diesem Tage wird die Macht der neuanwachsenden Kampfesarmee – der Proletarierinnenarmee – demonstriert. Und deshalb ist dieser Tag von so grosser Wichtigkeit für die gesamte Arbeiterklasse – für die Proletarier wie für die Proletarierinnen. An diesem Tag ist das gesamte klassenbewusste Proletariat von einerm brennenden Wunsche beseelt: die Frau von ihrem Sklaventum zu befreien, sie als zielbewusste Kampfesgenossin für den Sozialismus in die Reihen der kämpfenden Arbeiterschaft mithereinzuziehen.

Bitter, kummervoll ist das Leben des Proletariers, noch unerträglicher ist das Los der Proletarierin. Ein dreifaches Joch lastet auf ihren Schultern. Vom Kapitalisten wird sie viel stärker als der Mann ausgebeutet – ihr Arbeitslohn ist niedriger, ihr Arbeitstag länger als derjenige des Mannes. Wenn für den Arbeiter die Stunde des Feierabends schlägt, harrt der erwerbstätigen Frau eine Reihe von Pflichten als Mutter und Hausfrau. Weder zum Lesen, noch über ihre klägliche Lage nachzudenken, bleibt ihr Zeit übrig. Stumpfsinnig wie eine Galeerensklavin, schafft sie Tag und Nacht.

Unwillkürlich denkt man am Frauentag an den verstorbenen grossen Führer der Arbeiterklasse – an August Bebel. Niemand hat so leidenschaftlich für die Befreiung und Gleichstellung der Frau gekämpft wie August Bebel. Niemand bemühte sich in solchem Masse, die Frau dem Sozialismus zuzuführen, als das Bebel sein Leben lang getan hat.

August Bebel, selbst Proletarier, der die Lage der Arbeiterklasse wie noch keiner kannte, hat schon vor Jahrzehnten ganz klar vorausgesehen, was für eine grosse Rolle die Frauenarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft spielen wird. Als Politiker und Führer der Arbeiterklasse, hat er die Bedeutung des möglichst baldigen Heranziehens der Proletarierinnenarmee in die Reihen des kämpfenden Proletariats richtig einzuschätzen verstanden. Für ihn war die sozialistische Frauenbewegung von jeher Teil der gesamten Arbeiterbewegung. Deshalb war Bebel sein Leben lang einer der flammendste Kämpfer für die Freiheit und Gleichheit der erwerbstätigen Frau. Schon im Jahre 1896 hat er im deutschen Reichstag die Forderung der vollen Gleichberechtigung der Frauen aufgestellt. Noch in seinen «Erinnerungen», diesem letzten Buche, das Bebel der kämpfenden Arbeiterklasse geschenkt hat, hielt er es für nötig, mit besonderem Nachdruck hervorzuheben, wie wichtig es für jeen kämpfenden und denkenden Mann ist, in seiner Frau eine Kampfesgenossin zu haben. «Ich wäre lange nicht imstande gewesen, das zu leisten, was ich geleistet habe, wenn meine Frau mich nicht unterstützt hätte,» sagte Bebel. Die Arbeiter aller Länder müssen nun einsehen, dass mit der Heranziehung der Arbeiterinnen in die Reihen des kämpfenden Proletariats diese Reihen sich verdoppeln werden, ihre Widerstandskraft wachsen wird, ihr Kampf siegreicher sein wird.

Wie ist der Frauentag entstanden?

Am Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Jahre 1908 wurde beschlossen, der Organisation der Frauen spezielle Aufmerksamkeit zu schenken. Im Jahre 1910  wurde an der internationalen sozialistischen Konferenz in Kopenhagen beschlossen, den Frauentag zu feiern. Und seit 1911 gibt es kein grösseres Arbeiterzentrum auf der Erde mehr, wo dieser Tag nicht durch Versammlungen oder Demonstrationen gefeiert wird. Nie aber war der Frauentag von solcher Bedeutung für die gesamte Arbeiterklasse, wie gerade jetzt während des Krieges.

32 Monate tobt der Menschenmord. Ungeheuer sind die Opfer, die die Arbeiterklasse für die Interessen der Kapitalisten erbracht hat. Unermesslich ist die Zahl der gemordeten Proletarier, ungeheuer die Zahl der Arbeiter, die zu Krüppeln für ihr ganzes Leben gemacht sind. In Trümmern liegt die Internationale. Enthauptet sei die Hydra, jetzt sind wir die Arbeiterbewegung endlich los – so meinen die Kapitalisten.

Nein – erwidert die klassenbewusste Arbeiterschaft -, wir sind geschwächt, aber nicht besiegt. Aus den Ruinen wird ein neues Leben aufblühen.. Unsere getöteten Brüder werden durch neue Kämpfer ersetzt werden. Eine neue Armee ist entstanden: Die Proletarierinnenarmee.

Sieben bis acht Millionen neue Arbeiterinnen sind während des Krieges in die Fabriken und Werkstätten eingezogen. Sie sind dreifach unterdrückt und dreifach ausgebeutet. Ihre Leiden und Entbehrungen sind unbeschreiblich. Aber sie werden zur sozialistischen Partei kommen, sie müssen zu Kämpferinnen werden.

Die Frauen haben gezeigt, dass sie imstande sind, Kanonen und Gewehre, Granaten und Bomben zu produzieren, mit denen die Arbeiter  eines Landes ihre Brüder aus dem anderen Lande für die Interessen der Kapitalisten niedergemetzelt haben. Die Arbeiterfrauen müssen jetzt zeigen, dass sei auch verstehen, ihren Brüdern im revolutionären Kampfe für den Frieden, für den Sturz der bürgerlichen Regierungen, für den Sozialismus tatkräftig beiseite zu stehen.

Es lebe der Frauentag, es lebe der Kampf für den Sozialismus! Mit diesen Worten wenden sich heute die aufgeklärten Arbeiter aller Länder an die Arbeiterfrauen. Sie reichen ihnen die Bruderhand zum Kampfe für die Befreiung der Welt. In diese Bruderhand müssen wir einschlagen, Genossinnen.

Zina

Die gleiche Ausgabe der Volksstimme enthielt einen Auszug aus dem Referentenverzeichnis zum Frauentag, das der Zentralvorstand des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes zusammengestellt hatte. Da der 8. März 1917 auf einen Donnerstag, einen Werktag, fiel, waren die meisten Veranstaltungen auf Sonntagnachmittag, den 11. März, anberaumt. Die Vorträge behandelten die Fragen: «Warum können die Frauen nicht länger die politische Gleichberechtigung entbehren? Wie kann unser Kampf gegen Militarismus und Teuerung wirksamer entfaltet werden?»

Im Kanton St.Gallen referierten gemäss dieser Liste: der Jurist und Politiker Johannes Huber-Blumberg aus Rorschach in Henau, Emil Küng aus Zürich in Rapperswil, Marie Meier-Zähndler aus Herisau in Rorschach, die Frauenrechtlerin und Journalistin Dr. Angelica Balabanoff aus Zürich in St.Gallen und der Politiker Oskar Schneeberger aus Bern in Uzwil. Die Feministin Rosa Bloch aus Zürich war auf einer kleinen Ostschweiz-Tour: Am Abend des 10. März sprach sie in Davos, am Folgetag in Chur und am 18. März schliesslich noch in Arbon. Auch Angelica Balabanoff war ein zweites Mal zu hören, so am Abend des 11. März in Herisau. In Frauenfeld referierte Lehrer O. Kunz aus Wila, und in Weinfelden trugen Julie Halmer und der Präsident der Arbeiterunion, Moses Mandel aus Zürich, vor.

So prominent die Volksstimme im Vorfeld für den Frauentag geworben hatte, so bescheiden war hinterher ihre Berichterstattung darüber. Ein einziger, 17-zeiliger Beitrag über das Referat von Angelica Balabanoff in St.Gallen erschien am 12. März: Die Referentin […] verstand es vortrefflich, mit ihren zu Herzen gehenden Worten die Zuhörer an sich zu fesseln[,] und ihr mit grossem Beifall aufgenommenes Referat tendierte dahin: Frauen und Töchter, schliesst euch der Organisation an, kämpft gegen den Kapitalismus und Militarismus, kämpft für das gleiche Wahlrecht und helft mit, die heutige verkehrte Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Die vorgelegte Resolution, die sich speziell auf die Verbesserung der ökonomischen Lage der Frauen bezieht, fand einstimmige Annahme. Der Arbeitermännerchor verschönerte die Feier mit einigen passenden Liedervorträgen.

Nächster Beitrag: 10. März 1917 (erscheint am 10. März 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P908 (Die Volksstimme, Sozialdemokratisches Tagblatt für die Kantone St.Gallen, Appenzell, Graubünden und Glarus, 08.03.1917, Text; das Beitragsbild mit dem Aufruf zur Teilnahme findet sich in den Ausgaben vom 09.03.1917 und 10.03.1917)