Samstag, 16. November 1918 – Überall Unruhen und Revolutionen

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

November 1918 Auch der Kaiser, verschiedene Fürsten & der Reichskanzler mussten abdanken. Es ist eine schreckliche Zeit. Überall Unruhen & Revolutionen. – Die Bewegung der Sozialisten verbreitet sich auch in die Schweiz. Vom 11.-16. Nov. haben wir Generalstreik. Tram & Eisenbahnen fahren nicht mehr. Jedoch Telegraph & Telephon halten den Verkehr aufrecht. Wir haben riesig zu arbeiten. 30 Frls. machen Nachtdienst, oder vielmehr ruhen auf Stroh in der alten Kontrolle. – Die ganze Streikaffaire kostete die Schweiz nicht weniger als 30 Millionen frs. – Zudem hat sich durch die Massenansammlungen die Grippe wieder derart verbreitet, dass in St.Gallen allein über 1500 Militärpersonen krank liegen. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918, 1. Juli 1918, 20. August und 13. Oktober 1918

Quelle: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser)

Montag, 11. November 1918 – Bolschewisten überall: Grippe und Landesstreik

Ernst Kind, der einundzwanzigjährige, frischgebackene Offizier der Schweizer Armee über die Lage in Europa, seine Sympathien nicht verhehlend:

8. November 1918: Folgende Worte, die ganz aus der momentanen Stimmung heraus, aber wie ich überzeugt bin, immerhin noch mit klarem Blick in die Verhältnisse geschrieben werden, sind vielleicth das letzte, was ich in ruhiger Umgebung schreiben kann. Man muss heute, wo die Idee des Bolschewismus wie eine scheussliche Seuchedurch alle Länder geht, mit jedem Tag den Ausbruch einer Revolution fürchten. Es ist alles, das ganze Unglück der jetzigen Lage, so rasend schnell gekkommen, dass man es noch nicht in seiner ganzen Wirklichkeit fassen kann. Die Kriegsereignisse seit dem Frühling sind wie ungeheure Schläge nacheinander gefolgt:

Im März begann die deutsche Kriegsoffensive. (Im Sommer 1917 war die russische Revolution zur vollen Wirkung gelangt, indem das Heer sich auflöste und die ungeleiteten Massen sich raubend u. plündernd im Land herumtrieben. Zum Schutz der Ukraine hatten die Deutschen Truppen dorthin [an dieser Stelle ein * im Text und oben der Hinweis: Forts. Am 11. Nov. 1918.] gesandt u. waren bis weit über die Krim hinaus vorgerückt. Dann war es zum Frieden von Brest-Litowsk gekommen, wodurch die Feindseligkeiten gegen die russische Sowietrepublik (Arbeiter- u. Soldatenrat: Lenin u. Trotzky) ein Ende erreichten. Die Ukraine schloss ein wirtschaftlich wichtiges Abkommen mit den Zentralmächten, indem sie deren Verproviantierung erleichtern sollte. Auch Rumänien wurde der Frieden von Bukarest aufgezwungen. So standen die Deutschen trotz scheusslicher u. drohender Fortsetzung der Revolution in Russland (Terror in Petersburg u. Moskau, fürchterliche Hungersnot, Cholera) im Osten gesichert da, u. hatten sich militärisch u. wirtschaftlich erleichtert. Aber doch hat jener Abschluss des Krieges im Osten u. die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Russland unendlich mehr geschadet als genützt. Die Revolution, der Bolschewismus, hatte nun freien Zutritt in Deutschland u. Österreich, indem die Sowjetgesandtschaften ihr Exterritorialitätsrecht so schändlich missbrauchten, dass sie in den Gesandtschaftshäusern ganze Magazine revolutionärer Propagandaschriften aufhäuften u. diese dann auf verborgenem Weg den deutschen u. österr. Arbeitern in  die Hände spielten. Jedenfalls ist in dieser Beziehung kolossal gearbeitet worden seit letztem Jahr; nur so lässt sich ds heutige Verhalten erklären. Auch in der Schweiz haben wir eine solche Sowietbotschaft erhalten, u. in unserem Lande hatte es die Agitation naturgemäss noch leichter als bei den Kriegführenden mit ihrer Zensur u. ihrem teilweisen Belagerungszustand. –

So viel glaubte man aber allgemein, dass Deutschland jetzt im Osten frei, seine überzähligen Truppen an den Westen transportieren u. dort die Entscheidung suchen werde. In Italien erfolgte der Sturm im Okt. 1917. Mit deutschen Truppen an den entscheidenden Stellen griff das österreichische Heer auf riesiger Front an, brach am Isonzo durch u. brachte das italienische Heer zu einem grauenhaften Rückzug, vielmehr zu einer Flucht. (Katastrophe am Tagliamento, wo 60000 Mann sich ergaben). Erst hinter dem Piave kam der Angriff an französ.-englischen Hilfstruppen zum Stehen. Italien erholte sich bald wieder. Im Frühling 1918 kam es dann eben dort zum Generalangriff, wo einzig die Hauptentscheidung fallen konnte, in Frankreich. In mehreren furchtbaren Offensivstossen [sic] stiessen die Deutschen in Frankreich vor. Zu äusserst westlich erreichten sie beinahe die Ränder von Amiens u. im Süden der Angriffsfront erreichte man die Marne, zum zweitenmal der Schicksalsfluss. Foch’s Reserven (Foch war durch die Not zum Generalissimus der Entente geworden) waren aber nicht erschöpft, ungeheure Massen kamen aus Amerika; der U-Bootkrieg versagte den Transporten gegenüber, jeden Monat kamen seit Mai 1918 durchschnittlich 300000 Mann. Mit diesen u. seinen letzten Kräften an Franzosen u. Engländern setzte Foch zum Gegenangriff an. (Mitte Juli.) Und das ist die Peripetie des grossen Dramas. Von da an kam Schlag auf Schlag das Unglück über Deutschland. Zu schwacb gegen die Übermacht, Mangel leidend an Material wie an Nahrung, schliesslich verlassen u. verraten von allen Bundesgenossen, schliesslich verlassen u. vor allem, durchseucht vom Bolschewismus, d.h[.] gelähmt an seiner inner Kraft, ist es jetzt zusammengebrochen, militärisch viel weniger als politisch.

Die Ereignisse folgten sich etwa so: Durch die vielerorts erfolgten übermächtigen Tankoffensiven der Alliierten (der Unzahl der Tanks vermochte die deutsche Artillerie nicht mehr beizukommen; selbst hatten sie von dieser Waffe fast nichts.) wurden die Deutschen zur Aufgabe aller in diesem Frühling eroberten Gebiete gezwungen. Dann kam der Rückzug zum Stillstand. Vor diesem deutschen Rückzug ist es noch bei den Österreichern zu einer unglücklichen Offensive gekommen. Ein Vorstoss über den Piave drang nicht durch, der ausserordentlich anschwellende Strom unterbrach die Verbindungen u. so kam die Notwendigkeit eines mühsamen, deprimierenden Rückzuges über den Piave.

Im Herbst nahm das Unglück ein rasendes Tempo an. Bulgarien verriet die Bundesgenossen u. liess nach einer militärischen Kommödie [sic] die Entente einmarschieren. Die Verbindung mit dem Orient war verloren. Die Entente beherrschte Bulgarien u. drang durch ganz Serbien vor. Gleichzeitig erlitten die Türken in Palästina geradezu vernichtende Niederlagen u. schlossen ganz nach den Bulgaren einen Waffenstillstand, der eine Kapitulation war Als letzter Verbündeter Deutschland[s] kam Österreich mit dem unerhörtesten Verrat. Das alte habsurg. Reich fiel auseinander. In 1 Woche erklärten die einzelnen Staaten der zusammengewürfelten Monarchie ihre Selbständigkeit. Einem italienischen Angriff leistete das Heer noch kurzen Widerstand, während hinten im Land der reinste revolutionäre Hexensabbat los war Dann löste sich die Armee einfach auf, schloss einen schleunigen Waffenstillstand, u. Kaiser Karl zögerte nicht, Sonderfriedensverhandlungen zu unterbreiten. Aber auch so rettete er seinen Tron [sic] nicht mehr. Österreich hat kapituliert wie kaum vorher ein Staat. In seinem Innern wütet die Revolution, u. die Entente hat das Recht, das Land zu besetzen. Vor einer guten Woche ist es aber zum Schlimmsten gekommen. Auch Deutschland hat die Revolution. Alles ist in Bewegung. Ludendorff ist schon länger zurückgetreten. In der Flotte haben kolossale, blutige Meutereien stattgefunden, Arbeiter- u. Soldatenräte traten überall zusammen; Bayern wurde über Nacht Republik, am 9. Nov., also vorgestern hat der deutsche Kaiser Wilhelm II abgedankt u. der Kronprinz verzichtet u. heute am 11. Nov. ist der Waffenstillstand mit der Entente abgeschlossen worden, der Deutschland jedenfalls wieder zum Sklaven macht, und eine furchtbare Katastrophe für lange sein wird. Möge nur um alles der Bolschewismus nicht lange triumphieren, sonst stirbt das, was man bisher echt deutsch nannte. Der deutsche Staat ist ja bereits gestorben, ohne einem verjüngten Wesen Platz zu Machen.

Jetzt komme ich auf unsere Verhältnisse zu sprechen. Sie sind bitter ernst, verzweifelt ernst. Letzte Woche hatten die Bolschewiki, deren wir ja so viele haben, den Jahrestag der russ. Revolution feiern wollen; dabei war ein gewaltsamer “Putsch” geplant. Da hat nun der zürcherische Regierungsrat offenbar sehr Angst bekommen und endlich einmal dringend Truppen in Bern verlangt. Und glücklicherweise hat man auch dort den Ernst der Sache erfasst und gleich energisch vorgesorgt. Innert 2 Tagen wurden 4 Inf. Regimenter und sämtliche 4 Kav.brigaden aufgeboten; die Kavallerie, hauptsächlich Bauern, war eine bestimmt zuverlässige Truppe, und an Infanterie hatte man auch gute Leute ausgewählt, vor allem Thurgauer u. Luzerner Truppen. Am 8. Nov. war bereits ein Regiment Inf. und eine Kav.brigade in und um Zürich bereit. –

Offenbar fand Ernst Kind vor der Jahreswende nicht Zeit, über den Fortgang und Ausgang des Landesstreiks zu schreiben. Erst am 13. Januar 1919 notierte er wieder in sein Tagebuch:

Fortsetzung am 13. Januar 1919.

Am 9. Nov. verreiste Papa per Auto an die Grenze, als stellvertretender Kommandant der 5. Division. Für den selben Tag war in der ganzen Schweiz ein 1-tägiger “Proteststreik[“] verkündet worden, Protest gegen das “herausfordernde” Truppenaufgebot. Soviel man nachher erfuhr, ist dieser Proteststreik nur in Zürich einigermassen zur Ausführung gekommen; er war eben nicht vorbereitet; auch gaben die zahlreichen Truppen jedenfalls vielen Arbeitswilligen den Mut, an ihrer Arbeit zu bleiben. Vormittags fuhren sogar die Strassenbahnen, allerdings nur die Leute vom Personal, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten, falls man ihnen Schutz zusichere. Deshalb standen vorn u. hinten auf der Plattform je 3 Mann Feldgraue mit aufgepflanztem Bajonett. Nachmittags musste der Tramverkehr trotzdem eingestellt werden.

Immerhin, schlimm war dieser Tagesstreik noch nicht; die Geschäfte und Läden waren zum grössten Teil offen; Gaswerk, Elektrizitätswerk u. Wasserwerk arbeiteten ruhig weiter, trotzdem man am Freitag abend schon das Gegenteil befürchtet hatte, und infolgedessen noch Badewanne, Eimer u. Krüge mit frischem Wasser gefüllt hatte! (Ich verwechsle das; erst am Montag, 11. Nov. morgens tat man das, als infolge Weiterdauerns des Streiks darob Befürchtungen entstanden.) Der Sonntag verging sehr unruhig, riesenhafte Demonstrationen infolge der bolschewistischen Agitation fanden im Stadtinnern statt. Das Militär sperrte wichtige Plätze ab. Beim Räumen des Fraumünster- und Paradeplatzes waren die Truppen gezwiugen, zur Warnung scharfe Salven über die Köpfe der Radaumacher hin abzugeben. Das Strassenbild war kaum zu vergleichen mit normalen Zeiten: Keine Strassenbahn, dafür häufig Militärlastautomobile mit schussbereiten Soldaten besetzt, sogar z.T. mit Maschinengewehren ausgerüstet. Auf alle Fälle spürte man, die Sache war noch nicht zu Ende mit dem Samstagsstreik.

In der Sonntagnacht beschloss wirklich das Oltener Aktionskomité [sic] eine Fortsetzung und Ausdehnung des Streikes im ganzen Land (das Oltener Komité ist so eine Art Sowiet, der gern die Nebenregierung neben dem Bundesrat spielt u. darauf ausgeht, schliesslich ganz ans Ruder zu kommen.) Also ging der gefährliche Unsinn am Montag weiter, auf unbestimmte Zeit; man wollte es auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wer es länger aushalte, die Bolschewiki oder der schweizerische Bürger. Hier sind am Montag wieder gewaltige Demonstrationen veranstaltet worden. Jetzt stockte aller Verkehr, auch alle Bahnen und der Briefpostverkehr. Bei Zusammenstössen mit Demonstranten ist ein Soldat erschossen worden; abends veranstaltete unsere national gesinnte Studentenschaft eine Zusammenkunft, um zu beraten, wie man helfen könnte, um die gestörten Betriebe wieder in Gang zu setzen. Vor allem sollte dem empörenden Schauspiel abgeholfen werden, dass an allen Ecken das ketzerische «Volksrecht» , unser Bolschewikiblatt, feilgeboten wird, während keine einzige bürgerliche Zeitung erscheinen kann. Die Versammlung war voll guten Willens zum patriotischen Helfen, wenn es auch infolge der Erregung dabei sehr laut herging. Ich habe mir dort den Keim zur zweiten Grippe geholt und habe das leidige Übel schon in er Nacht gehabt. Abends erfuhr ich noch neue Truppenaufgebote, beinahe 2 ganze Divisionen. Im Ganzen werden wir wegen dieser innern Unruhen etwa 60000 Mann aufgeboten haben. – Wie gesagt was nach dem Montag während des Streiks passiert ist, kenne ich nur aus der Zeitung u. vom Hören. Ich lag mit Grippe im Bett. Doch freute mich schon am Dienstag die Mitteilung, dass unter Mithilfe unserer Studenten ein bürgerliches Blatt herauskam, die nationale «bürgerliche Presse Zürichs». Vom Mittwoch an vertrugen meine Kommilitonen auch die Brief- u. Packetpost [sic]! Und in der Mittwochnacht sahen die Oltener Leute endlich ein, dass ein russisches Programm in der Schweiz noch nicht durchführbar ist, und sie gaben den Kampf auf; d.h. sie unterwarfen sich. Der endlich in der Not befolgte Zusammenschluss der Bürger hat ein drohendes Unheil abgewendet. Die Soldaten blieben aller Agitation gegenüber taub. Hingegen ist es oft vorgekommen, dass sie einen der ärgsten Schreier gehörig verklopft haben, wie es solchem unerzogenen frechen Jungburschengesindel gegenüber am besten ist.

Allmählich ist dann alles wieder zur Ruhe u. wieder in Gang gekommen. Seither steht ständig ein Regiment in und um Zürich bereit, neuen Putschen gleich entgegen zu treten. Doch bin ich überzeugt, dann ginge es schlimmer zu, blutiger. Unsere Truppen haben unter der Grippe während des Streiks schwer gelitten; über 800 Tote haben sie in der ganzen Schweiz verloren, einzig, weil der Streik sie zusammengeführt hat. Ein zweites Mal würden sie kaum mehr über die Köpfe schiessen, die Empörung u. der Rachedurst ist zu gross. –

Nachdem endlich die Spartacusbewegung in Berlin nach scheusslichen Strassenkämpfen niedergeworfen worden ist, glaube ich nicht, dass bei uns der Kampf wieder losgeht. Auf eine Wiederholung ist man aber, soviel ich merke, militärisch sehr gut vorbereitet. Ich bin der neugegründeten Stadtwehr beigetreten, die sich organisiert hat, um Eigentum und Arbeit bei neuen bolschewistischen Versuchen zu schützen. Seit 31. Dez. 18 bin ich Leutnant. (Kp. III/70, Zürich, Landschaft.)

Flugblatt Rückseite

Quelle; Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Einträge vom 08.11.2018, 11.11.1918 und 13.01.1919; zusätzliche Absätze zur besseren Lesbarkeit eingefügt) und W 240/1.3-11.4 (Beitragsbilder: Dokumentation von Jakob Jäger, 1874-1959, über den Landesstreik, Flugblatt der Volksstimme zum 13. November 1918, Vorder- und Rückseite)

Metallarbeiter Rorschach

Mittwoch, 21. März 1917 – Streik in Rorschach beigelegt

Die sozialdemokratische Volksstimme hatte schon zwei Tage vorher in einem eher dürren Communiqué berichtet:

Rorschach. Der Konflikt in der Maschinenfabrik Amstutz, Levin & Cie. konnte am Samstag beigelegt werden, indem eine Einigung zustande gekommen ist. Die Arbeit ist heute Montag wieder aufgenommen worden.

An vielen Orten in der Schweiz fanden in diesen Wochen Streiks in der Maschinenindustrie statt, so z.B. auch in Oerlikon. Die Lage war angespannt. Welche Hintergründe der Streik in Rorschach hatte, lässt sich im zusammenfassende Bericht des Tagblatts vom 21. März 1917 nachverfolgen:

Ein beigelegter Streik in Rorschach.

(Korr.) in der Maschinenfabrik Amstutz, Levin & Cie. wurde, wegen regelrecht erfolgter Kündigung eines Arbeiters, von etwa 500 Mann die Arbeit niedergelegt. Beide Parteien riefen am Montag den Regierungsrat um Vermittlung an. Unter Leitung von Herrn Landammann Riegg fanden letzten Mittwoch im Rathaus Rorschach Verhandlungen statt, aber ohne Erfolg, weil die Arbeiter in zwei nachherigen Versammlungen einstimmig beschlossen, an der Forderung auf Wiedereinstellung festzuhalten. Die Gemeindebehörde nahm am Donnerstag die Verhandlungen wieder auf. Auf einen Artikel in der «Volksstimme» war die Firma am Freitag zu einer Richtigstellung in den Rorschacher Blättern genötigt, was die Aussicht auf gütliche Einigung nicht verbesserte. Von Bern erschien am Samstag der Adjunkt  des Metallarbeitersekretariates, während die Gemeindebehörde sich alle Mühe gab, um die Schliessung der übrigen Teile des Geschäftes und einen allgemeinen Streik zu verhindern. Als dann am Samstag mittag rote Plakate zu einer Volksversammlung auf Sonntag mittag einluden, stand die Entscheidung auf des Messers Schneide. Da die einsichtigen Arbeiterführer von Anfang an gegen den STreik waren, haben sie auch diesen Aufruf missbilligt und sich alle Mühe gegeben, den von der Kündigung betroffenen Arbeiter zu einem Vergleich zu bewegen. Die Verhandlungen vom Samstagnachmittag führten zum Ziel; die Arbeiterversammlung genehmigte fast einstimmig das Entgegenkommen der Firma bei Aufrechterhaltung der Kündigung, und beschloss, am Montag die Arbeit wieder aufzunehmen. Da die Metallarbeiter ausserordentlich guten Verdienst haben, hätte man es in der Bevölkerung nicht begriffen, wenn wegen einer solchen «Machtfrage» ein Streik mit seinen bösen Folgen ausgebrochen wäre. 

Landammann Riegg, der erste Vermittler in dieser Angelegenheit sah zu dieser Zeit ungefähr so aus, wie auf dem Bild links.

Leider sind im Archiv der Sektion Rorschach der Metallarbeitergewerkschaft die Protokolle der Jahre 1906 bis 1929 nicht erhalten geblieben. So lässt sich nicht nachvollziehen, wie die betroffenen Arbeiter selbst die Situation erlebten. Im Beitragsbild sieht man die Aufschrift im Innendeckel des ersten Protokollbandes dieser Sektion, das sich im Archiv der Unia im Staatsarchiv St.Gallen befindet.

Nächster Beitrag: 24. März 1917 (erscheint am 24. März 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 907 (Volksstimme, 19.03.1917) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 21.03.1917, Morgenblatt); BMA 398 (Porträt Landammann Alfred Riegg-Saxer, zwischen 1910 und 1920) und W 240/2.1-2.01 (Protokollbuch der Sektion Rorschach des Schweizerischen Metallarbeitergewerkschaft, Einbandseite)

Donnerstag, 8. März 1917 – Internationaler Frauentag

Der «Internationale Frauentag» war aus der deutschen Arbeiterbewegung heraus erwachsen und 1911 erstmals in verschiedenen Ländern Europas und in den USA durchgeführt worden. 1916 war er in der Ostschweiz noch kein Thema gewesen, um so mehr wurde er 1917 in der sozialdemokratischen Presse beworben: Warum wird der Frauentag gefeiert? hiess es am 8. März auf der Frontseite der Volksstimme:

Der Frauentag ist ein Festtag des Proletariats. An diesem Tage wird die Macht der neuanwachsenden Kampfesarmee – der Proletarierinnenarmee – demonstriert. Und deshalb ist dieser Tag von so grosser Wichtigkeit für die gesamte Arbeiterklasse – für die Proletarier wie für die Proletarierinnen. An diesem Tag ist das gesamte klassenbewusste Proletariat von einerm brennenden Wunsche beseelt: die Frau von ihrem Sklaventum zu befreien, sie als zielbewusste Kampfesgenossin für den Sozialismus in die Reihen der kämpfenden Arbeiterschaft mithereinzuziehen.

Bitter, kummervoll ist das Leben des Proletariers, noch unerträglicher ist das Los der Proletarierin. Ein dreifaches Joch lastet auf ihren Schultern. Vom Kapitalisten wird sie viel stärker als der Mann ausgebeutet – ihr Arbeitslohn ist niedriger, ihr Arbeitstag länger als derjenige des Mannes. Wenn für den Arbeiter die Stunde des Feierabends schlägt, harrt der erwerbstätigen Frau eine Reihe von Pflichten als Mutter und Hausfrau. Weder zum Lesen, noch über ihre klägliche Lage nachzudenken, bleibt ihr Zeit übrig. Stumpfsinnig wie eine Galeerensklavin, schafft sie Tag und Nacht.

Unwillkürlich denkt man am Frauentag an den verstorbenen grossen Führer der Arbeiterklasse – an August Bebel. Niemand hat so leidenschaftlich für die Befreiung und Gleichstellung der Frau gekämpft wie August Bebel. Niemand bemühte sich in solchem Masse, die Frau dem Sozialismus zuzuführen, als das Bebel sein Leben lang getan hat.

August Bebel, selbst Proletarier, der die Lage der Arbeiterklasse wie noch keiner kannte, hat schon vor Jahrzehnten ganz klar vorausgesehen, was für eine grosse Rolle die Frauenarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft spielen wird. Als Politiker und Führer der Arbeiterklasse, hat er die Bedeutung des möglichst baldigen Heranziehens der Proletarierinnenarmee in die Reihen des kämpfenden Proletariats richtig einzuschätzen verstanden. Für ihn war die sozialistische Frauenbewegung von jeher Teil der gesamten Arbeiterbewegung. Deshalb war Bebel sein Leben lang einer der flammendste Kämpfer für die Freiheit und Gleichheit der erwerbstätigen Frau. Schon im Jahre 1896 hat er im deutschen Reichstag die Forderung der vollen Gleichberechtigung der Frauen aufgestellt. Noch in seinen «Erinnerungen», diesem letzten Buche, das Bebel der kämpfenden Arbeiterklasse geschenkt hat, hielt er es für nötig, mit besonderem Nachdruck hervorzuheben, wie wichtig es für jeen kämpfenden und denkenden Mann ist, in seiner Frau eine Kampfesgenossin zu haben. «Ich wäre lange nicht imstande gewesen, das zu leisten, was ich geleistet habe, wenn meine Frau mich nicht unterstützt hätte,» sagte Bebel. Die Arbeiter aller Länder müssen nun einsehen, dass mit der Heranziehung der Arbeiterinnen in die Reihen des kämpfenden Proletariats diese Reihen sich verdoppeln werden, ihre Widerstandskraft wachsen wird, ihr Kampf siegreicher sein wird.

Wie ist der Frauentag entstanden?

Am Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Jahre 1908 wurde beschlossen, der Organisation der Frauen spezielle Aufmerksamkeit zu schenken. Im Jahre 1910  wurde an der internationalen sozialistischen Konferenz in Kopenhagen beschlossen, den Frauentag zu feiern. Und seit 1911 gibt es kein grösseres Arbeiterzentrum auf der Erde mehr, wo dieser Tag nicht durch Versammlungen oder Demonstrationen gefeiert wird. Nie aber war der Frauentag von solcher Bedeutung für die gesamte Arbeiterklasse, wie gerade jetzt während des Krieges.

32 Monate tobt der Menschenmord. Ungeheuer sind die Opfer, die die Arbeiterklasse für die Interessen der Kapitalisten erbracht hat. Unermesslich ist die Zahl der gemordeten Proletarier, ungeheuer die Zahl der Arbeiter, die zu Krüppeln für ihr ganzes Leben gemacht sind. In Trümmern liegt die Internationale. Enthauptet sei die Hydra, jetzt sind wir die Arbeiterbewegung endlich los – so meinen die Kapitalisten.

Nein – erwidert die klassenbewusste Arbeiterschaft -, wir sind geschwächt, aber nicht besiegt. Aus den Ruinen wird ein neues Leben aufblühen.. Unsere getöteten Brüder werden durch neue Kämpfer ersetzt werden. Eine neue Armee ist entstanden: Die Proletarierinnenarmee.

Sieben bis acht Millionen neue Arbeiterinnen sind während des Krieges in die Fabriken und Werkstätten eingezogen. Sie sind dreifach unterdrückt und dreifach ausgebeutet. Ihre Leiden und Entbehrungen sind unbeschreiblich. Aber sie werden zur sozialistischen Partei kommen, sie müssen zu Kämpferinnen werden.

Die Frauen haben gezeigt, dass sie imstande sind, Kanonen und Gewehre, Granaten und Bomben zu produzieren, mit denen die Arbeiter  eines Landes ihre Brüder aus dem anderen Lande für die Interessen der Kapitalisten niedergemetzelt haben. Die Arbeiterfrauen müssen jetzt zeigen, dass sei auch verstehen, ihren Brüdern im revolutionären Kampfe für den Frieden, für den Sturz der bürgerlichen Regierungen, für den Sozialismus tatkräftig beiseite zu stehen.

Es lebe der Frauentag, es lebe der Kampf für den Sozialismus! Mit diesen Worten wenden sich heute die aufgeklärten Arbeiter aller Länder an die Arbeiterfrauen. Sie reichen ihnen die Bruderhand zum Kampfe für die Befreiung der Welt. In diese Bruderhand müssen wir einschlagen, Genossinnen.

Zina

Die gleiche Ausgabe der Volksstimme enthielt einen Auszug aus dem Referentenverzeichnis zum Frauentag, das der Zentralvorstand des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes zusammengestellt hatte. Da der 8. März 1917 auf einen Donnerstag, einen Werktag, fiel, waren die meisten Veranstaltungen auf Sonntagnachmittag, den 11. März, anberaumt. Die Vorträge behandelten die Fragen: «Warum können die Frauen nicht länger die politische Gleichberechtigung entbehren? Wie kann unser Kampf gegen Militarismus und Teuerung wirksamer entfaltet werden?»

Im Kanton St.Gallen referierten gemäss dieser Liste: der Jurist und Politiker Johannes Huber-Blumberg aus Rorschach in Henau, Emil Küng aus Zürich in Rapperswil, Marie Meier-Zähndler aus Herisau in Rorschach, die Frauenrechtlerin und Journalistin Dr. Angelica Balabanoff aus Zürich in St.Gallen und der Politiker Oskar Schneeberger aus Bern in Uzwil. Die Feministin Rosa Bloch aus Zürich war auf einer kleinen Ostschweiz-Tour: Am Abend des 10. März sprach sie in Davos, am Folgetag in Chur und am 18. März schliesslich noch in Arbon. Auch Angelica Balabanoff war ein zweites Mal zu hören, so am Abend des 11. März in Herisau. In Frauenfeld referierte Lehrer O. Kunz aus Wila, und in Weinfelden trugen Julie Halmer und der Präsident der Arbeiterunion, Moses Mandel aus Zürich, vor.

So prominent die Volksstimme im Vorfeld für den Frauentag geworben hatte, so bescheiden war hinterher ihre Berichterstattung darüber. Ein einziger, 17-zeiliger Beitrag über das Referat von Angelica Balabanoff in St.Gallen erschien am 12. März: Die Referentin […] verstand es vortrefflich, mit ihren zu Herzen gehenden Worten die Zuhörer an sich zu fesseln[,] und ihr mit grossem Beifall aufgenommenes Referat tendierte dahin: Frauen und Töchter, schliesst euch der Organisation an, kämpft gegen den Kapitalismus und Militarismus, kämpft für das gleiche Wahlrecht und helft mit, die heutige verkehrte Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Die vorgelegte Resolution, die sich speziell auf die Verbesserung der ökonomischen Lage der Frauen bezieht, fand einstimmige Annahme. Der Arbeitermännerchor verschönerte die Feier mit einigen passenden Liedervorträgen.

Nächster Beitrag: 10. März 1917 (erscheint am 10. März 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P908 (Die Volksstimme, Sozialdemokratisches Tagblatt für die Kantone St.Gallen, Appenzell, Graubünden und Glarus, 08.03.1917, Text; das Beitragsbild mit dem Aufruf zur Teilnahme findet sich in den Ausgaben vom 09.03.1917 und 10.03.1917)