Sonntag, 3. Juni 1917 – Mütterliche Spionage, die Qual der Berufswahl und ein Romeo ohne seine Julia

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Die Tanzerei hat zwar am 16. Mai stattgefunden, aber gerade Margrit P. fehlte. Ich habe erst nachher gemerkt, dass es für mich so jedenfalls bedeutend einfacher war, als wenn sie dagewesen wäre; ich brauchte mich nicht lange zu besinnen, welche Seite ich herauskehren musste. Der Abend verlief ganz nett unter beständigem Tanzen. Etwa um 11 Uhr hörte man damit auf und machte noch ein Spiel. («Romeo und Julia», beide mit verbundenen Augen, wobei Romeo die Julia zu finden hat.) Zum Glück kam ich nicht in den Fall, Romeo zu sein. Ich hätte unter Umständen gerade heraus gesagt, ich finde keine Julia zum Mitspielen. Als man zum Schluss gemeinsam an einen Tisch sass und etwas trank, kam ich neben Margrit P.’s Freundin zu sitzen und erfuhr dabei, dass sie erkältet sei, was mir Gelegenheit gab, ihr gute Besserung zu wünschen durch Vermittlung dieser Freundin.

Seither weiss ich nichts weiteres von ihr. Doch habe ich das Gefühl, sie grüsse wieder deutlicher. Letzten Dienstag brachte mir Doris [Schwester von Ernst Kind] einen Gruss von ihr heim. Sie war in der «Elektra» gewesen, von der ich ihr früher ziemlich viel erzählt hatte; deshalb kam sie wohl darauf, mich das wissen zu lassen. –

Ich glaube, Mama hat mir in die obigen Zeilen gesehen, während ich mit Silvia [jüngere Schwester von Kind] eine etwas «bewegte Szene» erlebte, wie das ja oft vorkommt. Es wäre mir aber sehr unangenehm, wenn jemand hier hineinspürte; freilich wird sich Mama, wenn sie gelesen hat, alle Mühe geben, nichts merken zu lassen; bei Gelegenheit werde ich aber bald heraushaben, ob sie etwas von meinen Gefühlen in dieser Beziehung weiss.

Das Problem der Berufswahl fängt an für mich brennend zu werden. Ich erhielt schon das Aufgebot zur Rekrutenschule für den Juli, muss aber natürlich ein Urlaubsgesuch eingeben, weil ich sonst die Maturitätsprüfung nicht machen kann, die im September stattfindet und letzthin bereits mit einer Arbeit in Physik begonnen hat. Jetzt kommt nun mein künftiger Beruf sehr in Frage. Werde ich Arzt, so muss ich überhaupt eine ganz andere militärische Einteilung bekommen und eine Sanitäts-Rekrutenschule machen, während ich bisher zur Infanterie eingeordnet bin. (Ich habe nämlich stark daran gedacht, Medizin zu studieren, seit wir so ausgezeichnete Stunden in Anthropologie haben, (bei Prof. Dr. H. Bosshardt.) wobei wir uns vor allem sehr mit dem Nervensystem beschäftigen. Ich interessierte mich von jeher sehr für alle Lebensvorgänge in unserem Körper und dachte deshalb schon manchmal an das Studium der Psychiatrie.) Anderseits kämen noch in Betracht Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Zu diesen hätte ich grosse Lust; nur schreckt mich davon ab, dass man bei diesem Beruf notwendig Lehrer an irgend einer Schule werden muss. Denn vor dem Lehrer-werden graust mir. Die Entscheidung muss aber bald erfolgen; schon die eigene Unruhe zwingt mir den Entschluss ab. Woher kommt mir aber das Licht? Ich bin jetzt wie Chateaubriand auf Combourg [Bretagne], wo er und seine ganze Familie das «évènement» [gemeint ist wohl die Französische Revolution] abwarten, selbst aber eigentlich untätig dasitzen.

Das Grausen vor dem Pädagogendasein wird sich verflüchtigen: Ernst Kind wählt schliesslich doch den Lehrerberuf und unterrichtet ab 1925 an der Kantonsschule am Burggraben in St.Gallen. Von 1932-1963 wirkt er auch als deren Rektor. Seine Neigung zur Geschichte kann Kind auch im Historischen Verein des Kantons St.Gallen leben, dem er als Vorstandsmitglied und Präsident dient.

Das Tagebuch konnte mit einem kleinen Schloss gesichert werden (vgl. Abbildung).

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)