Samstag, 16. November 1918 – Überall Unruhen und Revolutionen

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

November 1918 Auch der Kaiser, verschiedene Fürsten & der Reichskanzler mussten abdanken. Es ist eine schreckliche Zeit. Überall Unruhen & Revolutionen. – Die Bewegung der Sozialisten verbreitet sich auch in die Schweiz. Vom 11.-16. Nov. haben wir Generalstreik. Tram & Eisenbahnen fahren nicht mehr. Jedoch Telegraph & Telephon halten den Verkehr aufrecht. Wir haben riesig zu arbeiten. 30 Frls. machen Nachtdienst, oder vielmehr ruhen auf Stroh in der alten Kontrolle. – Die ganze Streikaffaire kostete die Schweiz nicht weniger als 30 Millionen frs. – Zudem hat sich durch die Massenansammlungen die Grippe wieder derart verbreitet, dass in St.Gallen allein über 1500 Militärpersonen krank liegen. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918, 1. Juli 1918, 20. August und 13. Oktober 1918

Quelle: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser)

Praevention von Krankheiten

Sonntag, 13. Oktober 1918 – Nochmals Spanische Grippe

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

13. Oktober 1918 Auch bei uns in St.Gallen sind alle Krankenhäuser überfüllt. Die untere Waid ist nun auch voll & die Sääle v. Schützengarten & Tivoli stehen in Bereitschaft. – In unserer nächsten Nähe, Goliathgasse 7, wurden an einem Tage 10 Personen weggeführt & ein davon ist schon gestorben. Bis zum 5. Okt. sind allein in unserem Kanton 21‘000 Fälle gemeldet worden & darunter 300 Todesfälle. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918, 1. Juli 1918, und 20. August 1918

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) und Staatsarchiv St.Gallen, A 553/1.6 (Bildtafel aus: Langstein, Leo und Rott, Fritz: Atlas der Hygiene des Säuglings und Kleinkindes, 1918-1922)

Dienstag, 20. August 1918 – Gewissensbisse eines Deserteurs

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

20. August 1918 Nun ist er gekommen, der Freudentag, der uns endlich einmal unsern Louis brachte für einige Wochen Urlaub in die Schweiz. Aber allzu rasch kam der Tag, da er wieder einrücken sollte. Wo er hinkommt, da heissts: „Sie werden doch nicht so dumm sein & wieder gehn.“ Selbst seine Kameraden im Felde haben gesagt: „Wenn Du wieder kommst, dann sollte man Dich prügeln.“ – Louis kämpfte böse Stunden durch zwischen Pflicht & Vernunft & schliesslich siegte das Letztere, indem er sich entschloss zu bleiben & alles Unangenehme eines Deserteurs auf sich zu nehmen ! – Er meint, seinem Vaterlande später mehr nützen zu können, als wenn er wieder gehe & sich ev. schon von der ersten Kugel verstümmeln oder töten lasse.

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918 und 1. Juli 1918

Quelle: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser)

Fieberkurve

Montag, 1. Juli 1918 – Spanische Grippe in St.Gallen

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost. Im Juli hielt sie fest:

Die Folgen des Krieges machen sich immer mehr fühlbar. Eine furchtbare Krankheitsepidemie, die sog. Spanische Grippe, ist ausgebrochen & fordert unzählige Opfer. Die Krankheit ist sehr ansteckend & da mit hohen Fiebern verbunden, auch gefährlich. St.Gallen ist bis jetzt noch ziemlich gut dran. Im Bureau haben wir erst 2 Fälle gehabt, die sich wieder bald erholten. Dennoch sind alle Volksversammlungen, wie Theater, Kinos, Konzerte, Kirche, ja sogar die 1. August-Feier verboten. Da die Kaserne so viele Kranke hat, ist auch die Rekrutenschule bis auf Weiteres aufgehoben. Die Schüler bekamen Ferien. – Am Schlimmsten wütet es in der Westschweiz, sowie in Zürich & Bern, wo es über 20‘000 Kranke hat. Man musste den Postdienst & Eisenbahnverkehr einschränken & Telephongespräche, die mehr wie 3 Zentralen in Anspruch nehmen, werden auch verweigert. – Da die Bazillen hauptsächlich in den Schleimhäuten von Nase & Rachen hausen, so empfiehlt man viel Gurgeln mit Salbei Wermutthee & auch davon trinken zum desinfizieren von Hals, Magen & Gedärmen. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917 und 20. April 1918.

Der Psychiater Franz Beda Riklin, der vom August bis Oktober 1918 als Kommandant der Etappen-Sanitäts-Anstalt Solothurn amtierte und dort für hunderte von erkrankten Soldaten zuständig war, beschrieb seine eigenen Präventionsmassnahmen gegen die Grippe in einem Brief vom 25. Juli 1918 an seine Ehefrau in ähnlicher Weise: Zudem bin ich sehr vorsichtig, gurgle, schnupfe Flüssigkeiten, wasche die Hände, meide die Menschen u. die Menge – was will man mehr? Ich lebe auch absolut geregelt, überanstrenge mich gar nicht. Überdies glaube ich, nachdem ich die Sache in Lyon überstanden habe, nicht nochmals ausgesetzt zu sein.

Zu Riklin sind ebenfalls etliche Beiträge erschienen, u.a. über seine Zeit in Lyon am 7. und 13. Mai 1918 sowie am 8 Juni 1918.

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) und Staatsarchiv St.Gallen, A 553/1.6 (Bildtafel aus: Langstein, Leo und Rott, Fritz: Atlas der Hygiene des Säuglings und Kleinkindes, 1918-1922) sowie W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin)

Soldaten mit Gasmasken

Samstag, 20. April 1918 – Lage der Zivilbevölkerung und der Truppen im Aktivdienst

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

20. April. Es wird immer schlimmer. Die Teuerung wächst zusehends. 1 Liter Milch kostet 40 cts. Die Kohlennot ist so gross, dass fast keine Bahnzüge mehr verkehren. Es ist nur ein Glück, dass es der bessern Jahreszeit entgegen geht & man bald nicht mehr heizen muss. Der Vater hat zwar schon vorgesorgt & hat buchene Scheiter gekauft, die er nach & nach versägen will. Der Meter kommt auf 40 frs.! Wer irgendwie kann, der pflanzt Gemüse & Kartoffeln. Der Staat verlangt, dass der Boden dazu verwendet wird & gibt die Steckkartoffeln gratis & den m2 Land zu nur 5 fr. zu pachten. –

Soldaten beim JassenWährend Schweizer Soldaten an ihren Posten an der Grenze höchstens einen «Gasmaskentürk» über sich ergehen lassen mussten, daneben Wartezeiten aber auch mit Jassen zubringen konnten, sah das Leben der kämpfenden Truppen im Ausland ganz anders aus:

Am 21. März hat die grosse Offensive begonnen im Westen, an der wieder unsäglich viel Blut vergossen wird. Louis [Verwandter von Hedwig Haller] schreibt: „Die Kämpfe mit den Engländern sind furchtbar hart. Wir kampieren immer im Freien, da die Gegend so verwüstet ist, wie glatt rasiert dem Boden gleich ist Alles.“ – Wenn nur einmal eine triftige Entscheidung käme, die all dem Elend endlich Halt gebieten würde. ! –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917 und 1. Oktober 1917

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) sowie Staatsarchiv St.Gallen, W 132/2-337 und W 132/2-338 (Bilder aus dem Erinnerungsalbum des Geb. Sch. Bat. 8 im Aktivdienst an der Grenze bei Basel vom 18. März bis 2. Juni 1918)

Coupon für Brot

Montag, 1. Oktober 1917 – Lebens-mittelrationierung: Brot und Mehl sind nicht mehr frei erhältlich

Mit dem 1. Oktober 1917 waren in der Schweiz Brot und Mehl rationiert. Bereits früher schon waren Reis, Zucker, Mais, Teigwaren, Hafer und Gerste der Rationierung unterstellt worden. Ab März 1918 wurden die Massnahmen noch verschärft, indem man auch Butter, Fett und Öl, später zusätzlich Käse und Milch rationierte.

Für Personen mit speziellen Bedürfnissen wurden bereits im Oktober 1917 Zusatz-Brotkarten ausgegeben. Sie berechtigten zum Bezug von weiteren 100g Brot pro Tag.

Mit diesen Massnahmen versuchte man, die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Erst ab April 1920 waren wieder alle Lebensmittel ohne Einschränkung verfügbar.

 

Die Rationierungskarten wurden je nach Landesgegend in deutscher, französischer oder italienischer Sprache gedruckt. Sie bestanden neben dieser Titelseite aus drei weiteren Seiten mit Coupons, einer Doppelseite mit Abschnitten zu 25g und 50g sowie einer Einzelseite mit Abschnitten zu 250g:

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Die St.Galler Telefonistin Hedwig Haller schrieb an diesem Tag in ihr Tagebuch:

1. Oktober 1917. Nun haben wir auch noch Brot- & Butter-Marken, so dass jede Person pro Tag ½ Pfund Brot und im Monat 100 gr. Butter bekommt. – Ich habe vorher noch eine Schachtel gefüllt mit Zwieback, Biber, Birnweggen etc., um im Notfalle nicht hungern zu müssen ! –

(122) Im Bureau erlebten wir die grosse Freude, dass nun endlich einmal der 8-Stunden-Tag fürs ganze Jahr bewilligt wurde & jedes die Teuerungszulage von 225 frs. für das Jahr 1917 erhielt. – Fein ! Wunderbar ! – wir haben immer enorm viel Arbeit, da die Brieftaxen erhöht wurden, so greift Alles zum Telephon. Wir haben z.B. über eine Million mehr Gespräche wie vor dem Krieg (pro Jahr). –

Zum Thema Rationierung vgl. den Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13782.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 200/61 und Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription: Markus Kaiser)

Anzeige Metzger

Freitag, 23. Februar 1917 – Fleischlose Tage

Hedwig Haller, die Telefonistin aus St.Gallen (vgl. Beitrag vom 11. Februar), notiert am 24. Februar in ihr Tagebuch:

Dienstag & Freitag haben wir nun fleischlose Tage. Für Zucker & Reis gibt’s Karten, das Brot darf nur noch 1 Tag alt verkauft werden & kostet 30 cts per Pfund. Die übrigen Lebensmittel werden immer noch teurer. –

Verbot, frisches Brot zu verkaufen

Nächster Beitrag: 24. Februar 1917 (erscheint am 24. Februar 2017)

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription: Markus Kaiser) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 27.01.1917, Abendblatt, Anzeige; und 14.02.1917, Abendblatt, Mitteilung der Fürsorgekommission)

Briefkopf, Ausschnitt, 1916

Sonntag, 11. Februar 1917 – Kohlennot

[…] die Kohlennot ist so gross, dass das Gaswerk allen Abonnenten den Gasverbrauch vorschreibt. Die Reduktion ist so beträchtlich, dass Alles wieder die alten Petrollampen hervorholt. – Eine Freude ists, dass auch die Wirtschaften früher schliessen müssen.

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das obige Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

Der Beruf der Telefonistin, resp. der Telegraphistin, entwickelte sich ab 1870 zu einem reinen Frauenberuf. Es war eine der wenigen schicklichen Erwerbstätigkeiten, die Frauen zu dieser Zeit überhaupt ergreifen konnten. Verdienen konnte man damit allerdings nicht viel: Die Frauen wurden «als Hilfskräfte eingestellt und entlöhnt». In einer 1992 erschienenen Dissertation heisst es: «Trotz Anstrengungen der PTT seit 1986 wegen Personalmangels auch Männer als Telefonisten einzustellen, arbeiten heute erst sehr wenige Männer in diesem ‹Beruf mit Zukunft›.» (Zitate aus: Bühlmann, Yvonne und Zatti, Kathrin. «Sanft wie eine Taube, klug wie eine Schlange und verschwiegen wie ein Grab …». Frauen im schweizerischen Telegrafen- und Telefonwesen 1870-1914, Zürich 1992, S. 33)

Nächster Beitrag: 17. Februar 1917 (erscheint am 17. Februar 2017)

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) und Staatsarchiv St.Gallen, ZMH 43/005a (Beitragsbild: Ausschnitt aus Briefkopf der Kohlenhandlung Josef Anton Ackermann aus Mels, 1913)