Emily und Paul Fatio-Wenner

Mittwoch, 27. November 1918 – Generalstreik und Grippe aus Sicht einer bürgerlichen Frau

In ihrem Brief an Silvia Wenner berichtete Emily Fatio-Wenner (1881-1961) unter anderem vom landesweiten Generalstreik vom November 1918 in der Schweiz:

[Randnotiz:] Erhalten i. Fratte

Bellevue près Genève, Mittwoch, 27/II-1918

Meine liebe Silvia

Soeben erhalte ich Mama’s l. Brief vom 5. Nov., sowie den Deinigen vom 9. & Deine Karte vom 14. Tausend Dank Euch Allen, wir sind froh & dankbar um die guten Berichte. Seit mehr als 3 Wochen wussten wir nichts mehr von Euch & fingen an[,] etwas besorgt zu sein. Ja, welch grosse, unglaubliche Ereignisse erleben wir! In der ganzen Schweiz ist die Freude u. Dankbarkeit gross! – Wir durchlebten recht angstvolle Tage, die die Unruhen & die grève générale [Generalstreik] bringen. Aber wie ein Mann stellte sich das ganze Land, die Truppen strömten herbei wie vor 4 Jahren, ein Jeder aus allen Ständen gleich fest entschlossen[,] bis zum äussersten seine Pflicht zu tun. Dank dieser Einigkeit & diesem festen individuellen Auftreten, ist man ja auch merkwürdig rasch der Bewegung Meister geworden. Aber welche Empörung in aller Herzen zurückgeblieben ist, sehen die fremden Elemente [nicht], die zu uns herübergeschickt worden sind[,] um mit Geld und allen erdenklichen schändlichen Mitteln Aufruhr zu stiften, im Augenblick[,] wo die Niederlage nicht mehr zu umgehen war, das kannst Du Dir kaum denken! Es kocht nur so bei jung & alt, & jedes Fünkchen Sympathie ist vergangen. Zu vieles ist an’s Tageslicht gekommen! – Paul stellte sich gleich am ersten Morgen der Tramdirektion, & fuhr gleich mit einem Tram als erster auf unserer Linie Molard-Genève. Du hättest dieses Erstaunen sehen sollen (es wagte aber niemand zu mu[c]ksen[)]. Am nächsten Tag präsentierten sich zwei Andere, & so machte er dann den vollen Dienst wä[h]rend zwei Tagen. Noch viele andere Herren hier versahen ähnliche Dienste, was ohne Ausnahme hochgeschätzt wurde. –

Leider forderte die Mobilisation die unter so schwierigen Transportbedingungen vor sich gehen musste sehr viele Opfer. Fortwährend hört man von neuen Todesfällen durch die Grippe, es ist ein Jammer. Unter der Zivilbevölkerung hat die Krankheit stark abgenommen. Bei Guillaume’s hatten sie Nola [?] und Victor seit 3 Tg. seitdem er aus dem Dienst zurück ist. Es geht ihnen aber befriedigend. – Hier zu Hause sind wir alle wo[h]l & können nicht dankbar genug darüber sein. – Adèle kam am 19. zu uns zurück. Sie war noch recht blass, müde & hustete noch ziemlich.  Sie hat sich aber schon recht erholt, sieht besser aus, der Husten ist vorbei, & sie ist wieder unternehmend & aufgeräumt. In Zürich war es eben schon ganz grau, neblig & viel kälter wie hier. – Alex ist am 23. wieder abgereist, & am 25. ist seine Schule wieder angegangen[.] Er sah prächtig aus, & hatte sich wirklich förmlich herausgegessen [sic] [.] Er hat seine Ferien wie noch nie genossen, da André auch keine Schule hatte, waren sie beständig beisammen. Ich finde Alex wie umgewandelt, besonders wenn er ohne seine Mutter ist. Aber auch mit ihr ist er viel netter. – Wir haben im Sinn[,] nächste Woche abzureisen. Die Hauptsache ist vollständig in Ordnung, was eine grosse Erleichterung ist. Aber die Züge hier in der Schweiz erschweren einem das Reisen sehr. Adèle verlässt uns am Samstag morgen, & geht noch für einige Tage zu Marcelle. Den Cousinen geht es allen gut. – Anne schrieb am 22. Nov. Sie hatte auch die Grippe gehabt[,] zum Glück nicht schlimm, & war 8 Tg. zu Bett gewesen, fühlte sich aber wieder ganz wo[h]l. sie sei rührend & ausgezeichnet gepflegt worden. In der Familie sei sie bis jetzt die einzig Kranke gewesen, aber es habe in der Stadt sehr viele Fälle. Sonst lauten ihre Berichte gut, nur scheint es mir[,] sie denkt über vieles noch recht konfus, obschon so viele schon ganz umgesattelt haben. – Es ist wieder viel milder geworden, was wir sehr geniessen. – Ich schreibe am Donnerstag fertig & hat Adèle heute 2 Briefe von Mama & einen von Dir erhalten, für welche sie Tausendmal [sic] danken lässt. Wir sind so froh[,] viele détails zu vernehmen, die wir uns oftmals gefragt hatten. Tausend Grüsse von uns dreien an Euch Alle. Es küsst Dich von ganzem Herzen Deine Dich innig liebende Emily.

Emily Fatio-Wenner war ab 1905 mit Paul Fatio (1874-1961) von Genf verheiratet. Fatio war als Ingenieur in Neapel, Rom und Genf tätig.

Zu dem im Brief erwähnten Alex Berner und seiner verwitweten Mutter, Adele Berner-Wenner, sind bereits folgende Beiträge erschienen: 9. Juni 1917, 22. August 1917, 11. September 1917 und 6. Oktober 1917.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Briefe an Silvia Wenner, 1917-1921) und W 054/126.9.8 (Beitragsbild)

 

Samstag, 16. November 1918 – Überall Unruhen und Revolutionen

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

November 1918 Auch der Kaiser, verschiedene Fürsten & der Reichskanzler mussten abdanken. Es ist eine schreckliche Zeit. Überall Unruhen & Revolutionen. – Die Bewegung der Sozialisten verbreitet sich auch in die Schweiz. Vom 11.-16. Nov. haben wir Generalstreik. Tram & Eisenbahnen fahren nicht mehr. Jedoch Telegraph & Telephon halten den Verkehr aufrecht. Wir haben riesig zu arbeiten. 30 Frls. machen Nachtdienst, oder vielmehr ruhen auf Stroh in der alten Kontrolle. – Die ganze Streikaffaire kostete die Schweiz nicht weniger als 30 Millionen frs. – Zudem hat sich durch die Massenansammlungen die Grippe wieder derart verbreitet, dass in St.Gallen allein über 1500 Militärpersonen krank liegen. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918, 1. Juli 1918, 20. August und 13. Oktober 1918

Quelle: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser)

Montag, 11. November 1918 – Bolschewisten überall: Grippe und Landesstreik

Ernst Kind, der einundzwanzigjährige, frischgebackene Offizier der Schweizer Armee über die Lage in Europa, seine Sympathien nicht verhehlend:

8. November 1918: Folgende Worte, die ganz aus der momentanen Stimmung heraus, aber wie ich überzeugt bin, immerhin noch mit klarem Blick in die Verhältnisse geschrieben werden, sind vielleicth das letzte, was ich in ruhiger Umgebung schreiben kann. Man muss heute, wo die Idee des Bolschewismus wie eine scheussliche Seuchedurch alle Länder geht, mit jedem Tag den Ausbruch einer Revolution fürchten. Es ist alles, das ganze Unglück der jetzigen Lage, so rasend schnell gekkommen, dass man es noch nicht in seiner ganzen Wirklichkeit fassen kann. Die Kriegsereignisse seit dem Frühling sind wie ungeheure Schläge nacheinander gefolgt:

Im März begann die deutsche Kriegsoffensive. (Im Sommer 1917 war die russische Revolution zur vollen Wirkung gelangt, indem das Heer sich auflöste und die ungeleiteten Massen sich raubend u. plündernd im Land herumtrieben. Zum Schutz der Ukraine hatten die Deutschen Truppen dorthin [an dieser Stelle ein * im Text und oben der Hinweis: Forts. Am 11. Nov. 1918.] gesandt u. waren bis weit über die Krim hinaus vorgerückt. Dann war es zum Frieden von Brest-Litowsk gekommen, wodurch die Feindseligkeiten gegen die russische Sowietrepublik (Arbeiter- u. Soldatenrat: Lenin u. Trotzky) ein Ende erreichten. Die Ukraine schloss ein wirtschaftlich wichtiges Abkommen mit den Zentralmächten, indem sie deren Verproviantierung erleichtern sollte. Auch Rumänien wurde der Frieden von Bukarest aufgezwungen. So standen die Deutschen trotz scheusslicher u. drohender Fortsetzung der Revolution in Russland (Terror in Petersburg u. Moskau, fürchterliche Hungersnot, Cholera) im Osten gesichert da, u. hatten sich militärisch u. wirtschaftlich erleichtert. Aber doch hat jener Abschluss des Krieges im Osten u. die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Russland unendlich mehr geschadet als genützt. Die Revolution, der Bolschewismus, hatte nun freien Zutritt in Deutschland u. Österreich, indem die Sowjetgesandtschaften ihr Exterritorialitätsrecht so schändlich missbrauchten, dass sie in den Gesandtschaftshäusern ganze Magazine revolutionärer Propagandaschriften aufhäuften u. diese dann auf verborgenem Weg den deutschen u. österr. Arbeitern in  die Hände spielten. Jedenfalls ist in dieser Beziehung kolossal gearbeitet worden seit letztem Jahr; nur so lässt sich ds heutige Verhalten erklären. Auch in der Schweiz haben wir eine solche Sowietbotschaft erhalten, u. in unserem Lande hatte es die Agitation naturgemäss noch leichter als bei den Kriegführenden mit ihrer Zensur u. ihrem teilweisen Belagerungszustand. –

So viel glaubte man aber allgemein, dass Deutschland jetzt im Osten frei, seine überzähligen Truppen an den Westen transportieren u. dort die Entscheidung suchen werde. In Italien erfolgte der Sturm im Okt. 1917. Mit deutschen Truppen an den entscheidenden Stellen griff das österreichische Heer auf riesiger Front an, brach am Isonzo durch u. brachte das italienische Heer zu einem grauenhaften Rückzug, vielmehr zu einer Flucht. (Katastrophe am Tagliamento, wo 60000 Mann sich ergaben). Erst hinter dem Piave kam der Angriff an französ.-englischen Hilfstruppen zum Stehen. Italien erholte sich bald wieder. Im Frühling 1918 kam es dann eben dort zum Generalangriff, wo einzig die Hauptentscheidung fallen konnte, in Frankreich. In mehreren furchtbaren Offensivstossen [sic] stiessen die Deutschen in Frankreich vor. Zu äusserst westlich erreichten sie beinahe die Ränder von Amiens u. im Süden der Angriffsfront erreichte man die Marne, zum zweitenmal der Schicksalsfluss. Foch’s Reserven (Foch war durch die Not zum Generalissimus der Entente geworden) waren aber nicht erschöpft, ungeheure Massen kamen aus Amerika; der U-Bootkrieg versagte den Transporten gegenüber, jeden Monat kamen seit Mai 1918 durchschnittlich 300000 Mann. Mit diesen u. seinen letzten Kräften an Franzosen u. Engländern setzte Foch zum Gegenangriff an. (Mitte Juli.) Und das ist die Peripetie des grossen Dramas. Von da an kam Schlag auf Schlag das Unglück über Deutschland. Zu schwacb gegen die Übermacht, Mangel leidend an Material wie an Nahrung, schliesslich verlassen u. verraten von allen Bundesgenossen, schliesslich verlassen u. vor allem, durchseucht vom Bolschewismus, d.h[.] gelähmt an seiner inner Kraft, ist es jetzt zusammengebrochen, militärisch viel weniger als politisch.

Die Ereignisse folgten sich etwa so: Durch die vielerorts erfolgten übermächtigen Tankoffensiven der Alliierten (der Unzahl der Tanks vermochte die deutsche Artillerie nicht mehr beizukommen; selbst hatten sie von dieser Waffe fast nichts.) wurden die Deutschen zur Aufgabe aller in diesem Frühling eroberten Gebiete gezwungen. Dann kam der Rückzug zum Stillstand. Vor diesem deutschen Rückzug ist es noch bei den Österreichern zu einer unglücklichen Offensive gekommen. Ein Vorstoss über den Piave drang nicht durch, der ausserordentlich anschwellende Strom unterbrach die Verbindungen u. so kam die Notwendigkeit eines mühsamen, deprimierenden Rückzuges über den Piave.

Im Herbst nahm das Unglück ein rasendes Tempo an. Bulgarien verriet die Bundesgenossen u. liess nach einer militärischen Kommödie [sic] die Entente einmarschieren. Die Verbindung mit dem Orient war verloren. Die Entente beherrschte Bulgarien u. drang durch ganz Serbien vor. Gleichzeitig erlitten die Türken in Palästina geradezu vernichtende Niederlagen u. schlossen ganz nach den Bulgaren einen Waffenstillstand, der eine Kapitulation war Als letzter Verbündeter Deutschland[s] kam Österreich mit dem unerhörtesten Verrat. Das alte habsurg. Reich fiel auseinander. In 1 Woche erklärten die einzelnen Staaten der zusammengewürfelten Monarchie ihre Selbständigkeit. Einem italienischen Angriff leistete das Heer noch kurzen Widerstand, während hinten im Land der reinste revolutionäre Hexensabbat los war Dann löste sich die Armee einfach auf, schloss einen schleunigen Waffenstillstand, u. Kaiser Karl zögerte nicht, Sonderfriedensverhandlungen zu unterbreiten. Aber auch so rettete er seinen Tron [sic] nicht mehr. Österreich hat kapituliert wie kaum vorher ein Staat. In seinem Innern wütet die Revolution, u. die Entente hat das Recht, das Land zu besetzen. Vor einer guten Woche ist es aber zum Schlimmsten gekommen. Auch Deutschland hat die Revolution. Alles ist in Bewegung. Ludendorff ist schon länger zurückgetreten. In der Flotte haben kolossale, blutige Meutereien stattgefunden, Arbeiter- u. Soldatenräte traten überall zusammen; Bayern wurde über Nacht Republik, am 9. Nov., also vorgestern hat der deutsche Kaiser Wilhelm II abgedankt u. der Kronprinz verzichtet u. heute am 11. Nov. ist der Waffenstillstand mit der Entente abgeschlossen worden, der Deutschland jedenfalls wieder zum Sklaven macht, und eine furchtbare Katastrophe für lange sein wird. Möge nur um alles der Bolschewismus nicht lange triumphieren, sonst stirbt das, was man bisher echt deutsch nannte. Der deutsche Staat ist ja bereits gestorben, ohne einem verjüngten Wesen Platz zu Machen.

Jetzt komme ich auf unsere Verhältnisse zu sprechen. Sie sind bitter ernst, verzweifelt ernst. Letzte Woche hatten die Bolschewiki, deren wir ja so viele haben, den Jahrestag der russ. Revolution feiern wollen; dabei war ein gewaltsamer “Putsch” geplant. Da hat nun der zürcherische Regierungsrat offenbar sehr Angst bekommen und endlich einmal dringend Truppen in Bern verlangt. Und glücklicherweise hat man auch dort den Ernst der Sache erfasst und gleich energisch vorgesorgt. Innert 2 Tagen wurden 4 Inf. Regimenter und sämtliche 4 Kav.brigaden aufgeboten; die Kavallerie, hauptsächlich Bauern, war eine bestimmt zuverlässige Truppe, und an Infanterie hatte man auch gute Leute ausgewählt, vor allem Thurgauer u. Luzerner Truppen. Am 8. Nov. war bereits ein Regiment Inf. und eine Kav.brigade in und um Zürich bereit. –

Offenbar fand Ernst Kind vor der Jahreswende nicht Zeit, über den Fortgang und Ausgang des Landesstreiks zu schreiben. Erst am 13. Januar 1919 notierte er wieder in sein Tagebuch:

Fortsetzung am 13. Januar 1919.

Am 9. Nov. verreiste Papa per Auto an die Grenze, als stellvertretender Kommandant der 5. Division. Für den selben Tag war in der ganzen Schweiz ein 1-tägiger “Proteststreik[“] verkündet worden, Protest gegen das “herausfordernde” Truppenaufgebot. Soviel man nachher erfuhr, ist dieser Proteststreik nur in Zürich einigermassen zur Ausführung gekommen; er war eben nicht vorbereitet; auch gaben die zahlreichen Truppen jedenfalls vielen Arbeitswilligen den Mut, an ihrer Arbeit zu bleiben. Vormittags fuhren sogar die Strassenbahnen, allerdings nur die Leute vom Personal, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten, falls man ihnen Schutz zusichere. Deshalb standen vorn u. hinten auf der Plattform je 3 Mann Feldgraue mit aufgepflanztem Bajonett. Nachmittags musste der Tramverkehr trotzdem eingestellt werden.

Immerhin, schlimm war dieser Tagesstreik noch nicht; die Geschäfte und Läden waren zum grössten Teil offen; Gaswerk, Elektrizitätswerk u. Wasserwerk arbeiteten ruhig weiter, trotzdem man am Freitag abend schon das Gegenteil befürchtet hatte, und infolgedessen noch Badewanne, Eimer u. Krüge mit frischem Wasser gefüllt hatte! (Ich verwechsle das; erst am Montag, 11. Nov. morgens tat man das, als infolge Weiterdauerns des Streiks darob Befürchtungen entstanden.) Der Sonntag verging sehr unruhig, riesenhafte Demonstrationen infolge der bolschewistischen Agitation fanden im Stadtinnern statt. Das Militär sperrte wichtige Plätze ab. Beim Räumen des Fraumünster- und Paradeplatzes waren die Truppen gezwiugen, zur Warnung scharfe Salven über die Köpfe der Radaumacher hin abzugeben. Das Strassenbild war kaum zu vergleichen mit normalen Zeiten: Keine Strassenbahn, dafür häufig Militärlastautomobile mit schussbereiten Soldaten besetzt, sogar z.T. mit Maschinengewehren ausgerüstet. Auf alle Fälle spürte man, die Sache war noch nicht zu Ende mit dem Samstagsstreik.

In der Sonntagnacht beschloss wirklich das Oltener Aktionskomité [sic] eine Fortsetzung und Ausdehnung des Streikes im ganzen Land (das Oltener Komité ist so eine Art Sowiet, der gern die Nebenregierung neben dem Bundesrat spielt u. darauf ausgeht, schliesslich ganz ans Ruder zu kommen.) Also ging der gefährliche Unsinn am Montag weiter, auf unbestimmte Zeit; man wollte es auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wer es länger aushalte, die Bolschewiki oder der schweizerische Bürger. Hier sind am Montag wieder gewaltige Demonstrationen veranstaltet worden. Jetzt stockte aller Verkehr, auch alle Bahnen und der Briefpostverkehr. Bei Zusammenstössen mit Demonstranten ist ein Soldat erschossen worden; abends veranstaltete unsere national gesinnte Studentenschaft eine Zusammenkunft, um zu beraten, wie man helfen könnte, um die gestörten Betriebe wieder in Gang zu setzen. Vor allem sollte dem empörenden Schauspiel abgeholfen werden, dass an allen Ecken das ketzerische «Volksrecht» , unser Bolschewikiblatt, feilgeboten wird, während keine einzige bürgerliche Zeitung erscheinen kann. Die Versammlung war voll guten Willens zum patriotischen Helfen, wenn es auch infolge der Erregung dabei sehr laut herging. Ich habe mir dort den Keim zur zweiten Grippe geholt und habe das leidige Übel schon in er Nacht gehabt. Abends erfuhr ich noch neue Truppenaufgebote, beinahe 2 ganze Divisionen. Im Ganzen werden wir wegen dieser innern Unruhen etwa 60000 Mann aufgeboten haben. – Wie gesagt was nach dem Montag während des Streiks passiert ist, kenne ich nur aus der Zeitung u. vom Hören. Ich lag mit Grippe im Bett. Doch freute mich schon am Dienstag die Mitteilung, dass unter Mithilfe unserer Studenten ein bürgerliches Blatt herauskam, die nationale «bürgerliche Presse Zürichs». Vom Mittwoch an vertrugen meine Kommilitonen auch die Brief- u. Packetpost [sic]! Und in der Mittwochnacht sahen die Oltener Leute endlich ein, dass ein russisches Programm in der Schweiz noch nicht durchführbar ist, und sie gaben den Kampf auf; d.h. sie unterwarfen sich. Der endlich in der Not befolgte Zusammenschluss der Bürger hat ein drohendes Unheil abgewendet. Die Soldaten blieben aller Agitation gegenüber taub. Hingegen ist es oft vorgekommen, dass sie einen der ärgsten Schreier gehörig verklopft haben, wie es solchem unerzogenen frechen Jungburschengesindel gegenüber am besten ist.

Allmählich ist dann alles wieder zur Ruhe u. wieder in Gang gekommen. Seither steht ständig ein Regiment in und um Zürich bereit, neuen Putschen gleich entgegen zu treten. Doch bin ich überzeugt, dann ginge es schlimmer zu, blutiger. Unsere Truppen haben unter der Grippe während des Streiks schwer gelitten; über 800 Tote haben sie in der ganzen Schweiz verloren, einzig, weil der Streik sie zusammengeführt hat. Ein zweites Mal würden sie kaum mehr über die Köpfe schiessen, die Empörung u. der Rachedurst ist zu gross. –

Nachdem endlich die Spartacusbewegung in Berlin nach scheusslichen Strassenkämpfen niedergeworfen worden ist, glaube ich nicht, dass bei uns der Kampf wieder losgeht. Auf eine Wiederholung ist man aber, soviel ich merke, militärisch sehr gut vorbereitet. Ich bin der neugegründeten Stadtwehr beigetreten, die sich organisiert hat, um Eigentum und Arbeit bei neuen bolschewistischen Versuchen zu schützen. Seit 31. Dez. 18 bin ich Leutnant. (Kp. III/70, Zürich, Landschaft.)

Flugblatt Rückseite

Quelle; Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Einträge vom 08.11.2018, 11.11.1918 und 13.01.1919; zusätzliche Absätze zur besseren Lesbarkeit eingefügt) und W 240/1.3-11.4 (Beitragsbilder: Dokumentation von Jakob Jäger, 1874-1959, über den Landesstreik, Flugblatt der Volksstimme zum 13. November 1918, Vorder- und Rückseite)

Visitenkarte Major Riklin

Samstag, 2. November 1918 – Riklin darf endlich nach Hause

Der Psychiater Franz Beda Riklin-Fiechter, aus dessen Korrespondenz bereits einige Beiträge publiziert wurden (letztmals zum 8. Juni 1918) weilte immer noch im Militärdienst. Er war unterdessen Kommandant der ESA (Etappen-Sanitäts-Anstalt) in Solothurn. Anfang Oktober hatte man ihn zum Major befördert, was er im Brief an seine Ehefrau vom 7. Oktober folgendermassen kommentierte: Ich bin jetzt also Major, u. das macht mir sogar etwas Spass. Hier wird es ähnlich wie ein freudiges Familienereignis durchgenommen, u. es gab sofort Leute, die herumfuhren[,] um schleunigst die nötigen Uniformänderungen vornehmen zu lassen. Sonst bin ich ganz verstrickt in Seuchenbekämpfung [gemeint ist die Spanische Grippe] u. Wachsamkeit. Beim Militär ist hier der Höhepunkt wieder überschritten, aber in der Bevölkerung nicht. Wir hatten zwei Todesfälle im Ganzen, auf etwa 100 Erkrankungen, u. einige schwere Fälle, die durchkamen, darunter mehrere Offiziere. Zudem helfen wir der Civilbevölkerung hier u. in der Umgebung aus. […] Die Beförderung zum Major ist mir gleichsam die symbolisch-formale Bestätigung vieler anderer Erfüllungen, die ich auch erwarte, eine Art Rehabilitation und ein Symbol des Richtiggehens.

Auf der Visitenkarte (siehe Beitragsbild) steht: Diese Visitenkarte hat mir mein Bureau geschenkt. Herzlichste Grüsse an Dich u die Kinder v. Deinem treuen Major Franz Riklin Kommandant E.S.A. Wie steht’s mit der d. Weinlese? Schicke bald Wäsche 8.10.18. Solothurn

Im Brief vom 29. Oktober 1918 an seine Frau heisst es:

Liebste Frau!

Am 31. kommt mein Nachfolger, Oberstlt. Riggenbach. Wahrscheinlich komme ich dann schon am Samstag heim. Ich bin sehr froh darüber u. freue mich unendlich. Hoffentlich war es der letzte Dienst u. der letzte Akt u. die letzte kleine Mithilfe auf dem Wege zum Frieden.

Der Epidemieschub [Spanische Grippe] hier geht stark zurück, u. so ist meine Sache getan. Ich freue mich auf anderes, u. weg von der lieblosen Atmosphäre von Solothurn. Also auf ein frohes Wiedersehen.

Dein Franz.

Da die überlieferte Briefkorrespondenz mit dem 29. Oktober endet, ist anzunehmen, dass Riklin tatsächlich am betreffenden Samstag, also am 2. November, nach Hause fahren durfte und sein langer Militärdienst, der mit Kriegsausbruch 1914 begonnen  und oft monatelang gedauert hatte, damit beendet war.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter, Korrespondenz)