Scherenschnitt Doris Schwarz

Mittwoch, 1. Januar 1919 – Neujahr: Katze im Geigenkasten

Fortsetzung der Tagebucheinträge von Alfred Schwarz (vgl. Beiträge vom 23.-25. und vom 31. Dezember 1918)

1.I.1919. (Neujahr. – Mittwoch.) – Mit T[h]eo im Bett geschwätzt. – Dann bald aufgestanden (9h). – Allerlei mit den Kindern gespielt. – Ankunft von Doris [Schwarz, Schwester von Alfred Schwarz]! – Mittagessen. – Gemeinsamer Spaziergang auf den Zürchberg (Fluntern, neue Kirche!), resp. seinen Anfang . – Jause. – – Dann mit Doris fort (ca. 5h) & zu Hugi in die Gemeindestrasse. – von Hugi & seiner Schwester Margrit sehr nett & gemütlich empfangen & in ihrer «Bude» ein vergnügtes Tee-Plauderstündchen verbracht! – Von dort direkt zu Hugs zum Nachtessen! x [Zeichen für Einschub resp. Nachtrag, s. unten] – Nach dem Nachtessen geplaudert (im Weih. Zimmer natürlich!) & nocheinmal den Christbaum angezündet! – Doris schildert das tägliche Wiener «Menu» (Rübensuppe & Sauerkraut oder umgekehrt!) – «Loos»-Theorie vom «Sitzen» wird von Hans, Evi & mir «ausprobiert»! – Während die anderen im Musikzimmer musizieren & zuhören, erzählt Evi bei Christbaumbeleuchtung von ihrem Genfer Leben! Dann geht auch Hans ins Musikzimmer & wir zwei warten noch das Abbrennen der letzten Kerze ab & gehen dann auch hinüber! – Hier wird noch gegeigt, & zw. von Onkel Ad. auf einer alten Meistergeige aus dem Geschäft (Wert Fr. 60000.-!) jedoch dann bald Schluss gemacht. Katze im Geigenkasten! – Noch ein wenig im Weih.Zimmer gelesen & geplaudert. Dann Aufbruch & Heimweg zu Baumanns! Theo wieder nicht aufgewacht! – Nachtrag: x Von Doris Wiener Geschenke & «Guetsli [Plätzchen] von Zuhause» erhalten!

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/140.07-07 (Tagebuch Alfred Schwarz für die Weihnachts- und Neujahrstage 1917 und 1918) und W 054/144.03.06-18 (Scherenschnitt Doris Schwarz, 1920)

Protokoll Lehrerverein

Donnerstag, 22. August 1918 – Lehrerbesoldungsfragen

Was im Protokoll zur Vorstandssitzung des Kantonalen Lehrervereins vom 10. August 1918 unter dem Titel «Situation betreffend Gehaltsgesetz» zu seitenweisen Einträgen geführt hatte (vgl. Beitragsbild), wurde im Tagblatt vom 22. August nur knapp berichtet:

Neuregelung der Lehrerbesoldungen.

Die grossrätliche Kommission beantragt dem Grossen Rate, die gesetzlichen Mindestgehalte der Lehrer folgendermassen festzusetzen: Für Primarlehrer mit endgültiger Anstellung an Halbjahrschulen 1600 Fr., an Jahrschulen 2200 Fr. bis 2600 Fr. Für Sekundarlehrer 3000 Fr. in den ersten zwei Dienstjahren, bis 3500 Fr. nach dem vierten Dienstjahr; dazu staatliche Dienstalterszulagen von 100 Fr. im 7. und 8. Dienstjahr, bis 600 Fr. im 17. Dienstjahr für Primar- und Sekundarlehrer. Die Beiträge des Staates an die Schulgemeinden sollen betragen für eine Primarlehrerkraft von 1 bis 4 Dienstjahren 250 Fr., von über 4 Dienstjahren 500 Fr., für jede vollbeschäftigte Sekundarlehrerkraft 500 Fr.

Der 15-zeilige Kurzartikel nahm in der Ausgabe des Tagblatts nur halb so viel Platz ein wie die Anzeige zum Konservenschrank aus asbesthaltigem Faserzement:

Konservenschrank aus Eternit

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 018 (Archiv Kantonaler Lehrerverein, Protokoll Vorstand vom 10.08.1918) und  P 909 (St.Galler Tagblatt, 78. Jg., Nr. 196, 22.08.1918, Morgenblatt, S. 3 und S. 4)

Metzgerei und Schulhaus in Rheineck

Samstag, 24. November 1917 – Kochen unter Kriegsumständen

Die Monatsbeilage zur Rorschacher Zeitung veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 24. November Menuvorschläge:

Reisfleisch½ Kilogramm Kalbfleisch, 200 Gramm Reis, der Saft von einer halben Zitrone, Salz, 1½ Liter Wasser, 1 Esslöffel Fett, 1 gehackte Zwiebel.

Das Kalbfleisch wird in kleine Würfel geschnitten, der Reis wird erlesen und gut gewaschen. Fett und Zwiebeln werden miteinander gedünstet, das Fleisch wird beigegeben, gesalzen und einige Minuten geröstet. Dann wer[d]en Salz, Wasser, Reis und Zitronensaft beigegeben und die Speise zugedeckt auf schwachem Feuer 1½ Stunden gedünstet. Wird das Gericht im Selbstkocher zubereitet, muss es 25 Minuten auf dem Feuer gedämpft und 3-4 Stunden in den Kocher gestellt werden.

Weisse Bohnen. 750 Gramm weisse Bohnen, 2½ Liter Wasser, Salz, 1 Esslöffel Fett, 2 gehackte Zwiebeln, 1 Esslöffel Mehl, 2 Esslöffel Essig.

Die Bohnen werden erlesen und einige Stunden in lauwarmes Wasser eingeweicht. Die Zwiebeln und das Mehl werden im Fett gedünstet, die Bohnen werden mit dem Einweichwasser beigegeben und noch so viel Wasser zugefügt, bis die Bohnen damit gedeckt sind. Sie werden 2½ Stunden weich gekocht, kurze Zeit vor dem Anrichten werden Essig und Salz beigegeben. Bei der Zubereitung im Selbstkocher werden die Bohnen ½ Stunde auf dem Feuer gekocht und 2-4 Stunden in den Kocher gestellt.

Saure Kartoffeln. 1½ Kilogramm Kartoffeln, Salzwasser, 1 Esslöffel Fett, 1½ Esslöffel Mehl ,1 gehackte Zwiebel, 3 Esslöffel Essig, 2 Tassen Wasser.

Die zugerüsteten Kartoffeln werden in Scheibchen geschnitten, im Salzwasser weichgekocht und auf ein Sieb angerichtet. (Das Wasser wird zu einer Suppe verwendet.) Fett, Zwiebeln und Mehl werden hellbraun geröstet und mit dem Wasser und dem Essig abgelöscht. Die Sauce wird gesalzen und einige Minuten gekocht. Hierauf werden die Kartoffelscheibchen beigegeben und noch einige Minuten mit der Sauce gekocht.

Dörrobst. 250 g Dörrobst, Wasser, 60 g Zucker.

Das Dörrobst wird gut gewaschen, in lauwarmes Wasser eingeweicht und einige Stunden zugedeckt stehen gelassen[.] Es wird mit dem Einweichwasser auf das Feuer gestellt, 10 Minuten vorgekocht und 2 Std. in den Selbstkocher gestellt. Das Obst wird angerichtet und mit dem Zucker vermengt. Wenn es an Zucker mangelt, werden 3-4 Tabletten Saccharin [synthetischer Zuckerersatzstoff] im Wasser aufgelöst und mit dem Obst vermischt. Das Saccharin darf nicht mitgekocht werden.

Bei dem in den Rezepten erwähnten Selbstkocher handelte es sich im Wesentlichen um ein gut isoliertes Behältnis, in dem die Speisen in ihrer eigenen Wärme ohne zusätzlichen Brennstoffverbrauch garen konnten. Erfinderin des Selbstkochers ist die Wattwilerin Susanna Müller, vor allem bekannt wegen ihres Longsellers «Das fleissige Hausmütterchen». Das Toggenburger Museum in Lichtensteig besitzt ein Originalexemplar eines Selbstkochers, vgl. http://www.tagblatt.ch/ostschweiz-am-sonntag/leben/Kleinod-der-Kueche;art304178,4608472 (Bild Nr. 3 im Artikel).

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 913A (Text: Rorschacher Blätter zur Unterhaltung und Belehrung, Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung, Nr. 7, 1917, 24.11.1917) und W 238/02.14-28 (Ansichtskarte: Rheineck, 1911)

Küche

Montag, 12. März 1917 – Rezepte für fleischlose Tage

Eine Arbeiterküche war sicher nicht derart assortiert und ausgerüstet wie diejenige auf dem Beitragsbild. Trotzdem war während der Kriegszeiten vermutlich auch in der einen oder anderen bürgerlichen Haushaltung des öftern ein fleischloser Tag angesagt.

Die Zentrale Frauenhilfe publizierte unter dem Titel Hauswirtschaftliche Mitteilungen in der sozialdemokratischen Tagespresse regelmässig Hinweise zur Haushaltführung in Kriegszeit:

Einfache Speisezettel für fleischlose Tage.

  1. Habermus (aus Flocken); Rüben und Kartoffeln in weisser Sauce.
  2. Minestra; Böhnli in weisser Sauce.
  3. Gerstensuppe m. Rüben u. Kabis; Kartoffelstock.
  4. Gemüsesuppe; Maccaroni oder Nudeln m. Käse.
  5. Brotsuppe; Kohl gefüllt mit Reis.
  6. Braune Kartoffelsuppe; Käseomeletten.
  7. Braune Mehlsuppe; Eierhaber (Kratzete); gekochte Aepfel.
  8. Geröstete Griessuppe; Eierdünkli mit Käse.
  9. Milchsuppe; Risotto mit Grünem (Petersilie, Rüben, Lauch).
  10. Kartoffelsuppe; Blumenkohl mit gerösteten Brotschnitten.
  11. Spätzlisuppe; Knöpfli und gedörrte Birnen.
  12. Rübensuppe; Nudeln überschmelzt; Apfelmus.
  13. Nudelsuppe; Apfelrösti.
  14. Maissuppe; Stockfisch mit Kartoffeln.

 Die Suppen in diesen Speisezetteln sollen dick gekocht, die Gemüse, die hineingehören, müssen klein geschnitten, aber nicht durchgestrichen [d.h. nicht durch ein Sieb gestrichen] werden, damit auch die Suppe nach Kautätigkeit verlangt. Wird zur Suppe Brot gegeben, so soll es nicht eingebrockt, sondern trocken gegessen werden, da dieses eine viel bessere Auflösung und Ausnützung zur Folge hat.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 908 (Die Volksstimme, Sozialdemokratisches Tagblatt für die Kantone St.Gallen, Appenzell, Graubünden und Glarus, 12.03.1917, Text) und ZMH 64/877.024.5 (Foto: Otto Rietmann, St.Gallen)

Sonntag, 17. Dezember 1916 – Zweckmässige Ernährung in Kriegszeiten: langsam essen und gut kauen

Die Mitglieder der Gesundheitskommissionen des Rheintals trafen sich um halb vier Uhr nachmittags im Hirschen in Berneck. Die obige Ansichtskarte stammt aus dem Jahr 1917.

[…]

Vortrag von Dr. [Fritz] Custer, Rheineck,

Wie ernähren wir uns zweckmaessig.

Einleitend betont der Vortragende die Schwierigkeiten der zweckmaessigen Ernährung wie sie sich aus den heutigen durch die allgemeine Kriegslage ergebenden Verhältnissen ergeben. So notwendig die möglichst ausgiebige landwirtschaftliche Ausnutzung unseres der Bebauung zugänglichen Bodens sich notwendigerweise empfiehlt, so selbstverständlich ist das Postulat vorsichtigster Ausnutzung alles der Ernährung Dienenden. –

Zweckmässig sich ernähren heisst für Erwachsene[:] Behauptung des Körpergewichtes, für Kinder & Jugendliche Beförderung des Ansatzes.

Der Referent erlaeutert im Weitern[,] welche Stoffe in den Nahrungsmitteln hiezu herangezogen werden müssen & détailli[e]rt im Einzelnen die Rolle der Eiweiss[e], Kohlehydrate, Fette führenden Nahrungsmittel im Stoffverbrauch unseres Organismus.

Eingehend wird besprochen die Verteilung der notwendigen Ernährungssubstanzen der 3 Gruppen, dem Werte des Fleisches wird in eingehender Weise gerecht.

Besonders schwierig für unsern Haushalt ist zur Zeit der Bezug von Fett. Was das Fett uns für Vorteile & bei übermässigem Genuss für Nachteile liefert[,] wird erlaeutert & übergehend zu den Kohlehydrat[en] enthaltenden Nahrungsmitteln ihre ganz besondere Bedeutung im Haushalt des menschlichen Organismus hervorgehoben.

Dass wir unserm Organismus überdies die Zufuhr von Wasser & Nährsalzen schulden[,] wird betont.

Eisen[,] auch ein nötiger Einfuhrartikel[,] findet sich vornehmlich im Rindfleisch, den Eiern & speciell im Spinat. –

Den Ausnützungswert der einzelnen Speisen betreffend[,] wird auf langsames, gut kauendes Essen verwiesen. –

[Als] Ausschlaggebend im heutigen Ernährungsleben aber muss der Nährgeldwert unserer Lebensmittel bezeichnet werden. –

Nach dieser Richtung verdienen die Pflanzenkost gebenden Nahrungsmittel erste Erwähnung. Mais, Kartoffeln, Reis & Brot sind die Kost des Mittelmannes [Mittelstandes], von animalischen Nahrungsmitteln verdienen besondere Erwähnung Milch, Kaese, namentlich auch Magerkaese, Quark, Blockschokolade, soweit erhältlich Butter & die leider nur spärlich zur Verfügung stehenden andern Fettgemische pflanzlichen & tierischen Ursprungs. –

Dem möglichst zweckdienlichen Anbau von Bohnen, Erbsen, Kartoffeln, Getreide wird ausdrücklich das Wort gesprochen & ganz besonders der Anbau von Haber [Hafer] & Mais als altbewährten Volksnahrungsmitteln empfohlen. –

Wie sollen wir essen, in welchen Zeitabständen ist weiter zu berücksichtigen. Es empfiehlt sich möglichst genaues Einhalten bestimmter Essenszeiten, langsames Essen & gutes Kauen, eventueller Zahnersatz verdienen Erwähnung.

Zum Schluss seiner Ausführungen erlaeutert der Vortrragende zusammenfassend an Hand einer Tabelle die Zusammenstellung der einzelnen Nahrungsmittel mit Rücksicht auf Nährgehalt & Nährwert & betont auch die die Verdauung befördernde, Leben erhaltende Wirkung gewisser Gemüse, Kohlarten, Obst & dergleichen. –

[…]

(Die lange Zeit vertretene Meinung, Spinat sei sehr stark eisenhaltig, beruhte auf einem Berechnungsfehler.)

Am gleichen Tag traf sich auch der Vorstand des Kantonalturnverbands, diesmal im Restaurant zum „Grünen Baum“ in Rorschach. Er behandelte u.a. die Fortsetzung der Angelegenheit betreffend Bau einer Turnhalle in Flums (vgl. Protokollauszug vom 28. Oktober 1916):

[…]

II. Verkehr mit turnerischen Organen.

a) mit den Vereinen: Der in der Angelegenheit des Turnvereins Flums (Legat Spörry) um seine Meinung interpretierte [sic] Rechtsbeistand des Testators, Dr. Jakob-Basel, teilt mit Zuschrift vom 9. Dezember mit, dass er alles ihm zur Einsicht überwiesene Material seinem Schwager, Herrn Dr. Helbling in St.Gallen überwiesen habe.

[…]

IX. Weiterer Verkehr mit Behörden, Volk und Presse.

Neuerdings stellt, Stadler-Wil als Vormund des Kindes „Kreuzer-Bütschwil“ ein Gesuch um Aushingabe [sic] des Sparkassabuches für einen nicht gerade auf ordentlichen Wegen wandelnden Sohnes Kreuzer, zwecks Versorgung in der Anstalt Thurhof. Auf Vorschlag des Vorsitzenden beschliesst der Vorstand Zustimmung zu dem Gesuch.

[…]

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, A 386/3 (Bezirksphysikat Rheintal, Auszug aus dem Protokoll der Konferenz der Gesundheitskommissionen) und Wy 090 (Protokoll Kantonalturnverband) und W 238/03.02-25 (Postkarte von Rheineck)

Handsticker am Pantograph mit Fädlerin, um 1900

Mittwoch, 30. August 1916 – Klagen einer Handsticker-Frau

Aus der Stickerei-Industrie.

Notleidende Handsticker.

Durch Vermittlung ist uns ein Brief einer Frau, deren Mann Handsticker ist, zugekommen. Wir erachten es als Pflicht, das Tatsächliche aus diesem Briefe hier wiederzugeben; denn die Not in den Kreisen der Handsticker auf dem Lande ist viel grösser, als man gemeinhin annimmt. Wer sich die Mühe nimmt, die Leute zu besuchen, lernt Zustände kennen, die einen im Innersten ergreifen müssen. Unterernährung, Kränkeln, Verbitterung oder stummes Sichdareinschicken, das ist’s, was man am Pantograph findet.

Als geplagte Stickersfrau, so heisst es u.a. in dem erwähnten Briefe, möchte ich schildern, wie es um unsern Verdienst steht. Ich fürchte zwar, es nütze nicht viel. Man redet immer, dass Hilfe nötig sei; es wird ja, wenigstens auf dem Lande, nichts getan; man meint, das Elend sei noch nicht gross genug. Ist es nicht genug, wenn Familienväter wegen Unterernährung an der Maschine krank werden? Wenn unterernährte Handsticker wegen ungenügender Ernährung keine Kraft mehr haben und so der Krankheit erliegen, wann ist es denn genug? Mein Mann und ich müssen jeden Tag 13 Stunden arbeiten. Im Sommer, wenn wir kein Petrol brauchen, können wir, falls kein Abzug gemacht wird, 2 Fr. im Tag zusammenbringen; im Winter aber nur Fr. 1.30, weil wir für das Petrol, also für das Licht noch 70 Rp. ausgeben müssen. Ich frage: Wir können drei Personen heute leben mit 2 Fr. Verdienst im Sommer und Fr. 1.30 im Winter? Wir haben nur ein Kind und wissen kaum, wo aus und ein. Wie machen es jene, die mehrere Kinder haben? Ich will Ihnen vorrechnen zum Beweis, dass ich die Wahrheit schreibe: Wir haben auf gewöhnliche Ware 27 Rp. Lohn auf 4/4 Rapport 2000 Stiche; im Tag macht das Fr. 5.40. Wir brauchen aber 2½ Strang Garn, macht 2 Fr., 1 Fr. für den Hauszins, 40 Rp. für Nadeln, Wachs, Maschinenöl; alles zusammen Fr. 3.40 Spesen. Uns bleiben also noch 2 Fr. reiner Verdienst, vorausgesetzt, die Ware bringe keinen Abzug. Nun müssen wir mit 2 Fr. essen, für Kleider sparen, Steuern und Krankengeld bezahlen. Wie weit reichen heute 2 Fr. im Tage, wenn man an die hohen Lebensmittelpreise denkt? Haben da gewisse Herren, die in der Armenbehörde sitzen, das Recht zu sagen, ein Kind sollte man denn doch noch erhalten können? Wissen jene Herren, wie man das macht? Wissen sie, was Not und Unterernährung heissen? Das ist eben das Traurige, dass Mann und Frau, die vom frühen Morgen bis spät arbeiten, ihr einziges Kind fast nicht mehr ernähren können.

Sieht mein Mann sich nach anderer Arbeit um, dann heisst es, er sei zu alt (56 Jahre) und zu schwach. Wer kann stark und kräftig werden durch Unterernährung?

Wir hatten noch die halbe Zeit keine Arbeit; seit drei Jahren fehlt uns überhaupt ständige Beschäftigung. So haben wir das in besseren Zeiten mühsam ersparte Geldchen bis zum letzten Rappen aufgebraucht. Die Automaten und Schiffli haben uns uns um den Verdienst gebracht; Spezialware erhalten wir auch keine.

So ist die Lage der Handsticker auf dem Lande. In der Stadt werden Bürger, die unter den Zeitverhältnissen leiden und in Not geraten, ohne weiteres unterstützt. Die Auffassung des Begriffes «unterstützungsbedürftig» ist auf dem Lande bei vielen Armenbehörden heute noch eine veraltete, was selbstverständlich die Notleidenden empfinden müssen. Es gibt heute noch Armenbehörden, die arm gleichstellen mit ehrlos usw. Deshalb gelangen Unterstützungsbedürftige, die in ihrer Armut doch noch das alte Ehrgefühl bewahren wollen, nur im äussersten Falle an die Armenherren. Manche hungern lieber, als dass sie sich wie Bettler betrachten lassen wollen. Ist es nicht so?

Wir haben letzthin einen Handsticker auf dem Lande besucht. Auch dieser klagte bitter über die traurigen Verhältnisse in den Handstickerkreisen. Nach Abzug des Lohnes für die Fädlerin, der Spesen für Garn, Licht, Zutaten bleibt nichts mehr übrig. Der Mann bot das Bild schwerer Unterernährung. Seine Kost besteht aus dünnem Milchkaffee, Brot, wenn es gut geht, langt’s noch zu Kartoffeln. Der Riebel [Mais] ist ihm zu teuer. Butter ist nicht zu erstehen; das Geld langt nicht. Am Abend wird kein Licht angezündet; das Petrol ist zu teuer. Ein bisschen schlechter Tabak ist die einzige Freude, die der arme Mann noch hat. Auch er würde gerne behördliche Unterstützung annehmen, allein er fürchtet die strenge Armenbehörde seiner Gemeinde und – stickt nun um einen Hungerlohn, solange er kann.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 909 (St.Galler Tagblatt, Nr. 203, 30.08.1916, Abendblatt) und W 238/10.00-03 (Bild um 1900, Handsticker am Pantograph mit Fädlerin, offenbar vor der Krise)