Samstag, 11. November 1916 – Beschäftigungsmöglichkeiten für Kriegsinternierte: „durch den Krieg die nötige Abhärtung mehr als genug erfahren“

Am 15. Mai 1916 waren der Oberen Waid bei St.Gallen Internierte eingetroffen. Für diese Männer suchte man nun Beschäftigungsmöglichkeiten.

St.Gallen, den 11. November 1916.

An das Baudepartement des Kantons St.Gallen, St.Gallen.

Ihrer Einladung vom 10. dies. Folge leistend, berichten wir Ihnen über die Möglichkeit der Beschaffung von Arbeitsgelegenheiten für Internierte folgendermassen:

Mit Bericht vom 4. Oktober haben wir Ihnen bereits einige Bauarbeiten genannt, die eventuell für die Beschäftigung von Arbeitslosen im Winter 1916/17 in Frage kommen könnten. Da bei der Arbeitslosenbeschäftigung im Allgemeinen mit für Bauarbeiten ungelernten Arbeitern zu rechnen ist, die auszurichtenden Löhne aber die Existenzsicherung ermöglichen sollen, so kommen die von Arbeitslosen ausgeführten Arbeiten fast durchwegs teurer zu stehen, als dies mit Facharbeitern bei höhern Löhnen der Fall ist. Die Leistungen von Arbeitslosen können für den Arbeitgeber nur dann in ein richtiges Verhältnis mit den Ausgaben gebracht werden, wenn die Mehrkosten gegenüber der Ausührung durch Facharbeiter von anderer Seite (zu Lasten eines Arbeitslosen-Unterstützungskontos) an den Auftraggeber rückentschädigt werden. Bei einer Anzahl der Ihnen mit Bericht vom 4. Oktober genannten Arbeitsgelegenheiten müsste, um die Wirtschaftlichkeit der Arbeitsleistungen zu wahren, mit einer in diesem Sinne stattfindenden Rückentschädigung gerechnet werden können. Nach unserer Ansicht würde dies speziell zutreffen für die Arbeiten kleinern Umfangs, die Strassenkorrektionen, Trottoirbauten und die Entwässerungen an Staatsstrassen.

Anders ist die Sachlage bei der Heranziehung von Arbeitern aus den Interniertenkreisen. Ohne Zweifel befinden sich darunter viele sehr tüchtige Leute, die schon von Haus aus mit Arbeiten auf dem Felde vertraut sind und auch durch den Krieg die nötige Abhärtung mehr als genug erfahren haben. Wir glauben daher, dass mit der Beschäftigung von Internierten bei der Ausführung von Bauarbeiten mindestens gleich gute oder bessere Resultate erzielt werden könnten, als mit der Beschäftigung von Arbeitslosen aus unseren Industrien.

Da für die Beschäftigung von Internierten nur Arbeitsstellen in Frage kommen können, die in erreichbarer Nähe der ihnen zugewiesenen Wohnstätten liegen, so denken wir in erster Linie an die Staatsstrasse St.Gallen[-]Rorschach in der Nähe der Kuranstalt Waid, ferner an Gossau und Umgebung, das vom Interniertenort Waldstatt mit Morgen- und Abendzügen der Appenzellerbahn gut erreichbar ist. Soviel uns bekannt ist, sind Internierte von Waldstatt auch bei den Arbeiten der Gossauer Dorfbach-Regulierung beschäftigt.

Die Auswahl der Arbeiten, für welche in erster Linie Internierte verwendet werden könnten, dürfte sich jedenfalls nach speziellen Gesichtspunkten richten müssen. Wir selbst sind der Auffassung, dass nur solche Arbeiten hiefür in Frage kommen, welche einerseits nach den bestehenden Lohnverhältnissen kaum Aussicht auf baldige Verwirklichung haben könnten, deren Durchführung aber anderseits sehr wünschbar wäre.

Als solche Arbeiten bezeichnen wir speziell die Korrektion der Staatsstrasse beim alten Niveauübergang der Sulgenerlinie in Gossau und die Tieferlegung der Staatsstrasse beim Hirschberg, östlich von Gossau. Für erstere besteht ein Bauprojekt, für letztere erst ein Vorprojekt. Wir denken, dass diese Arbeiten zeitlich nach einander [sic] aufgeführt werden müssten, um die gleichen Arbeiter längere Zeit beschäftigen zu können. Die Voranschläge beziffern sich auf rund Frs. 50‘000.00, ohne die Bodenerwerbungskosten. Von dieser Summe schätzen wir die Arbeitslöhne allein, und zwar nur für die Erd- und Chaussierungsarbeiten, auf Frs: [sic] 10‘000.00 bis 12‘000.00 ein, was einer Arbeitsleistung von zirka 2000 oder 20×100 Arbeitstagen entspricht. Es könnten also 20 Arbeiter 100 Tage lang Beschäftigung finden. Die Kosten der Interniertenverwendung würden bei Frs: 1.50 Taglohn Frs: 3‘000 betragen, womit sich eine Ersparnis von Frs: 7000.00 bis 9‘000.00 ergeben würde.

Die Arbeiten für Trottoirbauten sind mehr Spezialarbeiten, die grössere Kenntnis und Sorgfalt in der Ausführung verlangen. Erst wenn die Leistungsfähigkeit der Arbeiter bekannt wäre, könnte die Frage der Verwendung von Internierten für diese Arbeiten näher geprüft werden. Wir nehmen daher vorderhand davon Umgang, auch diese Arbeiten miteinzubeziehen.

Die von uns für die Arbeitslosenbeschäftigung vorgeschlagenen Sickerungsarbeiten [sic] an der Rorschacherstrasse sind abschnittsweise zur Zeit in Ausführung begriffen. Der grössere Teil soll jedoch erst nächstens in Angriff genommen werden. Darin sind die zu Frs: 10‘000.00 veranschlagten Arbeiten, die wir in unserem Bericht vom 4. Oktober 1916 aufführten, noch nicht inbegriffen. Die Arbeitslöhne partizipieren in diesen Summen etwa zu ¼ bis 1/3, für alles zusammen mit zirka Frs: 4‘000.00 oder zirka 650 gleich 10×65 Arbeitstagen. Ausser diesen Arbeiten sind auf der Rorschacherstrasse kleinere Verbesserungen der Nivellette, der Fahrbahn (stellenweise Legung eines Steinbetts) dringend durchzuführen, welche mindestens 500 Arbeitstage beanspruchen dürften. Auch könnten die Erdarbeiten für die Trottoirerstellung längs der neuen katholischen Kirche im Neudorf in die Reihe dieser Arbeiten einbezogen werden. Da von unserer Seite einen [sic] Bauaufseher zu stellen wäre, so sollte mit einer Arbeiterschaft von mindestens 15-20 Mann gerechnet werdern, um ihn angemessen beschäftigen zu können. Die Dauer dieser Beschäftigung könnte also für 15-20 Mann zirka 2 Monate betragen.

Bezüglich der Arbeiten an der Rorschacherstrasse speziell fügen wir zum Schlusse die Bemerkung bei, dass sich seit einiger Zeit schon mehrere hiesige Unternehmer dafür interessierten und von dieser Seite oft Anfragen an uns gerichtet werden, ob die fraglichen Arbeiten nicht bald zur Vergebung gelangen würden.

Hochachtungsvoll

Der Adjunkt des Kantonsingenieurs:

Vogt Ing. [Unterschrift]

1 Beilage retour.

Dem Brief liegt ein Schreiben der Zentralkommission für Beschäftigung der Internierten in Bern, datiert auf den 23. November 1916, an den Vorsteher des Baudepartements bei. Die Kommission unterstützt die Einschätzung des Kantonsingenieurbüros:

[…]

Die Arbeiten in der Nähe von Oberwaid und in Gossau würden wohl am ersten in Frage kommen, dagegen würde es kaum möglich sein[,] die nötige Zahl von Steinarbeitern für den Diepoldsauer Rheindurchstich zu finden, auch wenn die Frage nach Unterkunft und Verpflegung keine Schwierigkeiten machte.

Wir werden nun versuchen, Ihnen eine möglichst gute Arbeitergruppe von 20-40 Mann zusammen zu stellen, die dann für die erwähnten Arbeiten in Frage käme. Inzwischen könnten Sie vielleicht den nötigen Kredit einholen. Für die Qualität der Arbeiter können wir natürlich keine Sicherheit leisten, aber der ihnen auszuzahlende Lohn von ca. Frs. 1,50 für den Tag ist ja nicht so hoch, dass man allzu hohe Ansprüche stellen darf. Was die Disziplin anbelangt, so würde durch die Kommandierung von Unteroffizieren dafür gesorgt, dass Schwierigkeiten nicht entstehen können.

[…]

Laut handschriftlichem Kommentar von Regierungsrat Rüegg, dem Vorsteher des Baudepartements, vom 24. November 1916 wurde das Projekt schliesslich doch nicht umgesetzt, weil zu den vorgesehenen Löhnen keine Internierten erhältlich seien.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.62-1d (Beschäftigung von Arbeitslosen und Internierten mit Bauarbeiten) und A 481/02.02-49 (Kiesgewinnung mittels Greifbagger für den Diepoldsauer Durchstich. Die Arbeiten wurden 1923 abgeschlossen; Foto zwischen 1910 und 1914, Fotograf unbekannt)

Sonntag, 10. September 1916 – „Die Arbeiterschaft will nicht Unterstützungen, sondern eben Arbeit, Verdienst.“

Ostschweizerische Delegiertenversammlung       

Casino – St. Gallen. 10. September 1916.

Christlich-soziales Kartell Rorschach

Leofeier, abends 4 Uhr im Kasino Rorschach.

Ich halte ein Referat über aktuelle Tagesfragen.

Vikar Frick referiert über die Enzyklika Rerum Novarum.

Im Tagebuch eingeklebt ist ein Zeitungsartikel zur Delegiertenversammlung der Christlich-Sozialen Partei im Casino in St.Gallen, den Scherrer erwähnt:

Notstandstagung der ostschweizer. Christlich-Sozialen.

St.Gallen, 1. September

-sk. Im „Casino“ in St.Gallen tagten heute unter Vorsitz von Kantonsrat und Arbeitersekretär Scherrer-St.Fiden die Delegierten der ostschweizerischen christlich-sozialen Arbeiterorganisationen 108 Personen stark zur Besprechung der gegenwärtig drohenden Notlage der Arbeiterschaft und der Massnahmen zur wirksamen Bekämpfung der Teuerung. Die 108 Delegierten vertragen 11,500 organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen.

Kantonsrat Scherrer referierte über die gegenwärtige Teuerungs- und Notstandslage und der durch diese bedingten Massnahmen. Der Referent wies einleitend auf die immer schwieriger sich gestaltenden Verhältnisse unserer Import- und Exportverhältnisse hin und die sich dadurch ergebenden Schwierigkeiten für den Arbeiter; eine steigende Erwerbsunsicherheit, zunehmende Arbeitslosigkeit, grosse Verdienstausfälle sind die für das arbeitende Volk sich ergebenden fatalen Folgen der schlechten Industrielage, besonders in der ostschweizerischen Stickereiindustrie. Aber nicht nur der Ausfall an Lohneinnahmen verschlechtert die Existenzverhältnisse der untern Klassen, sondern äusserst drückend wirkt vor allem die stets noch steigende Teuerung. In vielen Arbeiterfamilien sind die Verhältnisse unhaltbar geworden, eine eingetretene Unterernährung in weiten Kreisen kann nicht bestritten werden. Anerkennend wurde hervorgehoben, dass man der Bundesbehörde und den Regierungen für die zur Sicherung der Verproviantierung unseres Landes getroffenen Massnahmen volles Vertrauen entgegenbringe und gewisse sich den Behörden entgegenstellende Hindernisse auch in der Arbeiterschaft nicht übersehen werden. Dagegen hätte ein hin und wieder früheres und energischeres Eingreifen das Volk noch vor manchen andern Schädigungen und Ausbeutungen durch gewissenlose Spekulanten bewahrt. Dringend muss aber verlangt werden, dass die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen, Höchstpreise u. dgl. auch glatt zur Durchführung kommen und die heute en gros betriebenen Umgehungen derselben durch die kantonalen und kommunalen Behörden energisch und sofort geahndet und bestraft werden. Es sind hier schreiende Missverhältnisse zu konstatieren, die nicht vorkommen würden, wenn besonders alle kommunalen Behörden ihre Pflicht erfüllen würden. Der Referent postulierte mit vollem Recht eine schärfere und durchgreifende Kontrolle der Höchstpreise, Kontrolle der Märkte usf. Um die Verproviantierung des Volkes für den nächsten Winter sicherzustellen, wurde für das ganze Land die Bestandesaufnahme der Lebensmittel verlangt. Ebenso wurde die sofortige Festsetzung von Höchstpreisen für das Obst, wie der Erlass eines Ausfuhrverbots dringend verlangt. Das Obst soll, da besonders die Aepfel eine normale Ernte haben, dem eigenen Volke zu einem anständigen, käuflichen Preise erhalten bleiben. Dem Obstdörren muss besonders infolge des eintretenden Mangels an Kartoffeln besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Für die Lebensmittel soll auch der Verkaufszwang eingeführt werden, da Höchstpreise praktisch nur so lange Wert haben, als genügend Waren vorhanden sind. Die Ausfuhr von Schlachtvieh muss verhindert werden. Gemeinden, Genossenschaften und Privathandel sollen bei Fürsorgeaktionen für die ärmsten Klassen Lebensmittel zum Selbstkostenpreise abgeben. Die Unkosten sind durch die Gemeinden zu tragen.

Im weiteren wurde der entschiedenen, gewerkschaftlichen Aktion gerufen. Besonders soll die Arbeiterschaft den Arbeitslosenkassen grösste Aufmerksamkeit entgegenbringen. Mit Ungeduld erwartet man einmal bestimmten Aufschluss über die längst in Szene gesetzte Notstandsfondsaktion der Stickereiindustriellen. Nach wir vor ist der Arbeitsbeschaffung für die Arbeitslosen dringende Beachtung zu schenken. Die Arbeiterschaft will nicht Unterstützungen, sondern eben Arbeit, Verdienst. Die eidgenössischen, kantonalen und kommunalen Behörden sollen planierte [geplante] Bauten, Strassen, Bachverbauungen, Bodenverbesserungen jetzt durchführen. Der Arbeit steht dann eine effektive Gegenleistung gegenüber, was bei blossen Unterstützungen nicht der Fall ist. Die Vereine werden angehalten, an jedem Orte eine eigene lokale Notstandskommission zu bilden, der der Referent eine Reihe höchst aktueller und wichtiger Aufgaben zuwies. Wir nennen: Kontrolle der Lebensmittelpreise, monatliche Preisstatistik, Fürsorge für bedürftige Mitglieder und unorganisierte Arbeiter, Schaffung einer kommunalen Beratungsstelle, Strafanzeige bei Höchstpreisübertretungen, regelmässige Berichterstattung über Betriebseinstellungen, Lohn- und Arbeitsverhältnisse, Fürsorgetätigkeit an die zentrale Notstandskommission. –

Schliesslich wurde auch die Bedeutung des Anbaues von Pflanzland für den Arbeiter hervorgehoben. Die Gemeinden sollten Pflanzland den unbemittelten Leuten unentgeltlich überlassen, Samen und Setzlinge zum Selbstkostenpreise überlassen, der Staats sollte auch dem Arbeiter, sofern er nicht Gratisland bebauen kann, eine angemessene Anbauprämie geben. Die Vereine sollen über den Gartenbau aufklärende und schulende Vorträge halten. – Den Hypothekarverhältnissen, die heute besonders drückend wirken für die kleinen Leute, soll ebenfalls vermehrte Aufmerksamkeit zugewendet werden. Rigoroses Vorgehen der Bankinstitute soll dem zentralen Notstandskomitee gemeldet werden, damit die geeigneten Schritte unternommen werden können.

Schliesslich werden die Vereine aufgefordert, während der kommenden Winterszeit nicht müssig zu bleiben, sondern alles einzusetzen, um Not zu lindern und zu verhüten. Wir wollen auf dem Boden der Gesetzlichkeit, des bestehenden Rechts und der bestehenden Ordnung die Interessen des arbeitenden Volkes mit aller Entschiedenheit vertreten und wahren. Wir hoffen dabei aber zum allermindesten eine Unterstützung und Berücksichtigung seitens der Bundes- und kantonalen Regierungen, wie die antinationale, radikale und revolutionäre Sozialdemokratie. Gegen die im „System“ liegende Zurücksetzung der christlich-nationalen Arbeiterschaft ist der laute und nachdrückliche Protest heute doppelt notwendig.

Die lebhaft einsetzende Diskussion, die die Ausführungen des Referenten übereinstimmend und energisch unterstützte, wurde benützt von Gemeinderat Braun, Verbandspräsident der Genossenschaften Konkordia, Kantonsrat Dr. Duft, Sekundarlehrer Pfister, Vikar Kissling, Schönenberger, Sticker, Hutter-Gschwend, Commis, Kantonsrat Bruggmann, Frl. Braun, Schwizer, Sticker, Täschler, Verwalter Eisele, Kantonsrat Klaus u.a.

Die Versammlung nahm hierauf einstimmig eine von Kantonsrat Brielmaier gestellte Resolution an, die den vom Referenten aufgestellten Postulaten zustimmt und das ostschweizerische Komitee beauftragt, die notwendigen Schritte zur Bekämpfung des Wuchers und der Lebensmittelspekulation bei den eidgenössischen und kantonalen Regierungen unverzüglich zu unternehmen und für die Durchführung der Postulate rastlos tätig zu sein.

Das bestehende ostschweizerische Komitee der christlich-sozialen Arbeiterverbände wurde mit Kantonsrat Scherrer an der Spitze einstimmig bestätigt.

Die Christlichsozialen drei Jahre später (Oktober 1919) an der Feier im Casino St.Gallen anlässlich der Nationalratswahlen. Von links nach rechts: Gewerkschaftssekretär Gustav Helfenberger, Albert Rütsche, Dr. Max Rohr, ein Kollege aus Bruggen, Joh. Müller, Dr. Johannes Duft, Josef Bruggmann, Josef Scherrer, Lehrer J. Seitz, Bankdirektor John Merten, Zeughausarbeiter Josef Odermatt, Baumberger (?), Zugführer Bischof, Conducteur Mösle

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108 (Tagebucheintrag) und P 907 (Die Ostschweiz, 43. Jg., Nr. 211 vom 11.09.1916, Abendblatt) sowie W 268/05.01 (Foto der Wahlfeier)

Handsticker am Pantograph mit Fädlerin, um 1900

Mittwoch, 30. August 1916 – Klagen einer Handsticker-Frau

Aus der Stickerei-Industrie.

Notleidende Handsticker.

Durch Vermittlung ist uns ein Brief einer Frau, deren Mann Handsticker ist, zugekommen. Wir erachten es als Pflicht, das Tatsächliche aus diesem Briefe hier wiederzugeben; denn die Not in den Kreisen der Handsticker auf dem Lande ist viel grösser, als man gemeinhin annimmt. Wer sich die Mühe nimmt, die Leute zu besuchen, lernt Zustände kennen, die einen im Innersten ergreifen müssen. Unterernährung, Kränkeln, Verbitterung oder stummes Sichdareinschicken, das ist’s, was man am Pantograph findet.

Als geplagte Stickersfrau, so heisst es u.a. in dem erwähnten Briefe, möchte ich schildern, wie es um unsern Verdienst steht. Ich fürchte zwar, es nütze nicht viel. Man redet immer, dass Hilfe nötig sei; es wird ja, wenigstens auf dem Lande, nichts getan; man meint, das Elend sei noch nicht gross genug. Ist es nicht genug, wenn Familienväter wegen Unterernährung an der Maschine krank werden? Wenn unterernährte Handsticker wegen ungenügender Ernährung keine Kraft mehr haben und so der Krankheit erliegen, wann ist es denn genug? Mein Mann und ich müssen jeden Tag 13 Stunden arbeiten. Im Sommer, wenn wir kein Petrol brauchen, können wir, falls kein Abzug gemacht wird, 2 Fr. im Tag zusammenbringen; im Winter aber nur Fr. 1.30, weil wir für das Petrol, also für das Licht noch 70 Rp. ausgeben müssen. Ich frage: Wir können drei Personen heute leben mit 2 Fr. Verdienst im Sommer und Fr. 1.30 im Winter? Wir haben nur ein Kind und wissen kaum, wo aus und ein. Wie machen es jene, die mehrere Kinder haben? Ich will Ihnen vorrechnen zum Beweis, dass ich die Wahrheit schreibe: Wir haben auf gewöhnliche Ware 27 Rp. Lohn auf 4/4 Rapport 2000 Stiche; im Tag macht das Fr. 5.40. Wir brauchen aber 2½ Strang Garn, macht 2 Fr., 1 Fr. für den Hauszins, 40 Rp. für Nadeln, Wachs, Maschinenöl; alles zusammen Fr. 3.40 Spesen. Uns bleiben also noch 2 Fr. reiner Verdienst, vorausgesetzt, die Ware bringe keinen Abzug. Nun müssen wir mit 2 Fr. essen, für Kleider sparen, Steuern und Krankengeld bezahlen. Wie weit reichen heute 2 Fr. im Tage, wenn man an die hohen Lebensmittelpreise denkt? Haben da gewisse Herren, die in der Armenbehörde sitzen, das Recht zu sagen, ein Kind sollte man denn doch noch erhalten können? Wissen jene Herren, wie man das macht? Wissen sie, was Not und Unterernährung heissen? Das ist eben das Traurige, dass Mann und Frau, die vom frühen Morgen bis spät arbeiten, ihr einziges Kind fast nicht mehr ernähren können.

Sieht mein Mann sich nach anderer Arbeit um, dann heisst es, er sei zu alt (56 Jahre) und zu schwach. Wer kann stark und kräftig werden durch Unterernährung?

Wir hatten noch die halbe Zeit keine Arbeit; seit drei Jahren fehlt uns überhaupt ständige Beschäftigung. So haben wir das in besseren Zeiten mühsam ersparte Geldchen bis zum letzten Rappen aufgebraucht. Die Automaten und Schiffli haben uns uns um den Verdienst gebracht; Spezialware erhalten wir auch keine.

So ist die Lage der Handsticker auf dem Lande. In der Stadt werden Bürger, die unter den Zeitverhältnissen leiden und in Not geraten, ohne weiteres unterstützt. Die Auffassung des Begriffes «unterstützungsbedürftig» ist auf dem Lande bei vielen Armenbehörden heute noch eine veraltete, was selbstverständlich die Notleidenden empfinden müssen. Es gibt heute noch Armenbehörden, die arm gleichstellen mit ehrlos usw. Deshalb gelangen Unterstützungsbedürftige, die in ihrer Armut doch noch das alte Ehrgefühl bewahren wollen, nur im äussersten Falle an die Armenherren. Manche hungern lieber, als dass sie sich wie Bettler betrachten lassen wollen. Ist es nicht so?

Wir haben letzthin einen Handsticker auf dem Lande besucht. Auch dieser klagte bitter über die traurigen Verhältnisse in den Handstickerkreisen. Nach Abzug des Lohnes für die Fädlerin, der Spesen für Garn, Licht, Zutaten bleibt nichts mehr übrig. Der Mann bot das Bild schwerer Unterernährung. Seine Kost besteht aus dünnem Milchkaffee, Brot, wenn es gut geht, langt’s noch zu Kartoffeln. Der Riebel [Mais] ist ihm zu teuer. Butter ist nicht zu erstehen; das Geld langt nicht. Am Abend wird kein Licht angezündet; das Petrol ist zu teuer. Ein bisschen schlechter Tabak ist die einzige Freude, die der arme Mann noch hat. Auch er würde gerne behördliche Unterstützung annehmen, allein er fürchtet die strenge Armenbehörde seiner Gemeinde und – stickt nun um einen Hungerlohn, solange er kann.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 909 (St.Galler Tagblatt, Nr. 203, 30.08.1916, Abendblatt) und W 238/10.00-03 (Bild um 1900, Handsticker am Pantograph mit Fädlerin, offenbar vor der Krise)

Mittwoch, 2. August 1916 – «industrielle Halbtagsarbeit» und Frauen als Konkurrentinnen auf dem Arbeitsmarkt

Die Frauenarbeit in der Kriegszeit.

(Eing[e]sandt.)

Durch den Krieg ist die Frauen- und Kinderarbeit – mehr als je gedacht werden konnte – zur Aufrechthaltung des Wirtschaftslebens herangezogen worden. Die Heranziehung der Frau zur Arbeit in der Industrie, also vorab in der Fabrik, war schon vor dem Kriege in steter Zunahme begriffen, immer mehr trat die Frau an Stelle des Mannes, des Arbeiters, so dass schon vor dem Kriege diese Frage für den Arbeiterstand geradezu eine brennende geworden war. Die Frau war nicht nur Konkurrentin des Mannes, sondern auch seine gefährliche Lohndrückerin. Der Krieg hat diese Entwicklung mächtig gefördert. Vorab in den kriegführenden Staaten. Die Männer mussten immer mehr ihre friedliche Arbeit in Fabrik und Werkstätte vertauschen mit der grausigen Kriegsarbeit. Anderseits erstand in vielen Berufen die Notwendigkeit vermehrter Tätigkeit. Es traf dies vor allem die Betriebe, die mit Heereslieferungen beschäftigt waren. So sehen wir denn, wie in den kriegführenden Staaten die Frau immer mehr Einzug hält in den Fabriken. Sie wird nun heute zu Arbeiten herangezogen, von der man früher es sich nicht vorstellen konnte, dass sie von schwachen Frauen ausgeführt werden könnte. Im Dezember 1915 hat das österreichische Kriegsministerium einen Erlass an die Oeffentlichkeit gegeben, wonach die Frauen ersucht werden, in den Betrieben die Stellen der Männer, die in den Krieg ziehen mussten, einzunehmen. Es heisst dort: «… Bei Zuziehung des weiblichen Elementes würde eine namhafte Anzahl kriegstauglicher und militärisch ausgebildeter Männer für den Frontdienst frei. Die Front ist die Domäne des waffenfähigen Mannes. Dorthin zu gelangen soll das Streben jedes Einzelnen sein. Dass nicht nur der einfache Arbeiter von der Arbeiterin abgelöst werden soll, sondern dass auch manche industrielle Beamte von der intelligenten Frauenwelt ersetzt werden können, wodurch die Armee zahlreiche Offiziere gewänne, ist selbstverständlich. … Kein Zweifel, die für das Heer arbeitende Frau ist der Soldat des Hinterlandes. … So manche Mutter, welche vormittags ihre Kinder betreut, könnte nachmittags, wo sie ihre Familie, sei es bei Verwandten, sei es in Kindergärten und dergleichen, beaufsichtigt weiss, industrielle Halbtagsarbeit leisten und dadurch zur Verbesserung ihrer und ihrer Familie Lebensführung beitragen. … Dass viele Arbeiterinnen Ersatz für gefallenen oder invalide gewordene Männer sein werden, ist wohl auch vrständlich. Den verstorbenen Helden vertritt seine Frau, seine Tochter, die so auch am besten versorgt sein werden (?) …» Es wäre ja sehr interessant, diesen Erlass, der hier stückweise zitiert worden, nach verschiedenen Seiten einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Wir überlassen den Lesern, es selber zu tun. Auf alle Fälle steht heute fest, dass die Heranziehung der Frau zur Fabrikarbeit grosse Fortschritte gemacht hat. Die Firma Krupp, die bekannte Kanonenfabrik, die am 1. Januar 1913 erst 1666 Frauen beschäftigte, zählte am Schlusse des Jahres bereits deren 10,928 und am 1. April 1916 sogar schon 13,023. Prozentual noch stärker hat die Frauenarbeit bei Tyssen [Thyssen] – eine bekannte grosse Firma der Metall- und Hüttenindustrie – zugenommen, welcher [sic] am 1. März 1916 erst 82 Frauen beschäftigte und am 1. Dezember 1915 schon 3755. Die Zahlen sind inzwischen wieder mächtiger gewachsen und weisen Tag für Tag höhere Frauenbeschäftigung auf. Durch den Krieg zurückgegangene Industrien, wie die Textilindustrie, geben ihre Arbeiterinnen in grosser Zahl der Eisenindustrie ab. Die Frauen treten ihre Arbeit in der Eisenindustrie an, durchaus unbekannt mit den schwierigen Verhältnissen und sind sich ihrer Rechte und Pflichten als Mitglieder des Arbeiterstandes nicht bewusst. Die Arbeiter sehen dann in ihnen vielfach die Konkurrenten auf dem Lohnmarkt, die ihre ohnehin nicht hohen Einnahmen noch weiter drücken wollen, nicht aber die Mitarbeiterin, die durch die Not der Stunde gezwungen wird, ihre Arbeitskraft in dieser Weise zu verwerten.

Wer die ganze Frage ganz oberflächlich betrachtet, wird vielleicht gar nicht einmal eine besondere Gefahr in dieser vermehrten Heranziehung der Frau im Erwerbsleben erblicken. Und doch bestehen Gefahren in mehr als einer Hinsicht. Dass die Frau zur Konkurrentin des Mannes wird, das ist bereits angeführt. Die Frau erhält bis heute, auch wenn sie die gleiche Arbeit leistet wie der Mann, doch nicht die gleiche Entlöhnung, auch nicht bei Akkordarbeit. Der Beweis ist in der deutschen Industrie erbracht worden, dass auch hier die Frau nur die Hälfte des Preises erhält, den ehedem der Arbeiter erhalten. Eine grosse Ungerechtigkeit. Und dann ist heute noch nicht sicher, ob nach dem Kriege die Frauen ihre Plätze wieder verlassen, oder besser gesagt, ob der Arbeitgeber die billigen weiblichen Arbeitskräfte entlässt und wieder den Mann, der aus dem Kriege heimkehrt, an seinen Platz stellt. Die Frage wird erst noch gelöst werden müssen. Vielleicht bekommt ein Redner im deutschen Reichstag doch noch recht, der sagte, dass Gefahr besteht, dass viele deutsche Arbeiter den Schützengraben nur mit dem Strassengraben vertauschen müssen.

Diese vermehrte Heranziehung der Frau zur Fabrikarbeite, dazu noch zu Arbeiten, die der Art der Frau in keiner Weise zusagen, hat aber auch noch eine andere grosse Gefahr herausbeschworen. Und das ist die Untergrabung der Vo[l]kskraft, und zwar in der Frau und im Kinde. Denn eine Frau, die zu solcher Arbeit herangezogen wird, die wird gar bald am Ende ihrer Kräfte sein. Wie soll sie dann aber noch ihre Kinder gut ernähren und erziehen? Uebrigens brauchen wir da gar nicht mehr zu warten, denn schon jetzt stellen die Aerzte die schweren Nachteile dieser Arbeit für die Frau fest. So erklärt Sanitätsrat Dr. Freudental: «Ich kann als Arzt nur auf Grund zahlreicher Erfahrungen bestätigen, was von den Laien nach dem Augenschein behauptet wird, dass durch die Kriegsarbeit mit ihren Ueberstunden, der Sonntags- und Nachtarbeit bei den Frauen die schwersten gesundheitlichen Schädigungen hervorgerufen sind. Ich erinnere mich nicht, jemals so schwere und so viele Fälle von Nervenschwäche und Nervenzerrüttung gesehen zu haben wie seit Jahresfrist.»

Ein netter Ausblick in die Zukunft der kriegführenden Länder. Die Männer fallen im Kriege oder kommen als Krüppel oder sonst als Kranke und Sieche heim, derweil wird zu Hause die Kraft der Frau durch die Arbeit in der Fabrik bei ungewohnter und unpassender Arbeit zugrunde gerichtet. Was doch für furchtbare Opfer diesem Kriegswahn geopfert werden.

Wenn es bei uns in der Schweiz auch nicht so schlimm steht, so steht doch auch fest, dass die Frauenarbeit in der Zunahme begriffen ist. Wird aber die Frau zur Arbeit herangezogen, dann ist es eben so [sic] klar, dass sie auch zu den wirtschaftlichen Organisationen des Arbeiterstandes beigezogen werden soll. Genau wie der Arbeiter. Denn sie arbeitet zu den gleichen Verhältnissen wie der Arbeiter, also muss sie auch die gleichen Mittel gebrauchen zu ihrer Besserung.

Die christlichen Gewerkschaften gedenken in Gemeinschaft mit den katholischen Arbeiterinnenvereinen durch Schaffung einer Arbeitslosenunterstützungskasse einen wichtigen Schritt zu tun in der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterinnen.

M.

Anzeige für Bürstenwaren

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 907 (Die Ostschweiz, Nr. 178, 02.08.1916, Abendblatt, Feuilleton, Text und 28.07.1916, Nr. 174, Abendblatt, Anzeige)

Samstag, 4. März 1916 – Wahre Patrioten schauen nicht auf’s Geld

Militärfreie Bewerber bevorzugt.

Wir haben schon oft auf das Erbärmliche hingewiesen, dass gerade heute darin liegt, dass in Stellenangeboten militärfreie Bewerber bevorzugt werden. Dem Hauptorgan der freisinnig-demokratischen Partei, das zugleich auch das Organ der Hochfinanz ist, entnehmen wir nachfolgende Annonce:

«Zum möglichst sofortigen Eintritt wird von bedeutender Elektrizitätsfirma ein tüchtiger, intelligenter Kaufmann als Abrechner für elektrische Licht- und Kraftanlagen gesucht.

Es wird nur auf einen jüngern, arbeitsfreudigen, in ähnlicher Stellung bereits tätig gewesenen Herrn reflektiert, der an selbständiges Arbeiten gewöhnt ist und dem es daran liegt, sich eine aussichtsreiche Stellung zu schaffen. Militärfreie Bewerber, Schweizer Nationalität, werden bevorzugt.

Ausführliche Offerten mit Zeugnisabschriften, Gehaltsansprüchen und möglichst unter Chiffre F. 1831 an die Annoncen-Abteilung der Neuen Zürcher Zeitung.»

So fördern patriotische Firmeninhaber die Landesinteressen, indem sie immer zuerst ihren eigenen Geldsack berücksichtigen!

Quelle: Volksstimme. Sozialdemokratisches Tagblatt für die Stadt St.Gallen und die Kantone St.Gallen, Appenzell und Thurgau. Organ der sozialdemokratischen Partei des Kantons St.Gallen, der Arbeiterunionen St.Gallen, Gossau, Uzwil, Wil, Toggenburg, Rapperswil, St.Margrethen und Rorschach. Amtliches Publikationsorgan der Stadt St.Gallen und der Gemeinden Tablat, Straubenzell, Rorschach, Rorschacherberg und Rapperswil, Nr. 54, 4. März 1916 (Staatsarchiv St.Gallen, P 908)