Die verwitwete Adele Berner-Wenner war von Süditalien nach Zürich umgezogen, wo sie bei Verwandten Unterschlupf gefunden hatte. Sie schrieb ihrer Schwester:
[Randnotiz:] Erhalten i[n] Fratte
Zürich, Engl. Viertelstr. 52.
22. Aug. 1917.
Meine liebe Silvia,
Ich hoffe, dass Euch meine verschiedenen Karten richtig zugekommen sind, & danke Dir noch sehr herzlich für Deinen lb. Brief, den ich vor der Abreise noch bekam. – Ich habe die Zeit in Fratte sehr, sehr genossen & fand es herrlich wieder einmal länger da zu sein; die Schwierigkeiten im Haushalt tun mir nur leid[,] weil sie Euch so viel Mühe machen, & hauptsächlich weil sie Mama aufregen, aber sonst berühren sie mich nur ganz vorübergehend, & ich kann das übrige dabei immer gleichwo[hl geniessen.] – Die letzten Tage in meinem Hause waren dann furchtbar ermüdend & anstrengend bei der argen Hitze, & ich war wirklcih ziemlich kaput [sic]; in der Nacht konnte ich nur nch ganz wenig schlafen, teil wegen der Hitze & teils wegen allem was immer im Kopf herum ging. So fand ich den ersten Teil der Reise ganz ausruhend. Alex war aber die ganze Zeit über sehr ordentlich & anständig & half dem portier [sic] sogar meinen grossen Koffer hinunter tragen, weil niemand anders da war. – Bei Emil Berners war es sehr nett, Anna war zwar zu Bett, weil sie rheum. Schmerzen gehabt hatte, aber sie empfing uns sehr nett in ihrem Zimmer. Dann hatten wir einen guten Thee, & nachher liess uns Emil in einer schönen Remise-Vectaria [?] eine prachtvolle Fahrt machen. Schon 1 ½ St. vor Abfahrt des Zuges waren wir an der Bahn & bis wir unsern Proviant gekauft hatten konnte man einsteigen & wir hatten sehr gute Plätze in der I Classe über die Nacht. Alex war hoch erfreut. Am nächsten Tag ging alles nach Wunsch, zwar war ich höchst erstaunt, dass wir durchfahren sollten, aber mit etwas Eile ging alles ganz gut & wir waren gegen Mitternacht hier. Von 4 Uhr an aber mehr wie 7 Stdn. über den Gotthard zu brauchen ist ein wenig eine Geduldsprobe, & wir waren recht müde. Mama Berner hat es aber gut ertragen & sie sieht sehr gut aus. –
Es scheint mir nicht[,] dass ich wenige mehr als seine Woche von Euch fort bin, sondern schon eine lange Zeit. Hoffentlich geht es Euch allen gut & nimmt Gränni [Granny? Grossmutter] wieder ein wenig zu. Es war prachtvolles Wetter über den Gotthard, & die Luft so herrlich, ich musste besonders an Mama denken. Am Sonntag nachm. war es hier schwül, & am Abend kame in starkes & langes Gewitter. Onkel Victor war am Morgen hier bei den Cousinen, & am Montag nahm. kamen T. Marie & Mignon zum Thee. Sie sind diesen Sommer nicht fort gewesen. –
Man spricht ernstlich davon[,] dass die Schulkinder diesen Herbst entweder gar keine Ferien, oder nur einige Tage haben sollen, & dafür vom 13[.] Dec. bis Ende Januar die Schulen geschlossen bleiben sollen wegen dem grossen Mangel an Heizmaterial. Da müsste ich sehen wie sich das für Alex einrichten liesse, den das wären ja mehr wie 6 Wochen. – Gestern gegen Abend haben wir die Bicyclette ausgewählt, es war ein grosser Moment, & heute nach der Schule kam Alex sie abholen & machte dann seine erste Fahrt hier herauf um sie vorzuführen. Sie ist wirklich sehr schön. Natürlich mussten noch alle möglichen Bedingungen daran geknüpft werden; er darf am Morgen nicht damit in die Schule fahren, aber er hat sich arein gefunden. Bei Heftis ist man im allgemeinen mit Alex zufrieden, aber von verschiedener Seite höre ich dass er im Winter alles sehr waghhalsig betrieben habe, & so könnte ich ihn wo[h]l nicht wieder für längere Zeit allein in die Berge schicken, er ist dort zu sehr sich selbst überlassen. In den nächsten Wochen wird sich das alles noch zeigen, vor der gegebenen Zeit lässt sich nichts entscheiden. –
Ich habe hier noch nicht angefangen zu hetzen, & hoffe dass ich es dieses Jahr überhaupt vermeiden kann, wenn ich jeden Tag etwas absolviere. Aber weisst Du[,] aus den Stunden für Buchführung wird wieder nichts, den Tante F. Bärlocher ist nicht mehr in Zürich, & da müsste man schon gleich einen Kurs nehmen, & die dauern eben länger als ich Zeit habe. Ich werde suchen mir so viel wie möglich von den Cousinen practisch [sic] zeigen zu lassen. Es ist mir dies eine kl. Enttäuschung, denn ich wollte recht energisch dahinter.
Ihr werdet unterdessen auch die Todesanzeige von Herrn Jules Sulzberger bekommen haben; es ist ein Glück[,] dass er sterben konnte. –
Vielleicht morgen wollen wir Gretchen in Küsnacht besuchen, den sie geht bald nach Genf zurück. Wusstest Du dass Eboie [?] einige Jahre älter war als Harold? Die Cousinen sagen dass er eine solche Liebe & Achtung für Rosie hatte, dass sich dieselbe auf alle erstrecke, die den Familiennamen seiner Frau haben. Das freut einem [sic] doch. –
Das Wohnzimmer von den Cousinen ist sehr nett geworden & sie haben grosse Freude daran. Es ist wieder so nett & gemütlich bei ihnen, & es riecht so gut nach “Schweiz” in der Luft; es ist heute ein prächtiger Tag, & die Cousinen sind schon von 7-9 Uhr geritten. Es tut mir ganz leid, dass gerade ich diejenige bin, die hieher kommen musste, & würde mich freuen wenn ich & ihr oder Mama an meine Stelle tun könnte, obschon ich es selbst auch wirklich geniesse. –
Hoffentlich habt Ihr noch schöne Meerbäder. Hat wo[h]l Maria auch damit anfangen können? – Ich kann Dir nicht sagen wie dankbar ich war[,] dass meine ersten Ruhetage vorbei waren, wie ich nach Hause kam, & diesmal hat es sich wirklich herrlich getroffen. Es scheint mir[,] es wäre sonst einfach nicht gegangen. –
Und nun noch viele herzliche Grüsse von allen hier, an die Eltern & Dich & Euch alle, & besonders von mir. Dich liebes Kleinod [unlesbar] umarmt von Herzen, Deine Dich innig liebende
Adèle Berner.
Adele Berner logierte bei der Familie von Victor Wenner-Keibl (1857-1929), dem Stadtingenieur von Zürich. Unterlagen zu dieser Familie finden sich im Staatsarchiv St.Gallen unter: W 054/121
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Quellen: W 054/127.4.2 (Briefe an Silvia Wenner) und W 054/125.11.2 (Beitragsbild: Alex Berner, 1916 und 1917)