Georges Stouvenot (1885-1955) hatte von 1909 bis 1912 als Lehrer im Landerziehungsheim Hof Oberkirch gewirkt. Im Krieg war er als Soldat in die französische Armee eingezogen worden und dort als «Caporal» Rekruten ausgebildet. Mit einem auf den 18. Oktober 1917 datierten Brief berichtete über sein Leben in der Heimat. Arnas liegt im Rhonetal zwischen Dijon und Lyon:
Arnas, 18. Oktober 1917.
Ich bin sehr verlegen, Ihnen triftige Gründe über mein langes Stillschweigen anzugeben. Wie oft habe ich mir vorgenommen, Ihnen endlich einmal zu schreiben und Ihre verschiedenen Grüsse zu erwidern; aber ich war selten in der Lage, meine Gedanken geordnet vorzubringen. Ende Juli war ich einige Tage zu Hause; im August beschäftigten mich die ökonomischen Probleme so sehr, das ich keine Lust hatte, Korrespondenzen zu schreiben; dann im September hatten wir Weinernte und ich musste mich intensiver mit den Gefangenen beschäftigen.
Unterdessen habe ich Ihren lieben Brief vom 26.VI.17 wohl erhalten; ebenso die Hofzeitung, die mich daheim traf; ferner die Grusskarte der Alt-Oberkirchler vom 10. Sept. Besten Dank für alle die Mitteilungen und Grüsse, die mich äusserst freuten. – Am meisten interessierte mich Ihr Vortrag in der Neuen Helvetischen Gesellschaft über die Schulerziehung nach dem Kriege. – Freilich, die Umstände nötigen uns, unsere Aufmerksamkeit Problemen zuzuwenden, die vor dem Kriege nicht existierten. Es gibt Arbeit in Hülle und Fülle; ich glaube gar, ich habe meine Ziele zu weit und zu hoch gegriffen; und den Segen unserer Bemühungen werden wir wohl nicht mehr voll erleben können.
Seit vielen Wochen bin ich daran, meine Kenntnisse in Geschichte und namentlich in der Geographie zu revidieren und zu erweitern. Ich brauche sie notwendig zum Studium der ökonomischen Probleme. Ferner erprobte ich fleissig seit Anfang August meine Geduld im Aufbeissen harter Nüsse, wie die Lektüre von Cornelius Nepos; es ist eine tadellose Willensübung.
Mir geht’s in jeder Beziehung recht gut; ich habe keinen Grund, mich zu beklagen, im Gegenteil.
Herzliche Grüsse an alle!
Georges Stouvenot, chef de détachement de P.G. d’Arnas.
Hinweis: Cornelius Nepos war ein römischer Geschichtsschreiber.
Zu Stouvenot: vgl. auch Beitrag vom 1. März 1916. In einer Zuschrift an die Höfler-Zeitung vom 31. Januar 1915 hatte er sich u.a. Gedanken über die Parteilichkeit der Kriegsgegner und die jeweilige Propaganda gemacht:
Eine Zeitlang habe ich felsenfest Alles geglaubt, was unserseits geschrieben wurde, bis es mir zum Bewusstsein kam, dass ich als Gast Eures lieben Landes einst selbst anders gedacht hatte. Nun weiss ich, dass das Herz selten irrt, wohl aber der Verstand. Wie schwer ist es ja Euch, jedem der Kriegsführenden unparteiisch sein Recht zuzusprechen! Darüber habe ich mich lange verwundert.
Ich habe ferner versucht, einen klaren Einblick über die politische Lage bei uns und in der übrigen Welt zu gewinnen. Zeitungen jeder Färbung, klerikale wie antiklerikale Blätter studiere ich fleissig; doch umsonst! Wem soll ich glauben? Ich kann mich keiner Partei voll und ganz verpflichten.
Also trotz eines glühenden Optimismus bin ich ein Skeptiker geworden. Ich traue Niemandem mehr ohne weiteres. Ich will abwägen und zuletzt ein Urteil erarbeiten, das für mich gültig ist, das ich aber keineswegs Andern aufzudrängen beabsichtige.
Jetzt endlich bin ich auf jede Eventualität gefasst und bleibe meinem Vorsatze treu, die Erfahrungen eines jeden Tages fleissig zu beherzigen.
Mit herzlichem Gruss, Euer
G. Stouvenot, Caporal, 176e de Ligne, 26e Cie de Dépot, Epinal.
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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Hof-Zeitung, herausgegeben im Land-Erziehungsheim Hof Oberkirch unter der Leitung von Anton Blöchlinger, Nr. 12, April 1918, resp. Nr. 3, März 1915; Beitragsbild: Linolschnitt von Max Hegetschweiler auf dem Titelblatt dieser Ausgabe der Hofzeitung)