Henne mit Küken, 1916

Ostersamstag, 30. März 1918 – Amtliches zu Hunden, Hühnern, Löwenzahn und Gitterrost

Der Gemeinderat von Wattwil liess folgende Massnahmen gegen Schäden, welche die landwirtschaftliche Produktion bedrohen, publizieren:

a) Hagelversicherung:

Der Regierungsrat hat dieses Jahr wiederum beschlossen, zur Fördreung der Hagelversicherung die sogenannten Nebenkosten (Police und Stempelgebühren) sowie 30% der Versicherungsprämien für Reben und 20% derjenigen für die übrigen Kulturen aus der Staatskasse zu decken. Wir empfehlen daher der Bauernsame, sowie der weitern Ackerbau treibenden Bevölkerung angelegentlichst, sich die vorteilhafte und segensreiche Institution der Schweiz. Hagelversicherung, sowie das Anerbieten des Staates zu Nutzen zu machen, indem sie ihre Kulturen gegen event. Hagelschäden versichern lassen.

b) Schutz gegen gemeinschädliche Pflanzen:

Die Grundbesitzer sind verpflichtet, die Misteln auf den Obstbäumen, den einheimischen Sephibaum (Juniperus sabina [Giftwacholder]) in der Nähe von Birnbäumen, sowie zur wirksamen Bekämfpung des schädlichen Gitterrostes der Birnbäume, die kultivierten Sephibäume und -Sträucher, sobald sie mit dem Rostpilz behaftet sind, als gemeinschädliche Pflanzen zu beseitigen. Nichtbeachtung dieser Vorschriften wird mit Busse bis auf Fr. 20.- bestraft. Das Forstpersonal ist pflichtig, die Entfernung der Misteln von den Waldbäumen anzuordnen.

c) Bekämpfung tierischer Schädlinge:

Als tierische Schädlinge sind zu bezeichnen, Mäuse, Blutläuse, Wespen, Kohlweisslinge e[t]c. Von den Grundbesitzern muss in ihrem eigenen Interesse verlangt werden, dass der Mäusevertilgung mehr als bisher Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im ferneren ist dringend zu empfehlen, dass die Bekämpfung der Wespen und Kohlweisslinge durch frühzeitiges Abfangen an die Hand genommen wird. Wir denken hiebei [sic] namentlich an die Mitwirkung der Schuljugend.

Die Lebensmittelfürsorgekommission der Gemeinde Wattwil erliess ein Verbot betr. das Halten von Hunden:

Die Fürsorgekommission hat in ihrer letzten Sitzung beschlossen: Es sei denjenigen Personen, welche die billigeren Lebensmittel beziehen, das Halten von Hunden verboten, bezw. es sei die Abgabe billigerer Lebensmittel zu verweigern, event. zu entziehen. Zuwiderhandlungen gegen vorstehenden Beschluss ersucht die Fürsorgekommission ihr schriftlich mitzuteilen.

Gleichzeitig liessen die Gemeinderäte des Bezirks Neutoggenburg zweisprachig folgendes Verbot veröffentlichen:

Es wird neuerdings zur Kenntnis gebracht, dass es unberechtigte Betreten von Gärten, Wiesen und Fluren, um Blumen zu pflücken, Futter für Kaninchen zu sammeln oder Löwenzahn auszustechen, wie auch das Laufenlassen von Ferdervieh auf fremdem Grund und Boden verboten ist. Zuwiderhandlungen werden nach den bestehenden Strafgesetzen unnachsichtlich geahndet. Für Minderjährige sind deren Eltern resp. Vormünder verantwortlich. Lichtensteig, den 20. März 1918. Die Gemeinderäte des Bezirks Neutoggenburg.

Si avverte di nuovo il publico che senza autorizzazione è vietato l’entrata in giardini, prati e campi alle scopo di cogliere fiori, raccogliere pascole per i conigli e cavare dente di leone. In pari mode è severamente proibito il lasciar correre il pollame sopra terreni alieni. Le contravvenzioni verrano ineserabilmente punite secondo le leggi penali in vigore. Per i minori sono responsabili i lore genitori e tutori. Lichtensteig, il 20. Marzo 1918. Le minicipalite del distretto.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 970 (Bezirks-Anzeiger für Neutoggenburg, Amtliches obligatorisches Publikationsmittel für die Gemeinden Wattwil, Lichtensteig, Krinau, Oberhelfenschwil[,] Brunnadern, St.Peterzell und Hemberg, Nr. 13, 30.03.1918) und W 054/69B.19.15 (Fotoalbum von Theresa Schläpfer: Hühnerhof in Salerno, ca. 1916)

Freitag, 1. März 1918 – Erziehung von Galgenstricken

Emil Nüesch (1877-1959), Lehrer in St.Gallen, berichtete Im Rorschacher Neujahrsblatt 1918 unter dem Titel Galgenstricke über die Erziehung heranwachsender Knaben:

Der Vater meines Schülers Walter Baldauf spricht vor meiner Schultüre vor, um sich, wie er sich selber ausdrückt, nach seinem «Galgenstricke» zu erkundigen. Ja, es ist ein eigenes, nicht uninteressantes Kapitel, das Kapitel der Galgenstricke. –

Wo es sich um Spitzbubenstücklein, ums Lärmen auf den Gassen, ums Radaus[s]chlagen und Raufen handelt, da ist der allzeit unternehmende Bursche aktiv beteiligt. Kriegsspiele anordnen, polternd und lärmend durch die Gassen toben und dabei behäbigen Passanten fast den Bauch einrennen, allerlei verwegene Bubenstreiche inszenieren, Kehrichtgefässe übers Trottoir werfen, warnende und schimpfende Frauen mit Grimassen und foppenden Gelächtern ärgern, – das ist so ganz seine Sache.

Das Stillsitzen in der Schule fällt ihm schwer. Für die meisten Schulfächer bekundet er wenig Interesse und auch wenig Verständnis. Während der Sprachlehre gähnt er, und das Bruchrechnen scheint auch gar nicht nach seinem Geschmacke zu sein. –

Wer ihn nicht besser kennt, wird ihn nach dem Massstabe der positiven Leistungen in den obligatorischen Schulfächern zu den Dummen zählen. Aber der Kerl ist durchaus nicht dumm! Er lässt sich für die vaterländische Geschichte begeistern wie kein zweiter. Wenn von den Heldentaten der Eidgenossen die Rede ist, dann sieht er mich mit gorssen Augen an, stützt die Ellbogen auf den Tisch, hält die Fäuste an die Schläfen und hört mit gespanntester Aufmerksamkeit zu. Dass sich die Schweiz im gegenwärtigen Kriege nicht auch zum Dreinhauen entschliessen kann, will er nicht begreifen.

Kein Schüler bringt mir so viele Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge in die Schule wie er. Für die Natur interessiert sich der junge Baldauf lebhaft. Jüngst sagte er mir, er wisse alle Krähennester im Kapfwalde. Wenn ich mit den Schülern spazieren gehe, muss ich ihm besondere Aufmerksamkeit schenken, denn er hat immer etwas zu fragen und will jeden Felsen erklettern.

Trotz seines rohen Benehmens entbehrt er keineswegs der Zärtlichkeit. Die harte Schale birgt einen weichen Kern. Gefühlswarme Erzählungen machen sichtlichen Eindruck auf ihn. als er vor einigen Wochen wegen eines Spitzbubenstreiches in der Patsche sass, liess er eine empfindliche Strafe ruhig über sich ergehen. Ich erfuhr erst nachträglich durch Unbeteiligte, dass bei jenem Streiche drei Klassengenossen mitschuldig waren. Seine Freundestreue gebot ihm, dies zu verschweigen und die Strafe mit heroischem Mute allein zu ertragen. In der Pause teilt er nicht selten sein Stück Brot mit den Kameraden. Im letzten Jahrmarktsbericht schrieb er, er habe 25 Rappen Taschengeld zur Verfügung gehabt. Für 20 Rp. habe er ein rotes Teufelchen an einer langen Stecknadel gekauft, um es beim Räuberlis machen als Abzeichen des Räuberhauptmanns auf dem Hute zu tragen, und 5 Rappen habe er einem invaliden Bettler gegeben. Ein Mitschüler bestätigte die Tatsache.

Im Schulrechnen ist er unbeholfen. Aber draussen auf dem Spielplatze beherrscht er alle und weiss als schlau berechnender Kopf seine Vorteile zu wahren und seine Spielgefährten zu übertölpeln. Dort ist er erfinderisch und ein geriebener Gauner. Es ist auch bezeichnend, das seine Spielgenossen ihn beim Räuber- und Poli-Spiel regelmässig zum Räuberhauptmann wählen. Da kennt er die Schliche und leistet Hervorragendes. Ein Dummer taugt nicht zum Räuberhauptmann!

Galgenstrick hat ihn sein Vater genannt. – Was soll das heissen? – Walter Balddauf ist ein temperamentvolles, lebenssprühendes, urwüchsig gesundes Naturkind von feuriger, lebhafter Phantasie und triebsgesunder Impulsivität, ein unbändiger Springinsfeld, ein munteres Füllen, das freudig wiehernd über die grüne Weide rennt und gelegentlich im Uebermute ausschlägt, ein Widerspenstiger, dem Ordnung und Sitte oft lästig erscheinen, der Schulweisheit und Schulordnung als unnötigen Ballast empfindet, dagegen mit schöpferischer Vorstellungskraft und viel willensstarker Initiative sich in die Romantik ungezügelten Gaunerlebens hineinphantasiert und dabei glücklich ist.

Selbstverständlich kann man ihn nicht frei schalten und walten lassen. Aber man muss den Galgenstrick zu verstehen suchen, sonst tut man ihm unrecht, schwer unrecht! Das feurige, junge Triebleben, die plastisch darstellende Phantasie, der impulsive Entfaltungsdrang, die Unsumme jugendfrischer Gestaltungskraft, die machen in ihrer Unbändigkeit und inneren, sittenpolizeilichen Zensurfreiheit das Wesen des Galgenstrickes aus. Galgenstricke zu erziehen ist eine Kunst, die ferne von jeglicher Schablone in verständnisvoller Individualisierung sich des Zöglings liebevoll annimmt und in zielbewusster, feiner Führung der Libido den jungen, werdenden Menschen seinen persönlichen Anlagen gemäss erzieht und veredelt. –

Wer da jeden Streich jugendlichen Mutwillens als den Ausfluss böswilliger Ueberlegung oder verdorbenenen Gemütes betrachten wollte und weiter nichts zu tun weiss, als mit Jammern und Schimpfen und Drohen und Schlagen zu «bändigen» und zu «züchtigen», der ist psychologisch falsch orientiert und versteht sich auf den erzieherischen Kompass schlecht. Besinnen wir uns darauf, der flammenden Lebenskraft und dem starken Entfaltungsdrange zweckmässige Betätigungs- und Entfaltungsgelegenheiten zu bieten! Nicht im «Bändigen» und «Züchtigen», Hemmen und Lähmen, sondern im Führen und Richtung geben liegt positiver Erziehungswert.

Ich jammere nicht über einen Galgenstrick,, so gerne ihn mancher verärgerte, ungeschickte Erzieher in der Perspektive des Rütliliedes – «Von Ferne sei herzlich gegrüsset» – betrachten möchte, denn ich weiss, dass Galgenstricke meistens tüchtiges, geeignetes Holz zu guten Pfeifen liefern. Der Fehler liegt nicht immer am Holz, er kann auch am Schnitzler liegen. Aber klagen möchte ich über jene Eltern und Erzieher, deren Erziehungskunst sich in langweiliger, gefährlich einschüchternder, moralingesättigter Prügeltaktik erschöpft. Es tut einem in der Seele weh, beobachten zu müssen, wie so viele Eltern in ausgesprochenem Missverständnis der kindlichen Seele und jugendfröhlichen Gebahrens Disziplinarvergehen als persönliche Beleidigungen auffassen, sich ärgern und rächen. Sie bekunden damit ihr erzieherisches Unvermögen und ihre Unfähigkeit, in aller Ruhe und Gelassenheit von der hohen Warte eines überlegenen geistigen Führers aus zielbewusst die jugendliche Libido zu lenken und zu veredeln.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, P 744 (Rorschacher Neujahrsblatt 1918, S. 21f.; zusätzliche Absätze in den Text eingefügt durch Regula Zürcher)

Hof Oberkirch

Mittwoch, 20. Februar 1917 – Wie schön ist doch die Schweiz

Hof Oberkirch: Das Alte Haus, Reproduktion nach einer farbigen Zeichnung von A. Blöchlinger

Brief eines Ehemaligen des Landerziehungsheims Hof Oberkirch, Kaltbrunn, an seine Ausbildungsstätte:

Wien, 20. Februar 1918

Die schönsten Erinnerungen an die Schweiz sind die an meine Reisen, die ich vom Hofe aus in dieses herrliche Land machte: zuerst die Herbstreise an den Bodensee und auf den Hohentwil [Hohentwiel], dann die Frühlingsreise mit Herrn Schlegel an den Genfersee und schliesslich die Bernerreise zur Landesausstellung. Wie schon ist doch die Schweiz immer und überall, am Bodensee ebenso wie am Genfersee! Ueberhaupt die Seen, die schönen Schweizerseen! Am liebsten ist mir immer der kleine Walensee gewesen.

Aber auch am Hofe war es schön. Lustig und fröhlich ging es immer dort zu. Freilich im anfang konnte ich nur mit Mühe den eigentümlichen Schweizer-Dialekt verstehen, aber das dauerte nicht lange, da verstand ich «Schwizerdütsch» ganz gut. Im Anfange hiess ich «der Oestricher», später nannte man mich mit meinen beiden Zimmerkameraden «die drei verrückten Karls». Auf der Terrasse führten wir damals noch wilde Fussballschlachten, wo uns allerdings infolge unseres Eifers bald 4 schöne Gummibälle in den Garten fielen, wo sie Herr Tobler [Direktor des Internats] konfiszierte. Hoffentlich bekomme ich sie wieder, wenn ich auf den Hof komme.

Gerne erinnere ich mich noch unserer Karnevalsunterhaltung, bei der ich aus Türlers Vorrat meine erste Zigarre, zu meinem Erstaunen ohne die prophezeiten fürchterlichen Folgen, rauchte.

Türler war übrigens auch unser Tischoberster und hatte u.a. auch die Pflicht, die süsse Speise auszuteilen, was aber nicht immer genau mit den anwesenden Personen ausging. Der Ueberschuss verfiel zumeist seiner unersättlichen Esslust, indem er meinte, er als Bauer müsse für drei schaffen und daher auch für drei essen.

Noch viele andere Sachen wüsste ich, aber ich will sie lieber für den Althöflertag nach dem Kriege aufheben, wenn wir armen Ausländer auch wieder in die Schweiz dürfen. Sie können mir glauben, dass ich diesen Tag sehnlichst herbeiwünsche.

Mit besten Grüssen Ihr

Karl Scheibe.

Karl Scheibe, Jahrgang 1899, war von 1913 bis 1914 im Hof Oberkirch. Er war zunächst Mitarbeiter und nach dem Tod seines Vaters Leiter der elterlichen Grossbuchbinderei in Wien.

Oskar Türler, Jahrgang 1898, war von 1912 bis 1915 Schüler im Landerziehungsheim. Nach Schulaustritt machte er eine Weiterbildung in einer landwirtschaftlichen Schule, war Knecht und Gehilfe in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben, in denen Getreide- und Weinbau, Viehzucht und Milchwirtschaft betrieben wurde. Später lebte er zusammen mit seiner Familie als selbstständiger Bauer in Ebersol (Im Moos, Gemeinde Mogelsberg).

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen W 127 (Landerziehungsheim Hof Oberkirch, Hof-Zeitung, Nr. 12, April 1918, Text und Beitragsbild; Nr. 40, Juni 1927, Hinweise zu Karl Scheibe und Karl Türler)

Ansichtskarte "Gruss aus Necker*

Samstag, 2. Februar 1918 – Jung-männerzweifel: Gedanken über die «sittliche Geschlechtsliebe»

Fortsetzung der Liebesgeschichte des Ernst Kind, späterer Rektor der Kantonsschule St.Gallen (vgl. früher erschienene Beiträge):

2. Februar 1918. Heute habe ich einen Vortrag von Prof. Ludwig Köhler über «Sittliche u. natürliche Geschlechtsliebe» gehört. Seine klaren u. in ihrer tiefen Menschlichkeit so reinen, vornehmen Auseinandersetzungen haben mich tief berührt. Die Begründung einer sittlichen Geschlechtsliebe, die sich mit der natürlichen verbinden muss, steht auf dem erlösenden u. beglückenden Satz, hinter dem er mit seiner festen Überzeugung steht: Für jeden jungen Menschen wächst irgendwo in der Welt ein junges Mädchen auf, das ihm bestimmt ist, und er ist diesem Mädchen bestimmt. Ihre Bahnen werden zusammenlaufen; zur rechten Zeit werden sie sich begegnen, und beide werden einander erkennen als die Richtigen. Nur diese beiden können miteinander glücklich werden. Weil das aber so ist, so muss der junge Mensch seinen sinnlichen Trieb in der Faust halten, dass er sich rein erhalte [um seinetwillen und] um des ihm bestimmten Mädchen willen. Denn das Mädchen muss sich ganz an den Geliebten anlehnen können, muss an ihm Halt und Schutz haben. – Dass sich ein junger Mensch leicht verlieben kann, ist Natur, denn sein Trieb wird von der Schönheit des Weibes gezeigt; weil aber der Mensch gerade in der Liebe seinen «Menschen» gegenüber dem «Tier» zeigen muss, wird er solchen Reizen sich widersetzen. Das Tier muss, der Mensch will. Die Unterscheidung zwischen Liebe u. Verliebtheit ist leicht. Köhler drückt es ganz drastisch in mathematischer Formel aus: Liebe wächst mit dem Quadrate der Entfernung! Bei der Verliebtheit ist es umgekehrt. Verliebtheit muss zeitlich vor der Liebe kommen; das ist klar. Denn Verliebtheit, die doch das Objekt oft wechselt, ist einfach das Zeichen, dass man infolge des Geschlechtstriebes einfach begehrt, was weiblich ist. Aber das Ziel dieses Kampfes ist das, dass die Begehrlichkeit ganz persönlich wird, dass man die Richtige findet und dann mit seiner ganzen Kraft liebt. Das höchste Glück kann man nur so erlangen, wenn man in der Geliebten den Kameraden erkannt hat.

Auch das Sinnliche der Liebe wird etwas Heiliges. Denn die 2 Menschen, die sich als die besten Freunde erkannt haben, vereinigen sich miteinander[,] neues Leben zu erwecken und dieses heilige Gut der Menschheit weiterzugeben. Die Frau gibt dem Mann alles, ihren Körper u. ihre Seele; sie muss deshalb ganz in seinem unbedingten Schutz stehen; er muss geradezu ein Vater seiner Frau sein. Immer aber muss der Mann trotzdem fast vor seiner Frau knien können; sie lebt nur von seiner Achtung; denn jedes schwache Wesen lebt nur, wenn man ihm Achtung schenkt; sie sich zu verschaffen, ist es meist zu schwach.

Ich liebe Margrit Peter; das weiss ich sicher. Ich glaube, es kann nicht Verliebtheit sein; ist es denn nicht gewachsen mit dem Quadrat der Entfernung?! [5. April 1917.] Doch merke ich, dass ich viel leeres Geschwätz in dieses Buch geschrieben habe über diese Liebe. Warum mich aber doch der Zweifel plagt, ob sie wirklich die Rechte sei, das kommt daher, dass ich sie noch so wenig kenne. Bewahre mich der Himmel, dass nicht auch meine Liebe nur eine Halbheit ist wie sonst alles andere.

Der nächste Eintrag im Tagebuch Kind trägt das Datum vom 31. Oktober 1918, in der Zwischenzeit leistete er Militärdienst.

Die Zweifel, ob sie wirklich die Rechte sei, hatten offenbar ihre Berechtigung: Ernst Kind verheiratete sich schliesslich 1932 mit Wanda Bolter (1908-1995).

Ludwig Köhler (1880-1956) war Theologieprofessor an der Universität Zürich, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10710.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/7.2 (Tagebuch Ernst Kind) und W 238/08.12-24 (Beitragsbild mit Vergissmeinnicht, Veilchen und Rosen: Auszug aus Ansichtskarte «Gruss aus Necker!», 1903)

Confiseriefabrik St.Margrethen

Donnerstag, 24. Januar 1918 – Schwefel und andere Chemikalien gegen Hundedreck

Auch 1918 tüftelten St.Galler Erfinder und Erfinderinnen eifrig an Neuerungen. 129 Patente reichten sie in diesem Jahr beim Eidgenössischen Patentamt ein. Von der Heuerntemaschine über ein Stufenräderwechselgetriebe an Drehbänken für das Schneiden von Gewinde bis hin zu einer mechanischen Fadenführung für eine Bandkettenmaschine findet sich in der Liste allerlei offenbar Nützliches. Am 24. Januar 1918 reichte die Chemische Industrie & Confiseriefabrik AG in St.Margrethen reichte am 24. Januar 1918 eine Patentschrift mit dem Titel Mittel zum Schutze von Flächen gegen Verunreinigung durch Hunde ein. In der Begründung des Patentanspruchs steht:

Es ist ein altbekannter Übelstand, dass Hunde besonders Flächen, wie Hauswände, Türpfosten, Sockel von Fassaden, Möbel, etc., verunreinigen. Man hat allerdings versucht, die Hunde dadurch von den genannten Flächen wegzuhalten, dass man dieselben mit Schwefel bestreute. Die Bestäubung mit Schwefel verunziert aber die gefährdeten Flächen mit gelben Flecken. Abgesehen davon ist dieses Mittel kein radikales und führt das Bestreuen mit Schwefelpulver insofern zu Verlusten, als man nicht allein die Flächen, woran das Schwefelpulver schwer hängen bleibt, sondern auch den Boden vor diesen zu schützenden Flächen mit dieser gelben Substanz belegt.

Gegenstand vorliegender Erfindung ist nun ein Mittel zum Schutze von Flächen gegen Verunreinigung durch Hunde, welche alle vorerwähnten Übelstände nicht aufweist. Das Mittel besteht in einer Lösung von Trichlorphenol.

ieses neue Mittel hat den Vorteil, ganz farblos zu sein, und die mit demselben bestrichenen Flächen in keiner Weise anzugreifen. Es erzeugt keine Flecken auf den mit dieser Lösung behandelten Flächen, seien sie aus Stein oder Holz, bemalt oder nicht. Am zweckmässigsten bepinselt man die gefährdeten Stellen alle paar Wochen, eventuell alle paar Monate mit der Lösung, indem man zwei Striche im Kreuz aufträgt. Die angebrachte Lösung verleidet jedem Hunde die betreffende Stelle, wenn nicht für immer, so doch für lange Zeit, da ein Hund nicht nur eine feine Nase, sondern auch ein gutes Gedächtnis hat. Das Trichlorphenol, welches durch Einwirkung von Chlor auf Phenol dargestellt wird und die chemische Formel C6 H2 (OH) Cl)3 1 : 2 : 4: 6) besitzt, hat einen starken, den Hunden widerwärtigen Geruch. 

Trichlorphenol ist nicht harmlos: «Der Stoff reizt Augen, Atemwege, Haut und Schleimhäute und kann zu Störungen des Zentralnervensystems führen. Viele Chlorphenole werden gut über die Haut resorbiert, was speziell bei 2,4,6-Trichlorphenol in Versuchen mit Tieren und in vitro-Studien mit menschlicher Haut verifiziert wurde. Beim Erhitzen kann sich die Substanz explosiv zersetzen oder in hochgiftige Chlorverbindungen wie polychlorierte Dibenzodioxine und Dibenzofurane umwandeln.» (Zitat aus: https://de.wikipedia.org/wiki/2,4,6-Trichlorphenol; konsultiert am 08.01.2018)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZW 2 B/6b-079045 (Patentschrift) und ZMH 66/015b (Auszug aus Briefkopf der Chemischen Industrie & Confiseriefabrik AG in St.Margrethen)

Maiskolben

Mittwoch, 16. Januar 1918 – Ehemaligenbrief: Friedenshoffnungen

Brief eines Ehemaligen des Landerziehungsheims Hof Oberkirch in Kaltbrunn an seine frühere Ausbildungsstätte:

Neuenburg, den 16.I.1918.

An den Hof denke ich hin und wieder, und jedesmal, wenn auf irgend eine Art und Weise auf ihn die Rede kommt und sogar ein Zeichen, wie die Hofzeitung mir zukommt, so treten all die Erinnerungen frisch auf, eine nach der andern, und dann verliert man sich wieder einmal für einige Augenblicke ins Land der Träume. Ich bedaure auch sehr, nicht an den Alt-Höflertag haben kommen zu können, aber mit den heutigen Verbindungen und Kosten ist’s so eine Sache, von einem Samstag abend auf einen Sonntag abend von Neuenburg nach Kaltbrunn zu reisen.

Bei mir wird wahrscheinlich dieses Jahr der Militärdienst kommen, wenn nicht mit dem Frieden das Militär vollständig abgeschafft wird, was nicht unmöglich wäre. Viele reden hier von einem Frieden im Februar oder im März, aber ich kann für den Augenblick noch nicht dran glauben, obwohl niemand nichts sehnlicher sich wünschen mag, al eine Freiden, dass man wieder warm haben und sich quasi satt essen kann. Von diesen Sachen klingen uns die Ohren immer hier. Es ist ein Wimmern und Seufzen in Pensionsmütterchens Gesicht. Manchmal ist’s schwierig, richtig mit den Leuten auszukommen jetzt. Manchmal rumoren die jugendlichen Mägen bedenklich, die Platten sind manchmal gar mager belegt; das Fleisch ist oft stärker als der Geist. Dann gibt’s nachher eine kleine Diskussion auf französisch und man schickt sich wieder drein, l’estomac tranquillisé. – Auf dem Bureau habe ich’s sehr streng, von 8-12 und 1½-6. Dann noch 8 Stunden besondere Fächer in der Woche! Dann bin ich müde am Abend um 10 Uhr und freue mich auf meine Kiste.

Felix Stockar.

Felix Stockar, Jahrgang 1899, war von 1912 bis 1915 Schüler im Hof Oberkirch. Nach Schulaustritt machte er eine Fachausbildung für Seidenfabrikation in Frankreich, Italien und Zürich. Ab ca. 1924 war er im Rohseideneinkauf tätig und wohnte in Schanghai in China.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Landerziehungsheim Hof Oberkirch, Kaltbrunn, Hof-Zeitung, Nr. 12, April 1918, Text; Hof-Zeitung, Nr. 13, Juli 1918, Linoleumschnitt von Paul Tobler, Beitragsbild; Hof-Zeitung, Nr. 40, Juni 1927, Hinweis auf Felix Stockar)

Friedensengel

Dienstag, 1. Januar 1918 – Friedenssehnsucht

Friedensengel entwaffnen die Kriegsparteien, undatierte Ansichtskarte von K. Bieder

Im History Blog «Zeitfenster 1916» sind in den letzten zwei Jahren mehr als 550 Beiträge erschienen. Die Blogseite verzeichnet bis dato über 112’000 Aufrufe. Wir lassen die Seite über das Jahr 2018 zwar weiter «laufen», allerdings werden wir nur noch sporadisch Artikel publizieren. Wir bedanken uns herzlich bei allen treuen Leserinnen und Lesern, aber auch bei allen, die zufällig auf den Blog gestossen sind, und bei allen, die nur den einen oder anderen Beitrag gelesen haben, für das Interesse.

Für uns war es ein spannendes Experiment, in «unserem» Archiv Quellen zu bestimmten Daten zu suchen und zu veröffentlichen. Entstanden ist ein Potpourri an Themen, das auch uns die Augen für die Alltagswirklichkeit in Kriegszeiten ein Stück weit geöffnet hat. Wer neugierig ist, welche Quellen man zu 1918 findet, ist herzlich eingeladen, die Recherchen im Staatsarchiv St.Gallen selber weiterzuführen!

Helvetia als Friedensstifterin

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 207 (Joseph Fischer, Album «Aus Kriegszeiten», Ansichtskarten Nr. 1 und 5 mit Motiven von K. [Kurt?] Bieder aus dem Verlag K. Essig, Basel)

Kriegsjahr 1917

Montag, 31. Dezember 1917 – Apfelkuchen zum Silvester, Schweinebraten zum Neujahr

Tagebucheintrag von Johann Baptist Thürlemann, Architekt im Ruhestand, wohnhaft in Oberbüren:

Montag, den 31. Dezember 1917 sehr kalter, theils dunkler, theils heller Tag. Morgens bedeckt & etwas neblig; im Verlaufe des Vormittags leicht aufheiternd; Matter Sonnenschein. Ueber Mittag wieder bedeckt und düster. Nachmittag wieder eine Zeit lang aufhellend – Sonnenschein. Abend düster & bedeckt. Leichter Nebel. Nacht kalt, neblig. matter Mondschein. – Den ganzen Tag scharfer, eindringlicher Nordostwind; in den Höhenlagen Südwestwind. –

Morgens 8h holte Caroline auf der Gemeinderathskanzlei die Rationenkarten für den Monat Januar 1918.

Ich besorgte vormittags schriftliche Arbeiten & sandte einige Neujahrskarten ab.

Nachmittags bereinigte ich das Tagebuch von gestern & besorgte weitere schriftliche Arbeiten.

Abends von ½7 Uhr bis ¾8 Uhrhatte ich Besuch von meinem Neffen [sic] Carl. – Während dieser Zeit holte Caroline den von uns in die Bäckerei Müller dahier zum Backen gegebenen Aepfelfladen mit Rahm. – (:Bäckerlohn: 45 Rp.:)

Später las ich die Zeitungen, schrieb noch eine Neujahrskarte nach Andwyl und begab mich um ½10 Uhr zu Bette. –

Ansichtskarte Frieden

In seinem Eintrag zum 1.  Januar 1918 berichtete Thürlemann über die Neujahrspredigt in der katholischen Kirche Oberbüren zum Text «Erneuert euch aber im Geiste eueres Gemüths!» Ep. Pauli ad Ephes. 4.23. [Brief des Paulus an die Epheser, 4,23]:

Das abgelaufene, blutrauschende Kriegsjahr gehört hinsichtlich seiner völkermordenden Geschehnisse zu den «schlimmen Zeiten«. Die schlimmen Zeiten werden aber nicht allein – wie die guten – von Gott verhängt, sondern auch die Menschen wirken bestimmend darauf ein.

Böse Gedanken; Worte; Thaten verkehren die gottgewollte Ordnung & bringen Noth, Elend und Unfrieden in die Welt.

Um bessere Zeiten zu haben muss vor allem der Mensch besser werden & zwar dadurch, dass er sich umgestaltet im «Geiste seines Gemüthes». Er muss sich erwerben:

1.) ein neues Herz;

2. Eine neue Zunge;

3. Eine neue Hand. –

Ein neues Herz, durch Ablegen aller sündhaften Anschläge, Gedanken & Begierden. Entfernung des Hochmuthes; des Geizes; der Unzucht; des Neides; der Feindschaft & des Hasses und durch Erringung der Demuth, der Freigebigkeit; der Keuschheit, des Wohlwollens, der Friedensliebe und der Versöhnlichkeit das Herz umwandeln.

Eine neue Zunge, welche die reine Wahrheit spricht; die sich scheut vor Verleumdung & Ehrabschneidung; vor schmutzigen, die Unschuld verführenden Reden; vor Flüchen & Gotteslästerungen.

Eine neue Hand, die nichts Unreines berührt; die das Besitzthum des Nächsten achtete & keine Ungerechtigkeit begeht; welche den Nächsten nicht misshandelt & verletzt; welche mit Mass und Gewicht unanfechtbar umgeht.

Würden alle Menschen von nun an streng die Gebete der christlichen Sittenlehre halten, so wäre die soziale Frage bald gelöst, und weder Krieg, noch Theuerung, noch schlechte Zeiten  würden die Menschheit bedrängen & dann würde das Jahr 1918 für uns Alle ein Jahr des Glückes, des Segens & des Heiles. –

Sehr schöne, kurze aber inhaltlich reiche Predigt.

Nach dem Gottesdienst gab es ein vorzügliches Essen: Schweinebraten aus dem benachbarten Restaurant Hirschen.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035a (Nachlass Thürlemann, Tagebücher: Text und Beitragsbild) und W 207 (Joseph Fischer: Album «Aus den Kriegszeiten»: ungebrauchte Rationenkarte für Reis)

Berchtoldstag

Sonntag, 30. Dezember 1917 – Volkskundliches

Die Rorschacher Blätter berichteten in ihrer letzten Ausgabe zum Jahr 1917 in der Rubrik Aus aller Welt:

Bechtelistag. Seit alter Zeit wurden in der Bodenseegegend am Schlusse oder bei Beginn des Jahres von jungen Leuten und Handwerksburschen Umzüge gehalten und von Haus zu Haus Gaben geheischt, was man bechteln oder berchteln nannte. «Bechten» wurde in der Folge gleichbedeutend mit betteln. Der Tag, wo diese Umzüge gehalten wurden, war im Mittelalter der 6. Januar (Dreikönigstag), im Elsass der 30. Dezember, in andern Gegenden der 2. Januar und hiess Berchtentag und die vorangehende Nacht Berchtennacht. Im Kanton Thurgau erhielt sich noch lange der Brauch, am Bechtelistag Kinder, Verwandte und gute Bekannte in gleicher Weise zu beschenken wir anderwärts am St.Nikolaustag oder an Weihnachten.

Vgl. dazu auch den Beitrag im Schweizerischen Idiotikon: https://www.idiotikon.ch/index.php?option=com_content&view=article&id=133&Itemid=223

Dieselbe Ausgabe der Rorschacher Blätter enthielt auch eine Lustige Ecke, in der neben Scherzen über Appenzeller dieser, möglicherweise zeitbedingt sehr aktuelle Witz zu lesen war:

Kritik. Gast: «Tragen Sie beides zurück, Käthe; im Kaffee ist zu viel Gerste und im Bier zu wenig!»

Nächster Beitrag: 31. Dezember 1917 (erscheint am: 31. Dezember 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, P 913A (Rorschacher Blätter, Nr. 12, 1917)

Weihnachtsgedicht

Samstag, 29. Dezember 1917 – Weihnachten im männer-mordenden Krieg

Die monatlich erscheinende Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung war ab Mitte 1917 nicht mehr genau datiert. Da sie Anfang des Jahres jeweils am letzten Wochenende des Monats erschienen ist, ist möglich, dass das auch im Dezember so war. Diese Datierung vorausgesetzt, kam der Beitrag ohne Autorenangabe auf der Titelseite der Ausgabe ein paar Tage zu spät in die Haushalte:

Weihnacht – Weltkrieg.

Wieder ist es Weihnacht geworden. Während draussen die Waffen klirren, die Kanonen donnern, tönt drinnen im Heiligtum die alte, ewig wunderbare Botschaft an die Seele: «Apparuit benignitas et humanitas Salvatoris nostri – Erschienen ist die Güte und Menschenfreundlichkeit unseres Erlösers.»

Die «grosse Freude», welche der Engel Gottes in der Christnacht den Hirten verkündet hat, durchzieht auch heute die ganze Christenheit und alle treuen Christenherzen – trotz des Weltkrieges mit seinem Jammer und Elend. Ja, gerade das Verderben des männermordenden Krieges zeigt das Ereignis der Christnacht in seiner alles Irdische überragenden göttlichen Grösse und himmlischen Freudenfülle. Auf der Erde Nacht, Tod und Zerstörung – im Hirtentale himmlisches Licht, die Herrlichkeit Gottes umleuchtet die armen Schafhirten – Freudenbotschaft aus Engelsmund – Jubellieder, gesungen von den Chören unzähliger Geister des Himmels. Auf Erden bricht der menschliche Stolz, brechen Weltreiche nach jahrhundertelangem Glanze im Qualm der Geschütze, im Strom des Blutes von Hunderttausenden ohnmächtig zusammen – in der Christnacht tönt das Gesetz der Ewigkeit, die einzig wahre Lösung des Menschenglückes, über die schweigenden Fluren: Soli Deo gloria! «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.» – Nur wer Gott allein die Ehre gibt, erringt den wahren Frieden – jenen innern Herzensfrieden, dessen Fundament der «gute Wille» und dessen Krönung der äussere Friede in der Familie, im Staate, unter den Völkern ist.

«In jener Zeit ging ein Befehl aus vom Kaiser Augustus, den ganzen Erdkreis aufzuschreiben.» So berichtet das Evangelium der ersten Weihnachtsmesse. «In jener Zeit» – welche Zeit ist es an der ehernen Uhr der Weltgeschichte? Wir stehen im eisernen Zeitalter nach dem Propheten Daniel. Mit Blut und Eisen haben die römischen Eroberer ihre Weltmacht aufgerichtet, den grössten Teil der Völker Europas, Asiens und Nordafrikas ihrer Herrschaft unterworfen. Die Sprache der Römer regiert und richtet vom fernen Westen  bis tief ins Morgenland. Auch das auserwählte Volk Gottes ist dienstbar und zinsbar geworden. Einer ist Herrscher – Cäsar Augustus – beide, Heidenvölker und Judenvolk, sind auf ihren Lebenswegen zu einem Punkte gekommen, wo die Sehnsucht nach dem Welterlöser in den Herzen aller mächtig geworden ist. «Die Fülle der Zeit» ist gekommen, das Zepter von Juda gewichen. Jetzt gedenkt Gott der Verheissung, die er einst – vor zweitausend Jahren – dem Patriarchen Jakob gegeben hat: «In deinem SAmen sollen gesegnet werden alle Völker der Erde.»

«Es ging ein Befehl aus vom Kaiser Augustus» – wunderbare Fügung! Augustus, der Mensch, gebietet, und Christus, Gott, gehorcht. Und doch bewährt sich hier in unbeschreiblicher Grösse das Wort: «Der Mensch denkt und Gott lenkt». Denn in Wahrheit ist der mächtigste Mann jenes Zeitalters, Kaiser Augustus, ohne es zu wissen, der Diener dessen, der ihm gehorcht. Er meint, den Entschluss seines Herrscherstolzes zu vollziehen – in Wahrheit aber ist er das Werkzeug der göttlichen Vorsehung zur Verwirklichung des ewigen Ratschlusses der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Jesus muss geboren werden zu Bethlehem in der Stadt Davids, damit die Prophezeiung des Michäas erfüllt werde, damit das Volk Gottes den Messias finden könne in der Stadt seines königlichen Stammvaters. Augustus befiehlt, und die gnadenvolle Jungfrau wandert aus Nazareth nach Bethlehem, damit aus ihr geboren werde Jesus, der genannt wird Christus.

Wir leben in einer Zeit des Werdens und Vergehens aller Völker und grosser Reiche. Gar viele schauen mit bangem Blicke in die Zukunft. WAs soll aus der Kirche werden, wenn aus den Stürmen des Weltkrieges ein Imperium emportaucht, gegen das der Staat der römischen Cäsaren ein Kinderspiel war? Nolite timere! «Fürchtet euch nicht, kleine Herde», sagt der Welterlöser Jesus Christus. In der Hand Gottes sind wir heute, wie im Zeitalter des Augustus, die grössten Weltherrscher lediglich kleine Knechte, welche die Ratschlüsse der göttlichen Vorsehung vollziehen müssen. Das Kind in der Krippe zu Bettlehem führt noch heute, wie vor 1900 Jahren, die Zügel der Weltregierung. Seinem REgimente unterstehen alle Völker. Ein Wink seiner Hand und der stolzeste Herrscherthron sind in den Staub. Das Reich des Kindes zu Bethlehem aber besteht und dauert fort in Ewigkeit. Sein Regierungsprogramm hat schon der Prophet Isaias ausgesprochen: «Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf dessen Schultern die Herrschaft ruht, und sein Name wird heissen: Wunderbarer, Ratgeber, Gott, starker Held, Vater der Zukunft, Friedensfürst».

Auf derselben Seite der Rorschacher Blätter erschien auch ein Gedicht von Jean Bättig:

Heilige Weihnachten 1917.

Weihnacht feiern wir heute wieder / In des Krieges schwerer Zeit; / Es erschallen Freudenlieder / Durch die Welt voll Kampf und Streit.

Schaurig die Kanonen singen / Vor der Stadt Jerusalem, / Engelchöre heut erklingen / Aus dem kleinen Bethlehem.

Jesus Christus ist geboren, / Freud und Friede dieser Welt, / Ach, wir haben ihn verloren, / Dem man Ehrenfeste hält!

Möcht ein heilig Feuer brennen / Hier auf Erden, fern und nah, / Und bald alle Welt erkennen, / Was zu Bethlehem geschah!

Möchte leuchten dieser Erde / Bald des Friedens schönstes Bild, / Dass zum Paradiese werde / Dieses Lebens Kampfgefild.

Schönster Stern erscheine wieder / In dem schönsten Gnadenschein, / Von dem Euphrat schallts hernieder, / Leucht in jedes Herz hinein!

Friede muss ës wieder werden / Bei den Völkern nah und fern, / Und dann leuchtet hier auf Erden / Christus als der Morgenstern.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 913A (Text: Rorschacher Blätter zur Unterhaltung und Belehrung, Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung, Nr. 12, 1917, 29.12.1917) und