Irma Frieda Gsell („Friedel“, geboren 1895), jung und verliebt, schreibt kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Rechtsanwalt und Mitglied der Studentenverbindung Zofingia, Hermann Walter Im Hof, an ihre Freundin Emmy Pestalozzi. Diese hatte sie, wie man aus den anderen Briefen im Dossier schliessen kann, wohl während eines Welschlandaufenthaltes kennengelernt.
10. Oktober 1916
Liebes, altes Emmeli,
Dein Brief ist so lieb, dass ich ihn Dir sofort beantworten muss – Ja gelt, ich habe lange geschwiegen auf Deinen so lieben Gratulationsbrief & auf den langen Erzählbrief vorher. Hab innigen Dank für alle 3. Du weisst schon wie es geht, wenn da plötzlich immer jemand da ist, der einem voll & ganz haben möchte, & dem man sich so gern von ganzer Seele hingiebt [sic].
Da bleibt eben nicht viel mehr Zeit zum Schreiben, aber zum Denken & im Herzen haben für Andere, da ist immer noch genug Platz – Emmigaugg! Was ist alles geschehen in diesem Sonnen-Sommer! Man kann es ja nie beschreiben, aber es ist alles vollkommen & schön & wunderbar! Wenn nur alle, alle Menschen das erleben dürften was ich in diesen wenigen Monaten erleben durfte – Es ist ja noch so viel 1000x schöner als man es sich vorher vorstellen & ersehnen konnte. Denk, seit dem 17. Juli ist er jeden Tag bei uns, machen wir Spaziergänge, oder bleiben auf seiner Bude, um zu lesen oder einander zu spielen. Letzte Woche waren wir 3 Tage in Basel, Wonnetage!
Und nun ist unsre Hochzeit ja ganz nah, am 24. October, also in 14 Tagen schon – Wir gehen in den Tessin. Walter war ½ Jahr dort im Dienst & will mir all seine lieben Plätzli zeigen. Nun bin ich direct froh, dass ich damals nicht mit au grand voyage war!
Ob unser Wohnunglein bis dann fertig wird[,] ist eine Frage. Es ist ganz oben an der Berneck [heute Bernegg], nahe beim Nest, mit feiner Aussicht über die Stadt & die Westhügel & hinten kommen dann grad die Wiesen & der Wald. Wir freuen uns schrecklich darauf – Wann besuchst Du uns wohl darin?
Zu Deiner neuen Schwester wünsch ich Dir viel Glück. Eure Familie vergrössert sich ja herrlich – – Was sagst Du eigentlich[,] dass ich von den Singstudenten mit fliegenden Fahnen zu den Zofingern abgeschwenkt bin? Gelt das ist lustig – – Bist Du immer auf dem Gefangenen-Büro? Das ist gewiss fein & riesig interessant, aber auch traurig & wohl oft entmutigend. Schreib mir wieder gelt, & sei innig gegrüsst von Deinem alten Friedel
neue Adresse: Fellenbergstrasse 71.
Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 112, Nachlieferung 2012 (Dossier: Briefe von Mama an Emmy (Funk-)Pestalozzi 1913-1925, am 11. Oktober abgestempelter Brief von „Friedel“ an ihre Freundin Emmy Pestalozzi)