Dienstag, 19. Dezember 1916 – „Güggelischelm“, „Schwabeglünggi“, „nüntiger Chog“: Wie man sich beschimpft

Die Parteien sind an der Trischlistrasse in Rorschach wohnende Nachbarn, die nicht friedlich neben einander leben.

Das ist der Eingangssatz zu einem von mehreren Urteilen des Bezirksgerichts Rorschach aus dem Jahr 1916. Als Kontrahenten standen sich die 1865 geborene Gemüsehändlerin Marie Lehr-Rauh aus dem Grossherzogtum Baden, ihr 1890 geborener Sohn Raimund Lehr, sowie der kaufmännische Angestellte, der ebenfalls 1865 geborene Schweizer Eduard Gähwiller gegenüber. Raimund Lehr war als Magaziner tätig und litt infolge neunmonatigen Kriegsdienstes auf deutscher Seite an starker Nervenzerrüttung. Man warf sich gegenseitig Verleumdung und Beschimpfung vor und stellte Schadenersatzforderungen.

Im Urteil vom 19. Dezember steht zu diesem Fall zu lesen:

1. Zwischen dem heutigen Beklagten, als Kläger, und der Klägerin, als Beklagten, ist beim Bezirksgerichte Rorschach ein Verleumdungsprozess pendent. Den Vorgang, auf den sich jene Klage bezieht, setzt Gähwiller auf Anfangs Juni 1916 an. In jenem Prozesse hat die Klägerin behauptet, dass sie durch Gähwiller arg provociert worden sei. Das gesamte, seit langer Zeit bezeugte Verhalten des Gähwiller ihr gegenüber, und namentlich der Umstand, dass Gähwiller am betr. Tage durch vorgängige ehrenkränkende Zurufe sie aufgeregt habe, habe sie zu Aeusserungen hingerissen. Dieser dem Gähwiller zur Last fallende Provokationsvorfall bildet nun Gegenstand der gegenwärtigen Beschimpfungsklage. Es behauptet die Klägerin Folgendes: Am gleichen Tage, Anfangs Juni, an dem der zur Verleumdungsklage führende Auftritt stattfand, demselben vorgängig, sei sie vom Beklagten, und zwar ohne jede Veranlassung von ihrer Seite, beschimpft worden. Sie sei an jenem Vormittag in den Garten gegangen, um dort umzugraben. Bereits habe sie eine Weile gearbeitet, als Gähwiller ihr zuzurufen begonnen habe. Persönlich habe sie ihn nicht gesehen; er habe sich in seinem Waschhause befunden und habe aus diesem Verstecke herausgerufen: Hure, Schwabenhure, Schwabenpack; ausweisen sollte man diesen Schwabenpack, und dergl. mehr. Sie habe dem Beklagten zu diesen ehrverletzenden Angriffen gar keinen Anlass gegeben. Erst diese vom Zaune gerissenen boshaften Zurufe hätten sie aufgeregt, so dass sie auch dem Beklagten zugerufen habe. Das letztere habe dann dem Beklagten Anlass zur Verleumdungsklage geboten. Dieses Verhalten des Beklagten sei nach zwei Richtungen zu beurteilen: Einmal stellen seine Aeusserungen Beschimpfung dar; sodann hätten sie ihn zum nachfolgenden Vorgange schwer gereizt. Klägerin beruft sich auf die Frauen Nagel und Schwab als Zeugen.

2. Seitens des Beklagten wird die Klage bestritten. Die eingeklagten Aeusserungen habe er einmal gar nicht getan. Eventuell, wenn er sich noch geäussert hätte, hätten seine Worte nicht der Klägerin gegolten. Die Klägerin müsse ja selbst zugeben, dass sie den Beklagten beim betr. Vorfalle gar nicht selbst sah. Eventuellst werde Provokation seitens der Klägerin geltend gemacht. Beklagter berufe sich deshalb auf die Prozesseingaben, Akten, Entscheidungen etc. in dem von Gähwiller gegen die Klägerin angestrebten Verleumdungsprozesse. Es solle daher heute eine Zeugeneinvernahme bezüglich der von der Klägerin geladenen Zeugen nicht vor sich gehen. Die Zeugenabhörung solle im Hauptprozesse stattfinden. Beklagter beruft sich namentlich auch auf die in jenem Prozesse von ihm angerufenen Zeugen Frau Mock, Bruggisser und Therese Sendele. Wenn dem Beklagten bei dem fraglichen Vorfalle irgendwelche unparlamentarische Aeusserungen entschlüpft seien, so sei das höchstens in der Aufregung über die unerhörten vorangehenden Verleumdungen und Beschimpfungen geschehen, welche durch den Beklagten der Klägerin gegenüber bereits eingeklagt sind; es läge also zum mindesten schwere Provokation seitens der Klägerin vor (Beweis: die genannten Zeugen).

3. Der Widerklage liegt Folgendes zu Grunde: Die Widerbeklagte vertrat im Verfahren vor Vermittleramt den Standpunkt, dass der Widerkläger nicht in Zürich, sondern faktisch in Rorschach wohnhaft sei. Da der Widerkläger aber vor Vermittleramt nicht persönlich erschien, sondern durch Herrn Advokat Huber vertreten war, stellte die Widerbeklagte beim Vermittleramt das Begehren, dass der Widerkläger persönlich vor Vermittleramt zu erscheinen habe. In diesem Zusammenhange machte die Widerbeklagte vor Vermittleramt zugestandenermassen die Aeusserungen: Wenn Gähwil[l]er ein gutes Gewissen hätte, dürfte er selbst vor Vermittleramt erscheinen. Der Widerkläger behauptet nun, die Widerbeklagte habe gesagt, er, Gähwiller, habe kein Gewissen, und dürfe deshalb nicht selbst vor Vermittleramt erscheinen. Diese Worte sollen sich nach Ansicht des Widerklägers als Beschimpfung karakterisieren [sic].

Das Gericht beschloss die Einvernahme der von Frau Lehr angerufenen Zeuginnen, auferlegte ihr aber die Gerichtskosten von Fr. 6.50. Die Zeuginnen bestätigten die Aussagen der Gemüsehändlerin, woraufhin das Gericht den Beklagten für schuldig befand und zu einer Geldbusse von Fr. 50.- verurteilte. Ausserdem erklärte es die Ehrverletzungen für gerichtlich aufgehoben, wies die Widerklage ab und bürdete dem Schuldigen die Gerichtskosten von Fr. 29.10 auf. Zudem hatte Gähwiller seine Kontrahentin aussergerichtlich mit Fr. 57.05 zu entschädigen. Zur Höhe dieses ungeraden Betrags ist im Urteil keine Begründung zu finden.

Zwischen dem Sohn der Frau Lehr und Eduard Gähwiller war eine andere Geschichte vorausgegangen, die im Urteil vom 14. November 1916 beschrieben ist. Raimund Lehr hatte – wie Zeugen bestätigten – dem Kaufmann Anfangs Juni 1916 zugerufen: „Du Güggelischelm, Du bist ein Schelm, wart, ich erwische Dich schon noch, Du nüntiger Chog“, und ausserdem beigefügt „Du musst mich nicht Schwabeglünggi heissen“. Der Vorwurf des „Güggelischelm[s]“ beruhte auf dem Verschwinden eines Hahns der Familie Lehr, welchen Gähwiller laut Aussagen von vier Knaben und einem Mädchen in seinen eigenen Hühnerstall getrieben haben sollte. Dort hörte man ihn anderntags frühmorgens zwar noch krähen, später aber fehlte jede Spur von ihm. Der junge Lehr wurde für seine zitierten Aussagen der Beschimpfung schuldig erklärt und zu einer Geldbusse von Fr. 10 und der Übernahme der Gerichtskosten von Fr. 29.30 verurteilt. Gähwiller seinerseits zahlte seinem Anwalt für diesen Gerichtsspruch Fr. 123 an Deserviten und Fr. 33.40 an Auslagen.

Ende Dezember schliesslich findet sich nochmals ein Urteil. Erneut klagte Gähwiller, diesmal gegen die Mutter von Raimund Lehr. Mehrere Zeuginnen bestätigten im wesentlichen seine Vorwürfe, wonach die Gemüsehändlerin folgende scandalösen schändlichen Ehrabschneiderischen [sic] und verleumderischen[,] tief an der Ehre kränkenden Aussagen gemacht habe:

1. Gähwiller sei der nüntigste Chog weit herum und sei nicht wert, dass ihn ein Hund anseiche (mehrmals).

2. Zahle zuerst 100 rp. [sic] für den Franken.

3. Ich sei ein Friedhofschelm und habe auf dem Friedhof gestohlen.

4. Der Sauchog besuche in Zürich die Bordelle, das verstehe ich am besten.

5. Ich habe mit Frau Candreya wollen dies betreiben. Sie habe sich aber nicht mit mir abgegeben, sie gab sich nicht für das her.

6. Wird seit einiger Zeit stetsfort belästiget mit allen erdenklichen Schimpfworten und händelsuchenden Mittel[n] von Frau Lehr und Raimund Lehr; ich gehe alle Tage in die Kirche und stehle.

7. Nicht nur an E. Gähwiller ist genannte bösartige Frau zornswütig, sondern an ihrer eigenen kranken Tochter, die sie vergangenen Samstag Abends zwischen 8 u. 9 Uhr schwer misshandelte im Dachzimmer und ihr verwahrloste Chog zurief resp. nannte, bis sie bis Mitternacht wimmerte und die Nachbarschaft arg belästigte.

8. Ich sei bekannt, dass ich aufs Stehlen losgehe.

Das Gericht befand Marie Lehr-Rauh nach der Anhörung der Zeuginnen zwar der Verleumdung und Beschimpfung schuldig und verurteilte sie zu einer Geldbusse von Fr. 50 und der Übernahme der Gerichtskosten von Fr. 76.20. Ausserdem sollte sie dem Kläger aussergerichtlich Fr. 220 Entschädigung bezahlen. Die Richter hielten aber auch fest, dass der Kläger keinen einwandfreien Leumund besass. Gegen ihn war 1906 eine Strafuntersuchung wegen Blumendiebstahls vom Friedhof ergangen, und 1913 war er wegen grobunzüchtigen Handlungen mit Personen gleichen Geschlechts verurteilt worden.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, G 2.7.1-1916 (Protokoll des Bezirksgerichts Rorschach: Urteile vom 10.10.1916, 14.11.1916, 23.11.1916, 19.12.1916 und 28.12.1916 sowie Stempel)