Donnerstag, 21. Dezember 1916 – „Warum feiern die Menschen noch Weihnachten?“ Gedanken eines zukünftigen Pfarrers

Oben: Briefkopf der „Helvetia“, Abstinentenverbindung an schweizerischen Mittelschulen. Stephan Martig benutzte dieses Briefpapier, um seinem Freund, Ernst Kind (1897-1983), zu schreiben.

Ernst Kind studierte ab 1917 an der Universität Zürich Germanistik und Geschichte. Er war später Rektor der Kantonsschule St.Gallen. 1932 heiratete er Wanda Bolter.

Stephan Martig (1898-1984) studierte ebenfalls an der Universität Zürich, aber Theologie. Er war anschliessend Pfarrer in Langwies, Luchsingen, Romanshorn und Winterthur. Während der Zeit im Gymnasium und während des Studiums war er aktives Mitglied der Antialkoholbewegung (Hevetia und Libertas). Er verheiratete sich 1922 mit Lina Gisep.

Chur, 21. Dez 1916

Mein lieber Ernst!

Nun erhälst [sic] Du auch wieder einmal ein Lebenszeichen von mir. Bitte entschuldige, das ich nicht früher geschrieben habe. Ich habe aber immer viel zu tun. Kann heute auch nur kurz machen, denn auf Weihnachten hat man immer so viel zu schreiben. Vor allem wünsche ich Dir, Deinen lb. Eltern und Schwestern recht fröhliche und schöne Festtage und ein wahres, erlösendes Weihnachtserleben. Trotzdem der Krieg um unsere Grenzen weitertobt und die Aussichten auf baldigen Frieden sehr klein sind, kommt auch am Endes [sic] dieses jammervollen Jahres die frohe Botschaft des heilenden Christus zu uns. Doch immer wieder steigt in mir eine lange Furcht auf, die fragt, warum feiern die Menschen noch Weihnachten, sie wollen ja auch heute noch wie vor 19 Jahrhunderten nichts vom Christus wissen. Was hat das Weihnachtsfest angesichts dieser bis ins Innerste zerrütteten Welt noch für einen Sinn? Doch dies sind nicht christliche Gedanken, es sind Gedanken, die die Welt uns aufdringen will. Wir müssen sie abweisen, müssen gegen sie ankämpfen. Und da hilft uns gerade die Weihnachtsbotschaft. Sie zeigt uns das geistige Wesen des Menschen, den Christus in jedem Menschen, die Macht der Liebe und Wahrheit Gottes. Auf diese Macht sollen wir unsere Gedanken richten, sie, Gott immer mehr bejahen, auf ihn vertrauen; dann, nur dann, wenn Gott für uns alles geworden ist, sehen wir ein, dass all diese[s] menschliche Elend der Herrlichkeit Gottes weichen muss. Darum wollen wir froh und zuversichtlich Weihnachten feiern und uns vertiefen in das, was Weihnachten bedeutet, damit wir während dem folgenden Jahre immer wieder neu Weihnachten erleben. –

Dann muss ich noch mich entschuldigen, dass ich auf meiner Rückreise aus der welschen Schweiz nicht zu Dir gekommen bin. Ich konnte nämlich keinen Aufenthalt machen in Zürich, da ich noch am gleichen Tage nach Chur gelangen wollte und in Wädenswil einen Zug überspringen musste um meine dortigen Verwandten zu besuchen. Allerdings wurde ich dann in Wädenswil dennoch festgehalten, sodass ich gut noch bis am Abend in Zürich bleiben hätte können.

Am 2. Jan. 17 habe ich in Zürich od. in Rapperswil eine Zentralausschussitzung der „Helvetia“, deren Aktuar ich bin. Wenn Du in Zürich wärest, würde ich Dich, wenn möglich, schnell besuchen. Es würde mich ausserordentlich freuen, Dich wieder einmal zu sehen. Aber nicht, dass Du etwa meinetwegen Deine Ferienpläne umänderst!

Ich muss hier abbrechen. Wünsche Dir und Deinen lb. Angehörigen ein segensreiches, friedenbringendes

Neujahr und grüsse Dich

Herzlich Dein

Alter Freund

Stephan Martig.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/5 (Nachlass Kind)