Freitag, 28. Juli 1916 – Theaterfreuden

Ernst Kind (1897-1983) studierte ab 1917 an der Universität Zürich Germanistik und Geschichte. Er war später Rektor der Kantonsschule St.Gallen. 1932 heiratete er Wanda Bolter. Als er diesen Brief erhält, besucht er in Zürich noch das Gymnasium.

Das St.Galler Stadttheater war älter das dasjenige in Chur, von dem im Brief die Rede ist. Es bestand seit 1805. Es gilt als das älteste durchgehend bespielte Berufstheater der Schweiz. Das 1857 eröffnete und vom Architekten Johann Christoph Kunkler erbaute Gebäude, wurde 1971 abgerissen.

Flims, 28. Juli 1916.

Lieber Ernst!

Ich weiss nicht, aber scheint’s Jahre her zu sein, dass ich Dich nicht mehr gesehen habe. Und so schreibfaul ich bisher gewesen bin, habe ich das Bedürfnis, unsere Korrespondenz wieder aufzunehmen. Tempus wiget u. ich bin inzwischen zum Vaterlandsverteidiger geworden insofern, als ich die Musterung durchgemacht habe u. nun bei der Gebirgsartillerie eingeteilt bin. Du wunderst Dich vielleicht, dass ich diese Waffe gewählt habe. Wir sind 4 der Klasse dort eingeteilt: Hitz, Barandun, Planta u. ich, sowie Bazzigher, der bereits Dienst getan hat. Als einziger Infanterist dieses Jahrganges steht Paul Juon da. Ich habe es mir lange überlegt, schon der Studien halber, da ich aber viele Freunde darunter habe z.B. Guido Calonder in der Aspirantenschule u da ich ja nicht auf zu hohes Avancement rechne, habe ich mich doch dazu entschlossen. Würde mich sehr interessieren, wie Du diesen patriotischen Akt überstanden hast.

Unsere Klasse ist unversehrt geblieben. Als Zuzug haben wir einen zukünftigen Theologen „Obrist“ bekommen, der 2 Jahre Bahnangestellter war. Betreff Musik haben wir, d.h. das Männerchororchester, diesen Winter sehr viel getan. Als Höhepunkt steht eine Wiedergabe der 4 Jahreszeiten von Haydn da. Obschon ich nichts kann, haben mir die (vielleicht etwas zu häufigen) Proben immer Vergnügen bereitet. Mit den Stunden des Turnvereins, so wie den übrigen Anlässen habe ich allerdings fast jede Stunde besetzt gehabt. Im Kadettenheer bin ich nach 6 Jahriger [sic] Dienstzeit zum Wachtmeister herangerückt. Wir kadetteln nur noch von der 3ten Klasse u. schiessen ziemlich oft.

Ich absolviere also dieses Jahr das letzte Schuljahr an der Schule. Ich muss gestehen, dass ich mich einigermassen freue, einmal von Chur wegzukommen, wenn ich auch bestimmt weiss, dass ich wieder gern zurückkommen werden; denn wer geht nicht gern heim.

Ich war an Ostern wieder 3 Wochen in Bern. Die Stadt gefällt mir sehr, je mehr ich sie kenne. In Zürich war ich überhaupt noch nie ausser auf der Durchreise, aber dazu komme als Student schon noch. In Bern habe ich die Wallküre [sic] u. Siegfried, ferner Hamlet gesehen. Wenn man nur auf das Churertheater angewiesen, hinterlassen einem diese Werke einen tiefen Eindruck. Hier in Flims ist ein S…wetter; 3 Tage schön waren uns bisher vergön[n]t. Toni u. Ilse Biberstein kommen eben von der Segnesklubhütte mehr oder weniger angefeuchtet. Hier spiele ich oft Tennis, was wir in Chur sehr vermissen, da kein öffentlicher Platz vorhanden ist.

Am Montag erwarte ich Georg Sprecher, der sich in Maienfeld befindet. Max muss eine 3te Rekrutenschule machen, nämlich als Korporal bei Nachrekrutierten. Herr Oberst wird denk ich auch sehr viel Dienst haben. In Chur hats viele deutsche Internierte, nette u. andere. Ein Leutenant [sic] spielt im Orchester Cello. Da ich immer mehr ins Geplapper gerate, will ich aufhören, zudem da die Post gerade abfährt.

Ich hoffe, lieber Ernst, dass Du Dir trotz meiner Schreibfaulheit noch eine Vorstellung von mir machen kannst u. hoffe zuversichtlich auf einige Zeilen. Herzliche Grüsse an alle die Deinen von

Willi [Köhl].

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/5 (Brief) und W 238/01.03-02 (Stadttheater, Verlag: J. Lichtenstein, Kunstverlag, St.Gallen, Nr. 267)

Freitag, 28. Juli 1916 – Sorgen einer Hôtelière, nicht nur mit dem Enkel: „[…] wirft ihm Sand an […] u spuckt im Vorbeigehen hie u da eine Dame an.“

Amalie Giger-Nigg führte zusammen mit ihrem Ehemann, Josef Giger (1847-1921), das 1908 eröffnete „Giger’s Hotel Waldhaus“ in Sils Maria. Einige ihrer Enkel weilten während des Sommers bei ihnen. Sie schrieb ihrer Tochter Fanny Lutz-Giger (geboren 1876):

Sils-Maria, den 28[.] Juli 1916

Meine liebe Fanny!

Es freut mich, dass Ihr Alle wohl u munter seid, u dass Euch das kleine Geschenk, Freude gemacht hat. Der Zwieback gibt dem lieben Elisabethli einige Zeit etwas zum nagen. Wie steht es mit den Zähnchen[,] hat sie wieder welche bekommen?

Da Du keine Wolle zu Strümpfchen sandtest, hat Fanny die Frivolitätsspitzchen für Kinderkragen u Wäsche gemacht. Sie hat nur zu feinen [?] Faden genommen. Diese sind sehr modern u rings um ein[en] Piquetkragen schön. Meine Pflegerinnen kommen nicht mehr viel zum nähen etz. Beide müssen servieren, rösten den Café, haben 80 Kg. Butter eingekocht, 2000 Eier in Garantol gelegt, richten Blumen für die Arrivée u so ein u anderes. Wir suchen so wenig wie möglich Angestellte zu halten; denn bei den theuren Lebensmittelpreisen u der niedern Logie-Taxation würde mit zu vielen, nicht bezahlenden Mitessern nicht mehr viel herausschauen. Gott sei Dank haben 72 u Morgen 80 Personen im Haus u für nächste Woche noch Bestellungen. Ich bin in Wolflisbergs Wohnung gezogen, da die meinige durch Wasser, von der Terasse unbewohnbar geworden u [Zimmer] 75 mit 5 Personen besetzt wird.

Frl. v. Buschlund u Kinder sind alle der Reihe nach in 3 Zimmer des Mezzanin plazirt u benutzen mein Bad; Hans u Gebhardli [geboren 1912] haben schon das 10te Salzbad genommen. Bubi schläft dies Jahr bei offenem Fenster bei Fräulein von Buschlund u zwar nur aus dem Grunde, weil Frl. Emmy servieren muss u gerade um die Zeit, wenn er schlafen soll. Mit Grosspapa u Fanny geht er jeden Tag spazieren; man darf ihn aber keinen Augenblick mit Ersterm allein lassen, sonst macht er es mit ihm, wie mit Lisabethli, wirft ihm Sand an etz. Am liebsten läuft er selbständig im Haus herum; geht ins Vestibul u in’s Bureau u spuckt im Vorbeigehen hie u da eine Dame an. Euch hat er trotz aller Zerstreuung nicht vergessen; möchte Euch Blumen schicken u alle Gemüse u Früchten, die auf unsern Tisch kommen sind von der Mama.

Warum hast Du ihm dieses Jahr keine Socken mitgegeben? Helene u. Frl. Wohler sind Vorgestern eingetroffen u haben viel von der Maly, die sie besuchten, gesprochen. Sie soll ganz vernünftig gesprochen haben u betonte, sie bleibe nicht mehr dort; Sie gehe zu Gebhard u zu der Fanny, diese müsse sie abholen; nach Sils gehe sie erst, wenn es keine Gäste mehr dort habe. Sie habe immer geglaubt, Hansi lebe nicht mehr, jetzt wisse sie, dass dies nur im Wahn war. Allem nach zu schliessen ist sie wirklich ein grosser Ruck vorwärdts [sic] gekommen u will ich Dr. Brunner diesbezüglich schreiben. Ich denke, wenn sie kommen dürfte, müsste ich Anna schreiben, dass sie, anstatt eine Fremde zu Maly käme. Hast Du wirklich bald Bohnen, es heisst sonst, die seien durch den vielen Regen verdorben; gibt es bald Aepfel? Mit 1000 herzlichen Grüssen Deine

Dich liebende Mutter.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 289/20-2 (Text) und W 289/23-01.23 (Aufnahme der 1914 geborenen Elisabeth Lutz; Foto ca. 1915, F. Bastadin, Rheineck)