Mittwoch, 2. August 1916 – «industrielle Halbtagsarbeit» und Frauen als Konkurrentinnen auf dem Arbeitsmarkt

Die Frauenarbeit in der Kriegszeit.

(Eing[e]sandt.)

Durch den Krieg ist die Frauen- und Kinderarbeit – mehr als je gedacht werden konnte – zur Aufrechthaltung des Wirtschaftslebens herangezogen worden. Die Heranziehung der Frau zur Arbeit in der Industrie, also vorab in der Fabrik, war schon vor dem Kriege in steter Zunahme begriffen, immer mehr trat die Frau an Stelle des Mannes, des Arbeiters, so dass schon vor dem Kriege diese Frage für den Arbeiterstand geradezu eine brennende geworden war. Die Frau war nicht nur Konkurrentin des Mannes, sondern auch seine gefährliche Lohndrückerin. Der Krieg hat diese Entwicklung mächtig gefördert. Vorab in den kriegführenden Staaten. Die Männer mussten immer mehr ihre friedliche Arbeit in Fabrik und Werkstätte vertauschen mit der grausigen Kriegsarbeit. Anderseits erstand in vielen Berufen die Notwendigkeit vermehrter Tätigkeit. Es traf dies vor allem die Betriebe, die mit Heereslieferungen beschäftigt waren. So sehen wir denn, wie in den kriegführenden Staaten die Frau immer mehr Einzug hält in den Fabriken. Sie wird nun heute zu Arbeiten herangezogen, von der man früher es sich nicht vorstellen konnte, dass sie von schwachen Frauen ausgeführt werden könnte. Im Dezember 1915 hat das österreichische Kriegsministerium einen Erlass an die Oeffentlichkeit gegeben, wonach die Frauen ersucht werden, in den Betrieben die Stellen der Männer, die in den Krieg ziehen mussten, einzunehmen. Es heisst dort: «… Bei Zuziehung des weiblichen Elementes würde eine namhafte Anzahl kriegstauglicher und militärisch ausgebildeter Männer für den Frontdienst frei. Die Front ist die Domäne des waffenfähigen Mannes. Dorthin zu gelangen soll das Streben jedes Einzelnen sein. Dass nicht nur der einfache Arbeiter von der Arbeiterin abgelöst werden soll, sondern dass auch manche industrielle Beamte von der intelligenten Frauenwelt ersetzt werden können, wodurch die Armee zahlreiche Offiziere gewänne, ist selbstverständlich. … Kein Zweifel, die für das Heer arbeitende Frau ist der Soldat des Hinterlandes. … So manche Mutter, welche vormittags ihre Kinder betreut, könnte nachmittags, wo sie ihre Familie, sei es bei Verwandten, sei es in Kindergärten und dergleichen, beaufsichtigt weiss, industrielle Halbtagsarbeit leisten und dadurch zur Verbesserung ihrer und ihrer Familie Lebensführung beitragen. … Dass viele Arbeiterinnen Ersatz für gefallenen oder invalide gewordene Männer sein werden, ist wohl auch vrständlich. Den verstorbenen Helden vertritt seine Frau, seine Tochter, die so auch am besten versorgt sein werden (?) …» Es wäre ja sehr interessant, diesen Erlass, der hier stückweise zitiert worden, nach verschiedenen Seiten einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Wir überlassen den Lesern, es selber zu tun. Auf alle Fälle steht heute fest, dass die Heranziehung der Frau zur Fabrikarbeit grosse Fortschritte gemacht hat. Die Firma Krupp, die bekannte Kanonenfabrik, die am 1. Januar 1913 erst 1666 Frauen beschäftigte, zählte am Schlusse des Jahres bereits deren 10,928 und am 1. April 1916 sogar schon 13,023. Prozentual noch stärker hat die Frauenarbeit bei Tyssen [Thyssen] – eine bekannte grosse Firma der Metall- und Hüttenindustrie – zugenommen, welcher [sic] am 1. März 1916 erst 82 Frauen beschäftigte und am 1. Dezember 1915 schon 3755. Die Zahlen sind inzwischen wieder mächtiger gewachsen und weisen Tag für Tag höhere Frauenbeschäftigung auf. Durch den Krieg zurückgegangene Industrien, wie die Textilindustrie, geben ihre Arbeiterinnen in grosser Zahl der Eisenindustrie ab. Die Frauen treten ihre Arbeit in der Eisenindustrie an, durchaus unbekannt mit den schwierigen Verhältnissen und sind sich ihrer Rechte und Pflichten als Mitglieder des Arbeiterstandes nicht bewusst. Die Arbeiter sehen dann in ihnen vielfach die Konkurrenten auf dem Lohnmarkt, die ihre ohnehin nicht hohen Einnahmen noch weiter drücken wollen, nicht aber die Mitarbeiterin, die durch die Not der Stunde gezwungen wird, ihre Arbeitskraft in dieser Weise zu verwerten.

Wer die ganze Frage ganz oberflächlich betrachtet, wird vielleicht gar nicht einmal eine besondere Gefahr in dieser vermehrten Heranziehung der Frau im Erwerbsleben erblicken. Und doch bestehen Gefahren in mehr als einer Hinsicht. Dass die Frau zur Konkurrentin des Mannes wird, das ist bereits angeführt. Die Frau erhält bis heute, auch wenn sie die gleiche Arbeit leistet wie der Mann, doch nicht die gleiche Entlöhnung, auch nicht bei Akkordarbeit. Der Beweis ist in der deutschen Industrie erbracht worden, dass auch hier die Frau nur die Hälfte des Preises erhält, den ehedem der Arbeiter erhalten. Eine grosse Ungerechtigkeit. Und dann ist heute noch nicht sicher, ob nach dem Kriege die Frauen ihre Plätze wieder verlassen, oder besser gesagt, ob der Arbeitgeber die billigen weiblichen Arbeitskräfte entlässt und wieder den Mann, der aus dem Kriege heimkehrt, an seinen Platz stellt. Die Frage wird erst noch gelöst werden müssen. Vielleicht bekommt ein Redner im deutschen Reichstag doch noch recht, der sagte, dass Gefahr besteht, dass viele deutsche Arbeiter den Schützengraben nur mit dem Strassengraben vertauschen müssen.

Diese vermehrte Heranziehung der Frau zur Fabrikarbeite, dazu noch zu Arbeiten, die der Art der Frau in keiner Weise zusagen, hat aber auch noch eine andere grosse Gefahr herausbeschworen. Und das ist die Untergrabung der Vo[l]kskraft, und zwar in der Frau und im Kinde. Denn eine Frau, die zu solcher Arbeit herangezogen wird, die wird gar bald am Ende ihrer Kräfte sein. Wie soll sie dann aber noch ihre Kinder gut ernähren und erziehen? Uebrigens brauchen wir da gar nicht mehr zu warten, denn schon jetzt stellen die Aerzte die schweren Nachteile dieser Arbeit für die Frau fest. So erklärt Sanitätsrat Dr. Freudental: «Ich kann als Arzt nur auf Grund zahlreicher Erfahrungen bestätigen, was von den Laien nach dem Augenschein behauptet wird, dass durch die Kriegsarbeit mit ihren Ueberstunden, der Sonntags- und Nachtarbeit bei den Frauen die schwersten gesundheitlichen Schädigungen hervorgerufen sind. Ich erinnere mich nicht, jemals so schwere und so viele Fälle von Nervenschwäche und Nervenzerrüttung gesehen zu haben wie seit Jahresfrist.»

Ein netter Ausblick in die Zukunft der kriegführenden Länder. Die Männer fallen im Kriege oder kommen als Krüppel oder sonst als Kranke und Sieche heim, derweil wird zu Hause die Kraft der Frau durch die Arbeit in der Fabrik bei ungewohnter und unpassender Arbeit zugrunde gerichtet. Was doch für furchtbare Opfer diesem Kriegswahn geopfert werden.

Wenn es bei uns in der Schweiz auch nicht so schlimm steht, so steht doch auch fest, dass die Frauenarbeit in der Zunahme begriffen ist. Wird aber die Frau zur Arbeit herangezogen, dann ist es eben so [sic] klar, dass sie auch zu den wirtschaftlichen Organisationen des Arbeiterstandes beigezogen werden soll. Genau wie der Arbeiter. Denn sie arbeitet zu den gleichen Verhältnissen wie der Arbeiter, also muss sie auch die gleichen Mittel gebrauchen zu ihrer Besserung.

Die christlichen Gewerkschaften gedenken in Gemeinschaft mit den katholischen Arbeiterinnenvereinen durch Schaffung einer Arbeitslosenunterstützungskasse einen wichtigen Schritt zu tun in der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterinnen.

M.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 907 (Die Ostschweiz, Nr. 178, 02.08.1916, Abendblatt, Feuilleton, Text und 28.07.1916, Nr. 174, Abendblatt, Anzeige)

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Mittwoch, 2. August 1916 – Haushaltsbudget einer grossen Mittelstandsfamilie

Wie man es auch machen kann.

Eine Haushaltungsrechnung einer Familie des sogenannten Mittelstandes zur Kriegszeit, nämlich vom Jahre 1915.

(Eingesandt.)

Im Morgenblatt der «Ostschweiz» vom 31. Juli 1916 ist eine Arbeit, «Eine Volksstimme zur heutigen Zeitlage» enthalten, die unbedingt etwas genauer betrachtet werden muss. Es geschieht dies im Interesse unserer gesamten Volkswohlfahrt und auch im Interesse einer christlichen Lebensauffassung, die allein zur Gesundung unserer heutigen Zeitverhältnisse die nötige Kraft in sich enthält. Damit ist durchaus nicht gesagt, dass nicht jede Arbeit des Lohnes wert sei, oder dass man dem Mitmenschen das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein absprechen möchte. Doch darf nicht vergessen werden, dass wir heute in einer Weltfastenzeit, einer Zeit der Prüfung und der Besinnung stehen, in der aber die Grundlage zu einer höheren Lebensauffassung, zu einer wahren Wertung des Tatsächlichen gelegt werden muss, um so unser Geschlecht wieder zu heben. Grundfalsch ist wohl die Ansicht, dass das Glück des Menschen in der Erfüllung seiner Wünsche[,] und wären es auch nur angewöhnte Bequemlichkeiten und Gewohnheiten, liegt; sondern, das bekannte Wort des griechischen Weltweisen: «Wer am wenigsten bedarf, ist der Gottheit am nächsten», ist wohl heute noch wahr, so unzeitgemäss es auch klingen mag. Waren denn etwa unsere Väter weniger glücklich, als unser heutiges Geschlecht, das teilweise nur noch für Vergnügen und Genuss zu haben und zu begeistern ist? Unsere Kultur und unsere Ansprüche an das Leben sind im Laufe der letzten Jahrzehnte derart gestiegen, dass sie weder mit den zur Zeit vorhandenen Mitteln noch mit den zum Leben tatsächlich Notwendigen im richtigen Einklang stehen. Es ist nun wohl verfehlt, wenn wir eine Besserung der Verhältnisse nur in der Erhöhung der Einnahmen und nicht auch in der Beschränkung der Ausgaben, im Zurückschrauben der ungesunden Lebensansprüche erblicken. Wie das zu verstehen ist, soll folgende Haushaltungsrechnung aus den genauen Aufzeichnungen einer Beamtenfamilie mit sieben meist schulpflichtigen Kindern stammend, zeigen. Es ist nachfolgende Aufstellung keine graue Theorie, sondern erlebte und durchlebte Wirklichkeit. Um die beiden Jahresrechnungen leichter vergleichen zu können, folge ich dem Gange genannter Aufstellung. Also:

Haushaltungsrechnung einer neunköpfigen Familie im Kriegsjahr 1915. 

Wohnungsbedürfnisse:    
Wohnung, 5 Zimmer Fr. 850.-
Beleuchtung und Heizung « 305.20
Haus- und Küchengeräte « 76.62
Bekleidung und Wäsche:    
Eltern und Kinder inkl. Schuhe « 479.88
Steuern:    
Einkommen und Vermögen « 304.-
Zeitungen und Literatur « 25.-
Vereine: Sterbeverein, pol., Gesang- und Krankenpflege « 26.-
Versicherungen:    
Lebensversicherungen und Krankenverein « 230.-
Unüberschätzbare Ausgaben:    
Diverse Ausgaben und Geschenke, Vergnügen auch das Taschengeld des Vaters inbegriffen « 145.50
Lebensbedürfnisse im Haushalt selbst:    
Brot und Mehl « 396.24
Milch, Butter, Käse und Eier « 736.67
Spezereien und Teigwaren, Aepfel und Kartoffeln « 459.27
Fleisch, Geflügel und Fische « 90.15
Getränke und Spirituosen « 4.50
Betten und Wäsche, inkl. Wäscherin « 107.-
Arzt und Apotheke und Pflegekosten « 92.-
Jahresausgaben: Fr. 4377.38

 Auch diese Zahlen sprechen eine beredte Sprache. Nicht umsonst klagen wir eben über teure Zeiten, in denen besonders der Vater einer grossen Familie nicht auf Rosen gebettet ist. Aber, wenn wir die Zahl der Kinder in beiden Verhältnissen ins Auge fassen, so ist aus diesen Aufstellungen doch zweifellos ersichtlich, dass mit weiser Sparsamkeit und haushälterischem Sinn, allerdings gewiss nicht ohne materiellen Schaden diese Zeitschwierigkeiten überwunden werden können. Man darf eben nicht vergessen, dass mancher Mann des Mittelstandes kaum mit einem Einkommen von genannter Höhe von Fr. 2800 rechnen kann, und dass heute manche Betriebe und Geschäfte mit Defizit arbeiten. Wenn man nun in diesen schwierigen Zeiten auch auf Vergnügen im landläufigen Sinne verzichten oder auch Ferien im stillen häuslichen Kreise machen muss, so ist das noch lange kein Unglück. Ziehen wir in diesem Punkte wieder das herrliche Buch von Bischof Keppler «Mehr Freude» zu Rate und es blühen uns in der schlichten Einfachheit des häuslichen Lebens und auch in der wundervollen Natur unserer so herrlichen Gegend mit den schönen Spaziergängen, deren Ziel nicht immer eine Wirtschaft zu sein braucht, die reinsten und edelsten Freuden. Wir sind eben auch in dieser Hinsicht von den wahren Quellen und üppigen Tristen [sic] edelsten Frohsinns abgekommen, um unsern Drang nach Freude an trüben oder doch so spärlich fliessenden Wassern zu stillen. Ein Blick auf unsere halberwachsene Jugend genügt, um dies zu beweisen. Obige Zahlen dieser Aufstellung zeigen aber auch, dass es ein staatserhaltender Gedanke ist, wenn man mit allen Mitteln und Kräften dafür sorgt, dass heute mehr als in jeder andern Zeit, jeglicher Wucher auf dem Gebiete der Volksernährung wie auch auf wirtschaftlichem Gebiete, unmöglich gemacht wird. Wenn sich heute noch Arbeitgeber und Finanzinstitute auf Kosten des Mitelstandes und der Arbeiterschaft bereichern, ihre Reserven stärken und gegen unverschuldete Not keine Rücksicht kennen, dann richten sich diese Kreise selbst und die Nemesis wird, wie in allem was irdisch ist und auch die Geschichte beweist, nicht ausbleiben. Da gibt es für unsere Regierungen und Räte Volkskraft zu schützen und zwar mit allen gesetzlichen Mitteln und der Zeit entsprechenden Vollmachten.

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Das im Artikel erwähnte, am 31. Juli publizierte Haushaltsbudget betraf eine dreiköpfige Arbeiterfamilie (zwei Erwachsene, ein Kind). Diese Familie hatte ein Jahreseinkommen von Fr. 2800. Dem standen Ausgaben von Fr. 3223.40 gegenüber.

Aufgelistet sind im Artikel u.a. folgende Ausgaben: Pro Woche konsumierte diese kleine Familie 9 kg Brot, 14 l Milch, ½ Pfund Butter und Fett sowie am Samstag abend eine Flasche Bier. Dazu kam pro Monat ½ kg Kaffee. Der Jahresbedarf an Kartoffeln und Äpfeln ist mit je 200 kg ausgewiesen. Zum Thema Fleisch und Wurstwaren heisst es: Fleisch, Sonntag mittag Fr. 2.25, abends Rest vom Mittag und Zuschuss von 60 Rp., Montag fleischlos, Dienstag Fleisch Fr. 1.60, Mittwoch fleischlos, Donnerstag Fleisch Fr. 1.20, Freitag fleischlos, Samstag Wurstwaren Fr. 1.20, für Fleisch in der Woche Fr. 6.85 oder im Jahr Fr. 356.20.

Der Vater erhielt ein wöchentliches Taschengeld von Fr. 2.50: […] daraus hat er zu bestreiten zweimal Rasieren, Haarschneiden, Konsumation bei Versammlungen, Sitzungen, Zigarren, Tabak, ebenso inbegriffen sind in diesem Sackgeld allfällige Auslagen an Sonntagsspaziergängen mit Frau und Kind […].

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 907 (Die Ostschweiz, Nr. 178, 02.08.1916, Morgenblatt, Text) und P 913 (Rorschacher Zeitung, 22.07.1916, Nr. 169, Anzeige für Konservengläser)