Sonntag, 18. März 1917 – Ein junger Gentleman verguckt sich

Bereits im Frühjahr 1914 hatte der damals siebzehnjährige Kantonsschüler Ernst Kind begonnen, ein Tagebuch zu führen. Der Jugendliche lebte nach Kinder- und Jugendjahren in Chur nun mit seinen Eltern und einer Schwester in Zürich. Sein Vater, ein Berufsoffizier, hatte 1894 die elf Jahre jüngere Ida Aldinger geheiratet, die Tochter eines in St.Gallen ansäs­sigen süddeutschen Kaufmanns. Ernst Kind weilte deshalb – gerade auch in Ferienzeiten – oft in St.Gallen bei seiner von ihm verehrten Grossmutter.

Nach einem Geschichtsstudium unterrichtete Kind ab 1925 als Geschichtslehrer an der Kantonsschule St.Gallen, welcher er von 1932-1963 auch als Rektor vorstand. 1932 heiratete Kind die elf Jahre jüngere Arzttochter Wanda Bolter.

Die erste Jugendliebe von Kind entspann sich freilich nicht in St.Gallen, sondern im Spätwinter 1917:

Heute vor 2 Wochen war der Tanzstundenball, auf dem ich mich zum Teil gefreut und zum Teil gelangweilt habe. (Diese Privattanzstunde im Saal zu «Zimmerleuten» ging von Doris› Parallelklasse an der Töchterschule aus, und Doris [die 1899 geborene Schwester von Ernst Kind] und ich waren dabei auch aufgefordert worden.) Diese Tanzstunden fanden ihren Abschluss am Donnerstag (8. März) und auf einem Katerbummel ins Nidelbad am 11. März am Sonntag Nachmittag. Ich hatte dabei ein starkes Erlebnis, das ich mir nicht recht deuten kann, das aber so sehr jetzt in mir nachwirkt, dass ich es beinahe keinen Augenblick aus meinen Gedanken bringe. Wieso kam ich dazu, mich mit einem bestimmten Mädchen lieber zu unterhalten als mit den anderen? Ich spürte das erst am Donnerstag in der letzten Tanzstunde, das [sic] es etwas anderes war, mit ihr zu reden als mit andern. (mit Margrit Peter; was soll ich den Namen nicht hinschreiben, mein Tagebuch soll jedes Geheimnis wissen, und was brauche ich mich zu schämen – meiner ersten Liebe! Ich glaube, das ist es, Liebe.

Wie anders habe ich mir diese vorgestellt. Liebe ist etwas rein geistiges, eine magnetische Wirkung der Seele, von Seele zu Seele, aber eben nicht von jeder Seele zu jeder. Wenn ich jetzt immer an dieses Mädchen denke, so ist es eigentlich nur die Sehnsucht, mit ihr zu sprechen, und zwar über das Ernsteste, Tiefste, was mich bewegt. Daher kommt es auch, dass ich gerade mit diesem Mädchen darüber sprechen will, dass ich schon einen Anfang gemacht habe. Letzten Sonntag im Nidelbad kam ich während eines Tanzes darauf, einen meiner traurigsten Gedanken auszusprechen, nämlich den Glauben an den Egoismus, der uns Menschen alle erfüllt. Ich glaube, ich sagte, alle Menschen handelten nur aus Egoismus und könnten sich nicht höher hinaufringen. Es wurde mir von ihr widersprochen und ich gab dann zu, dass nicht alles rein aus Selbstsucht getan werde. – Aber es ist ja eigentlich einerlei, was ich damals gesagt habe; Hauptsache ist, dass ich etwas sprach, was mich nicht nur äusserlich berührte. Ich spreche sonst zu keinem Menschen etwas von tiefern Fragen und wie ich dazu stehe. Ich wage das nicht; (sogar meinen Eltern gegenüber schweige ich über alles und trage deshalb an allem unendlich schwerer, und komme vielleicht deshalb zu keiner Klärung.) Deshalb liegt es also ganz am Charakter dieses Mädchens, dass ich mich entschliessen konnte, solches zu sprechen.

Sie hat sich auch früher in der Tanzstunde oft nachher erkundigt nach Dingen, von denen ich ein anderes Mal geredet hatte. (Oft z. B. von Musik) daraus bekam ich das Gefühl, sie kümmere sich doch auch ein wenig um das, was ich redete; einfach gesagt, was ich zu ihr bekam und jetzt zu ihr habe, ist viel Vertrauen. Wenn ich jetzt eine so starke Sehnsucht nach ihr habe, so kommt das, weil ich mit aller Kraft einen Menschen suchte, mit dem ich es wagte, zu sprechen. Nun habe ich den Vertrauten in einem mir bisher ganz unbekannten Mädchen gefunden, und die Freude darüber heisse ich Liebe. Jetzt sind die Tanzstunden vorbei, also auch die Möglichkeit weiterer Unterhaltung mit diesem Mädchen. Deshalb ist meine Liebe zur Sehnsucht geworden. Ich bin in einem anormalen Zustand. Instinktiv und beobachtend (schärfer, als ich es sonst kann) treffe ich es immer so, dass ich am Morgen oder am Mittag zur gleichen Zeit auf dem Schulweg bin wie sie. Dann begegne ich sie [sic] in der Rämistrasse, wenn sie von oben herunter kommt und zum Schulhaus an der Hohen Promenade hinaufgeht. Ich gehe links der Strasse (vom Pfauen her)[,] sie kommt mit einer anderen Freundin (die auch an der Tanzstunde war) rechts herunter. Ich entdecke sie schon ganz von weitem und schaue nicht weiter hin, bis ich sie grüsse und für eine halbe Sekunde ansehe. Ich grüsse sie höflich und ruhig; ich verändere mein Gesicht ganz gewiss um keine Spur. Auch sie nickt höflich und freundlich herüber. Ich spüre es aber, wenn ich sie [sic] einmal nicht begegne; es tut mir ganz leis weh; aber wenn ich sie sehe, freue ich mich sehr. Ich kann mir das nicht erklären, denn das hat offenbar nichts mit dem ersehnten ernsten Gespräch zu tun.

Es ist eigentlich eine Art Romantik, finde ich. Ich will aber dafür sorgen, dass das nicht aufhört; denn es ist merkwürdig, wie ich seit diesem ganzen Erlebnis wacher bin als vorher. Der Halbschlaf, in dem mein Geist immer war und den meine Anstrengungen nicht durchbrachen, ist nicht mehr so stark; ich werde etwas frischer. Das ist eine ganz gewaltige Erlösung für mich; denn es hat schon oft nicht viel gefehlt, dass ich beinahe an mir verzweifelt bin. Alles, was ich lerne, bleibt unproduktiv. Ich nehme auf und spüre nichts davon. Es ist, wie wenn sich alles im Hirn verhärten und absterben wollte. Ich kann mein Wissen nicht anwenden, ich kann es nicht wiedergeben. Oft habe ich das Gefühl, selbst etwas schaffen zu können, aber es bleibt in Gedanken verworren und kommt zu keinem Ausdruck. Ich wünschte mir deshalb schon lange eine starke Seelenerregung, weil ich hoffte, damit geistig zu erwachen. Diese Seelenbewegung hat jetzt stattgefunden. Jetzt muss ich nur hoffen, dass sie nicht einschläft oder im anderen Fall nicht noch stärkere Depression schafft.

Wenn ich Margrit Peter sehe, empfinde ich eine tiefinnere Freude und daneben eine Sehnsucht, die mich gleicherweise schmerzt und mir wohl tut. Meine Gefühle den andern gegenüber zu verbergen, ist mir nicht schwer. Ich habe das eigentlich von jeher getan, seit ich überhaupt gelernt habe, über ernsthafte Dinge, die nicht erklärt sind, nachzudenken.

 

Nächster Beitrag: 19. März 1917 (erscheint am 19. März 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.