Samstag, 31. März 1917 – Nächtlicher Heimweg in lyrischer Stimmung

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Ich glaube, heute kann ich nicht so schreiben, wie es mir zumute ist. Und doch kann ich an ein Erlebnis denken, das mir unerwartet kam und eine tiefinnere Freude gebracht hat: Ich bin einen ganzen Abend neben Margrit Peter gesessen und habe mit ihr reden können! Und zum Schluss konnte ich sie noch heimbegleiten, einen langen Weg und in erhobenster Stimmung. (Übrigens muss ich jetzt über meinen Patrouillengang vom 24. März lachen; ich bin mit meiner Sehnsucht an den falschen Ort gekommen. Dort in der Nähe wohnt wohl ihre Freundin, die ich übrigens vorgestern gerade auch heimspedieren musste, aber sie wohnt noch weiter draussen in der Blümlisalpstrasse. (Die Nummer habe ich nicht nachgesehen, das Haus weiss ich aber.)

Dieser glückliche Tag war vorgestern, Donnerstag, am ersten Ferientag. Am Morgen hatten die Examen aufgehört und am Abend war das Konzert des Schülerorchesters. Ich hatte sowieso im Sinn gehabt, mit Doris [Schwester von Kind] hinzugehen. Als ich erfuhr, dass die Klasse 2 b, das bedeutet mir vor allem Margrit Peter, zu diesem Konzert eingeladen worden sei, war das ein Anziehungspunkt, der noch stärker als die Musik war, obschon ich noch nicht wusste, dass nach dem Konzert noch eine Zusammenkunft im «Zimmerleuten» vorausgesehen war. Doris und ich gingen mit Herrn Federer ins Konzert. (Ich will bei Gelegenheit einmal über diese Freundschaft mit Heinrich Federer [der Dichter!] schreiben, die ich seit letztem Herbst habe; jetzt ist mir für den Augenblick sogar Federer im Hintergrund!) Die erste Freude erlebte ich, als ich bemerkte, dass Margrit P. wirklich auch da war, und ich habe während des ganzen Konzertleins (das übrigens sehr hübsch war), immer abwechselnd auf das Orchester und dann flüchtig zu ihr hinüberschauen müssen. Das konnte ich umso leichter, als ich wegen der vielen Leute an der Wand stand. Vielleicht habe ich meinen Platz diesmal nicht nur aus Höflichkeit aufgegeben! Ich konnte an der Wand beim Stehen weiter sehen. Zum zweitenmal freute ich mich, als zwischen zwei Nummern meine Augen unversehens zu Margrit P. hinsahen, als sie zu unserer Wand herüberschaute. Sie erkannte mich und grüsste schnell herüber. In der Pause sah ich sie wieder.

Aber für die «Zimmerleuten» hatte ich keine Einladung, also keine Gelegenheit, mitzukommen. Nach dem Konzert erfuhr ich aber, dass man keine besondere Einladung geschickt habe und konnte also ohne Aufdringlichkeit mit Doris hingehen, nachdem ich von einem der Mitmachenden wiederholt aufgefordert worden war. – Wie es zugegangen ist, dass ich neben Margrit Peter zu sitzen kam, weiss ich kaum mehr recht. Ich weiss nur noch, dass wir während des ganzen Abends zusammen blieben und uns mancherlei erzählten. Wievielmal ich mit ihr getanzt habe, weiss ich nicht; aber es war beinahe jeder dritte Tanz. Während unserer Unterhaltung ist auch das Thema vom Katerbummelgespräch, der Egoismus, wieder aufgetaucht und hat den Erfolg gehabt, dass wir uns darin einigten, es sei doch nicht alles an unserem Tun bloss durch den Egoismus bedingt. Ich glaube das auch, seit ich in ihre ruhigfreundlichen Augen sah, deren Ausdruck nicht der eines Menschen ist, welcher nur an sich denkt. –

Als wir um 4 Uhr aufbrachen, hatte ich mich anerboten, sie heim zu begleiten. Weil aber Doris mit einem Husten zu tun hat, musste zuerst sie heimbefördert werden. So zogen wir also zu vieren nach unserer Wohnung, Margrit P. mit ihrer Freundin, Doris und ich. Nachdem dort Doris versorgt war, ging die Reise weiter bis ins Rigiviertel, und ich fühlte mich in geradezu lyrischer Stimmung! Sie erzählte viel von ihrem Sommeraufenthalt in Sertig [bei Davos], wo einige Mädchen ein Häuslein gemietet hatten und natürlich gefährliche Abenteuer zu bestehen hatten. (Das sind ja eigentlich Sachen, die kaum wert sind, aufgeschrieben zu werden; aber ich habe mich eben recht gefreut, und schreibe überhaupt, was mir in den Sinn kommt. Wie es mir zumute war, das kann ich ja doch nicht schreiben.) Als wir endlich miteinander zu ihrem Haus kamen, fing es schon an, hell zu werden; (es war etwa 5 ¼ Uhr.) Mein Heimweg war natürlich ziemlich trübselig. Erstens war ich wieder allein, dann brach jetzt die Müdigkeit durch, und der entstehende Katzenjammer ist immer stimmungslos. – Ich will mich jetzt über jenen Abend freuen, nachdem der gestrige Kater mehr oder weniger weg ist, dass ich wieder Gelegenheit gefunden habe, mit einem lieben Menschen zusammen zu sein. Dass das nicht jeden Tag möglich ist, soll mir kein Grund sein, um in Erwartung zu vergehen; es würde auch seinen Reiz verlieren, wenn es sich so oft wiederholen würde. Aber ich freue mich doch jetzt schon wieder auf die Maifahrt, die von unserer Tanzgesellschaft in Aussicht genommen ist.

Jetzt möchte ich gern hie und da an der Blümlisalpstrasse vorbeireiten, wobei ich dann sehr auf guten Zufall rechnen würde.

Ich hoffe, dass dieser Ferienanfang nicht der einzige Glanzpunkt dieser Ferien sein wird; aber es wird schwer halten, ohne sie nochmals so vergnügt und zufrieden sein zu können.

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)