Dorfplatz in Zuoz, 1915

Donnerstag, 5. Dezember 1918 – Noch ein Schwesternbrief

Auch Adele Berner-Wenner schrieb ihrer Schwester Silvia (vgl. Beitrag zum 3. Dezember 1918). Die Themen sind ähnlich wie im letzten Brief, es geht um den offenbar unzuverlässigen Postverkehr zwischen Italien und der Schweiz in den letzten Kriegstagen, um die Grippe und um einen allgemeinen Austausch über das Wohlergehen der weit verstreuten Familienmitglieder. Die verwitwete, alleinerziehende Adele Berner-Wenner erwähnt auch ihren Sohn, Alex, zu dem in früheren Beiträgen einiges zu erfahren war (vgl. Artikel zum 9. Juni 1917, 22. August 1917, 11. September 1917, 6. Oktober 1917 und 27. November 1917):

«Les Magnolias», Montreux, 5. Dec. 1918

Meine liebe Silvia, zwei liebe Briefe habe ich von Dir bekommen, während ich jetzt im Bellevue war, für die ich Dir sehr danke. Bitte sage auch Mama[,] dass ich ihr viel, vielmals für ihre beiden Briefe danke. Wir waren diesmal manche Woche ohne Nachrichten von Euch gewesen, & war es darum eine doppelt grosse Freude, als all› die lb. Briefe anlangten. – Es tut mir so leid zu hören[,] dass Fritz sich so langsam von der Grippe erholt, & noch recht angegriffen sei; hoffentlich hat er guten Appetit & kann sich wieder recht auffüttern. – Es war mir gar nicht recht[,] dass ich nur so spät auf Eure Geburtstage geschrieben habe, ich fürchte[,] dass die Briefe auch noch recht lang unterwegs waren. – Nachdem diesen Herbst so manches anders gegangen war, als ich erwartet hatte, so hat sich dann doch noch alles so gut gefügt. Ich konnte am 19[.] Nov. doch noch einmal nach Bellevue fahren & war sogar noch 3 Tage mit Alex zusammen dort. Für Alex war es gewiss viel besser[,] dass ich über seine Ferien nicht da war, denn er giebt sich immer viel natürlicher[,] wenn ich nicht dabei bin, & so hat er sich viel mehr an Pauls [gemeint ist die Familie von Paul] angeschlossen, was mich vollständig mit meiner Grippe ausgesöhnt hat. Man sah ihm an[,] wie sehr er die Ferien genossen hat, es hat ihm so gut getan[,] nach mehr wie [sic] 1 Jahr wieder eine Zeit in einem Heim zu verbringen. Nachdem Alex weg war[,] blieb ich noch 1 Woche, bis zum letzten Samstag bei Pauls, & habe es noch furchtbar genossen. Es war diesesmal [sic] besonders gemütlich, weil Paul ein System herausgefunden hatte, wie man mit wenig Holz den calorifère anheizen konnte, um den salon [sic] ganz schön warm zu bekommen, & das Treppenhaus vollständig zu temperieren. Es ist aber auch dieses Jahr viel weniger kalt als das letzte, was ich ungemein geniesse, denn um diese Zeit hatte man schon 2 Monate wirklich gefroren. – Am Samstag kam ich hieher, & fuhr von Lausanne nach Vevey mit Frau Ella’s Mann zusammen, was mich sehr freute. Gaspard’s geht es gut, & er erträgt die grosse Arbeit, die alle Aerzte wegen dieser langen Epidemie haben, recht gut. Die Grippe hatte schon abgenommen, als man leider wieder mobilisieren musste, & da ist sie wieder stark aufgeflackert. Es sind jetzt hunderte von unseren Soldaten & Offizieren in Glion zur Erholung. Das Wetter ist prachtvoll & sonnig. Ich wollte eigentlich nur bis heute bleiben, aber da morgen Pauls kommen, & den Nachm. & die Nacht hier bleiben, da sie am Samstag weiter fahren, so habe ich gern noch 2 Tage zugegeben. Das Reisen ist jetzt recht schlimm. Ich werde um 7 Uhr den Tram nach Vevey & dort die Bahn nach Chexbres nehmen müssen, um den Zug von Lausanne zu treffen, & dann komme ich um 5 Uhr an; anders geht es nicht. Aber man will das gern ertragen, in der Hoffnung[,] dass bald wieder bessere Zeiten kommen, & unser Schweizerland auch wieder den inneren Frieden erlangen wird. – Wenn Du die Collecte für die Zambézias [?] machen wolltest, so wäre es mir sehr recht, & ich hoffe[,] Du könnest das notwendige aus den Büchern ersehen. Du wirst sehen[,] dass die Beiträge zu L. 6.- meistens in 2malen, im Frühling und Herbst eingezogen sind, da es den Leuten so lieber ist.

Ich werde Dich im nächsten Brief gern bitten[,] einige Weihnachtsgeschenke für mich auszuteilen, & bin Dir sehr dankbar für Deine Mühe. – Alex schreibt, dass man sie sehr streng arbeiten lasse, & dass man vom 26. bis 31. Dec. wahrscheinlich Schule halten werde, & so gehen wir wo[h]l nicht mehr nach Zuoz. Wie sehr werde ich wieder an Euch alle denken in den Weihnachtstagen, wie ein Traum kommt mir manchmal dieses ganze Jahr vor. Ich bin heute seit 11½ mit Lise allein zu Hause, das Gaspard’s bis zum Abend in Lausanne sind. Marcelle interessiert sich immer so für alles, dass man nie fertig ist mit erzählen & reden. – Ich habe mich Gottlob [sic] sehr gut erholt & fühle mich nun viel wohler als im Herbst. Grüsse Eltern & Geschwister & die Bübchen sehr herzlich & sei Du selbst von Herzen umarmt von Deiner Schwester Adele Berner.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Korrespondenz Silvia Wenner) und W 132/2-112 (Beitragsbild: Album Gebirgsschützenbataillon 8: Aktivdienst 1914-1918, Dorfplatz von Zuoz, 1915)

Lily Wenner

Dienstag, 3. Dezember 1918 – Zwischendurch hatte ich eben die Grippe …

Korrespondenz zwischen den Schwestern Lily Wenner (1877-1959, Beitragsbild) und Silvia Wenner (Bild unten im Beitrag):

3. Dezember 1918

Meine liebe Silvia

Vorgestern brachte mir die Post Deinen lieben Brief & Mamas Fortsetzung von ihrem Brief vom 2. Nov. Euch beiden viel[en,] viel[en] herzlichen Dank. Wie sehr habe ich mich über alles gefreut, besonders dass es Euch Lieben allen wieder gut geht. Ja, Du hast sehr recht, mein liebes Kleinsele, wenn das Aneinanderdenken einem näher rückte, dann wären wir gewiss schon längst beisammen, denn dann hätten auch meine Gedanken schon eine gehörige Anzahl von Kilometern zurückgelegt. Hoffentlich haben wir nun aber bald diese Gedankenwanderung hinter uns & bringt das neue Jahr auch ein frohes Wiedersehen!

Du sagst, Ihr hättet schon so lange nichts mehr von mir gehört, hast Du vorher meinen Brief vom 26. Oktober nicht erhalten? Das wäre mir leid! Ferner muss noch ein Brief von Mama vom 24. Nov. unterwegs sein. Zwischendurch hatte ich eben die Grippe & war gute 14 Tage zu nichts Gescheitem zu gebrauchen. Zum Glück bin ich aber längst wieder ganz wohl. Bei der Gelegenheit ist es nur klar geworden, dass ich, in der ganzen langen Zeit, die ich hier wohne, noch nie auch  nur im Bett gefrühstückt  hatte, wofür ich nicht dankbar genug sein kann. Da kannst [Du] Dir aber auch denken[,] was es für einen Eindruck machte, als ich nun wirklich einmal zu Bett bleiben musste. Ich kann gar nicht sagen[,] wie rührend lieb ich von allen Seiten gepflegt wurde! – Aber nun muss ich Dir noch ganz besonders herzlich für Dein reizendes Bild danken. Ich finde es ganz ausgezeichnet, also, weisst Du Kleinsele, picfein [sic]. Ich habe grosse, grosse Freude daran. Es ist ein herrlicher Zuwachs zu der Bildergallerie [sic] auf meinem Schreibtisch, die mein Zimmer so heimelig macht. Auch die Bilder der Kinder & ihrer Mütter sind reizend. – Hier geht es wie es eben gehen kann, gesundheitlich, zum Glück, soweit gut. Leider haben wir gestern die Nachricht bekommen, dass Anna nicht mehr an ihrem bisherigen Aufenthaltsort bleiben kann & einstweilen auch nicht dahin ziehen[,] wo Du sie zuletzt im Sanatorium besucht hast. Somit werden sie & ihr Fräulein nächste Woche auf unbestimmte Zeit hier erscheinen[,] was uns natürlich etwas zu denken gibt. Hoffentlich geht es ruhig ab, aber eine grosse Erschwerung des an und für sich schon nicht leichten Lebens ist es eben doch. Wenn es nur nicht lange dauert. – Nun ist mein Papier wieder zu Ende und ich schliesse daher mit meinen allerherzlichsten Grüssen für Euch Alle Gross & Klein. Den Eltern sage ganz besonders innige Grüsse. Auch meine Umgebung grüsst vielmals. – Dich selbst aber umarmt in treuer Liebe Deine so viel an Euch denkende Schwester Lily Wenner.

«Kleinsele» war der familieninterne Kosename für Silvia Wenner (1886-1968, ab 1925 verheiratet mit Hermann Ochsenbein). Der Kosename kommt auch in anderen Briefen an sie vor, vgl. die Beiträge zum 11. September 1917 und zum 24. Juli 1918. Hier ein undatiertes Porträt von ihr:

Silvia Wenner

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Korrespondenz Silvia Wenner) und W 054/124.9.8b (Beitragsbild, Lily Wenner, um 1920) sowie W 054/127.9.3d (Silvia Wenner, undatiert)

Emily und Paul Fatio-Wenner

Mittwoch, 27. November 1918 – Generalstreik und Grippe aus Sicht einer bürgerlichen Frau

In ihrem Brief an Silvia Wenner berichtete Emily Fatio-Wenner (1881-1961) unter anderem vom landesweiten Generalstreik vom November 1918 in der Schweiz:

[Randnotiz:] Erhalten i. Fratte

Bellevue près Genève, Mittwoch, 27/II-1918

Meine liebe Silvia

Soeben erhalte ich Mama’s l. Brief vom 5. Nov., sowie den Deinigen vom 9. & Deine Karte vom 14. Tausend Dank Euch Allen, wir sind froh & dankbar um die guten Berichte. Seit mehr als 3 Wochen wussten wir nichts mehr von Euch & fingen an[,] etwas besorgt zu sein. Ja, welch grosse, unglaubliche Ereignisse erleben wir! In der ganzen Schweiz ist die Freude u. Dankbarkeit gross! – Wir durchlebten recht angstvolle Tage, die die Unruhen & die grève générale [Generalstreik] bringen. Aber wie ein Mann stellte sich das ganze Land, die Truppen strömten herbei wie vor 4 Jahren, ein Jeder aus allen Ständen gleich fest entschlossen[,] bis zum äussersten seine Pflicht zu tun. Dank dieser Einigkeit & diesem festen individuellen Auftreten, ist man ja auch merkwürdig rasch der Bewegung Meister geworden. Aber welche Empörung in aller Herzen zurückgeblieben ist, sehen die fremden Elemente [nicht], die zu uns herübergeschickt worden sind[,] um mit Geld und allen erdenklichen schändlichen Mitteln Aufruhr zu stiften, im Augenblick[,] wo die Niederlage nicht mehr zu umgehen war, das kannst Du Dir kaum denken! Es kocht nur so bei jung & alt, & jedes Fünkchen Sympathie ist vergangen. Zu vieles ist an’s Tageslicht gekommen! – Paul stellte sich gleich am ersten Morgen der Tramdirektion, & fuhr gleich mit einem Tram als erster auf unserer Linie Molard-Genève. Du hättest dieses Erstaunen sehen sollen (es wagte aber niemand zu mu[c]ksen[)]. Am nächsten Tag präsentierten sich zwei Andere, & so machte er dann den vollen Dienst wä[h]rend zwei Tagen. Noch viele andere Herren hier versahen ähnliche Dienste, was ohne Ausnahme hochgeschätzt wurde. –

Leider forderte die Mobilisation die unter so schwierigen Transportbedingungen vor sich gehen musste sehr viele Opfer. Fortwährend hört man von neuen Todesfällen durch die Grippe, es ist ein Jammer. Unter der Zivilbevölkerung hat die Krankheit stark abgenommen. Bei Guillaume’s hatten sie Nola [?] und Victor seit 3 Tg. seitdem er aus dem Dienst zurück ist. Es geht ihnen aber befriedigend. – Hier zu Hause sind wir alle wo[h]l & können nicht dankbar genug darüber sein. – Adèle kam am 19. zu uns zurück. Sie war noch recht blass, müde & hustete noch ziemlich.  Sie hat sich aber schon recht erholt, sieht besser aus, der Husten ist vorbei, & sie ist wieder unternehmend & aufgeräumt. In Zürich war es eben schon ganz grau, neblig & viel kälter wie hier. – Alex ist am 23. wieder abgereist, & am 25. ist seine Schule wieder angegangen[.] Er sah prächtig aus, & hatte sich wirklich förmlich herausgegessen [sic] [.] Er hat seine Ferien wie noch nie genossen, da André auch keine Schule hatte, waren sie beständig beisammen. Ich finde Alex wie umgewandelt, besonders wenn er ohne seine Mutter ist. Aber auch mit ihr ist er viel netter. – Wir haben im Sinn[,] nächste Woche abzureisen. Die Hauptsache ist vollständig in Ordnung, was eine grosse Erleichterung ist. Aber die Züge hier in der Schweiz erschweren einem das Reisen sehr. Adèle verlässt uns am Samstag morgen, & geht noch für einige Tage zu Marcelle. Den Cousinen geht es allen gut. – Anne schrieb am 22. Nov. Sie hatte auch die Grippe gehabt[,] zum Glück nicht schlimm, & war 8 Tg. zu Bett gewesen, fühlte sich aber wieder ganz wo[h]l. sie sei rührend & ausgezeichnet gepflegt worden. In der Familie sei sie bis jetzt die einzig Kranke gewesen, aber es habe in der Stadt sehr viele Fälle. Sonst lauten ihre Berichte gut, nur scheint es mir[,] sie denkt über vieles noch recht konfus, obschon so viele schon ganz umgesattelt haben. – Es ist wieder viel milder geworden, was wir sehr geniessen. – Ich schreibe am Donnerstag fertig & hat Adèle heute 2 Briefe von Mama & einen von Dir erhalten, für welche sie Tausendmal [sic] danken lässt. Wir sind so froh[,] viele détails zu vernehmen, die wir uns oftmals gefragt hatten. Tausend Grüsse von uns dreien an Euch Alle. Es küsst Dich von ganzem Herzen Deine Dich innig liebende Emily.

Emily Fatio-Wenner war ab 1905 mit Paul Fatio (1874-1961) von Genf verheiratet. Fatio war als Ingenieur in Neapel, Rom und Genf tätig.

Zu dem im Brief erwähnten Alex Berner und seiner verwitweten Mutter, Adele Berner-Wenner, sind bereits folgende Beiträge erschienen: 9. Juni 1917, 22. August 1917, 11. September 1917 und 6. Oktober 1917.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Briefe an Silvia Wenner, 1917-1921) und W 054/126.9.8 (Beitragsbild)

 

Samstag, 16. November 1918 – Überall Unruhen und Revolutionen

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

November 1918 Auch der Kaiser, verschiedene Fürsten & der Reichskanzler mussten abdanken. Es ist eine schreckliche Zeit. Überall Unruhen & Revolutionen. – Die Bewegung der Sozialisten verbreitet sich auch in die Schweiz. Vom 11.-16. Nov. haben wir Generalstreik. Tram & Eisenbahnen fahren nicht mehr. Jedoch Telegraph & Telephon halten den Verkehr aufrecht. Wir haben riesig zu arbeiten. 30 Frls. machen Nachtdienst, oder vielmehr ruhen auf Stroh in der alten Kontrolle. – Die ganze Streikaffaire kostete die Schweiz nicht weniger als 30 Millionen frs. – Zudem hat sich durch die Massenansammlungen die Grippe wieder derart verbreitet, dass in St.Gallen allein über 1500 Militärpersonen krank liegen. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918, 1. Juli 1918, 20. August und 13. Oktober 1918

Quelle: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser)

Montag, 11. November 1918 – Bolschewisten überall: Grippe und Landesstreik

Ernst Kind, der einundzwanzigjährige, frischgebackene Offizier der Schweizer Armee über die Lage in Europa, seine Sympathien nicht verhehlend:

8. November 1918: Folgende Worte, die ganz aus der momentanen Stimmung heraus, aber wie ich überzeugt bin, immerhin noch mit klarem Blick in die Verhältnisse geschrieben werden, sind vielleicth das letzte, was ich in ruhiger Umgebung schreiben kann. Man muss heute, wo die Idee des Bolschewismus wie eine scheussliche Seuchedurch alle Länder geht, mit jedem Tag den Ausbruch einer Revolution fürchten. Es ist alles, das ganze Unglück der jetzigen Lage, so rasend schnell gekkommen, dass man es noch nicht in seiner ganzen Wirklichkeit fassen kann. Die Kriegsereignisse seit dem Frühling sind wie ungeheure Schläge nacheinander gefolgt:

Im März begann die deutsche Kriegsoffensive. (Im Sommer 1917 war die russische Revolution zur vollen Wirkung gelangt, indem das Heer sich auflöste und die ungeleiteten Massen sich raubend u. plündernd im Land herumtrieben. Zum Schutz der Ukraine hatten die Deutschen Truppen dorthin [an dieser Stelle ein * im Text und oben der Hinweis: Forts. Am 11. Nov. 1918.] gesandt u. waren bis weit über die Krim hinaus vorgerückt. Dann war es zum Frieden von Brest-Litowsk gekommen, wodurch die Feindseligkeiten gegen die russische Sowietrepublik (Arbeiter- u. Soldatenrat: Lenin u. Trotzky) ein Ende erreichten. Die Ukraine schloss ein wirtschaftlich wichtiges Abkommen mit den Zentralmächten, indem sie deren Verproviantierung erleichtern sollte. Auch Rumänien wurde der Frieden von Bukarest aufgezwungen. So standen die Deutschen trotz scheusslicher u. drohender Fortsetzung der Revolution in Russland (Terror in Petersburg u. Moskau, fürchterliche Hungersnot, Cholera) im Osten gesichert da, u. hatten sich militärisch u. wirtschaftlich erleichtert. Aber doch hat jener Abschluss des Krieges im Osten u. die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Russland unendlich mehr geschadet als genützt. Die Revolution, der Bolschewismus, hatte nun freien Zutritt in Deutschland u. Österreich, indem die Sowjetgesandtschaften ihr Exterritorialitätsrecht so schändlich missbrauchten, dass sie in den Gesandtschaftshäusern ganze Magazine revolutionärer Propagandaschriften aufhäuften u. diese dann auf verborgenem Weg den deutschen u. österr. Arbeitern in  die Hände spielten. Jedenfalls ist in dieser Beziehung kolossal gearbeitet worden seit letztem Jahr; nur so lässt sich ds heutige Verhalten erklären. Auch in der Schweiz haben wir eine solche Sowietbotschaft erhalten, u. in unserem Lande hatte es die Agitation naturgemäss noch leichter als bei den Kriegführenden mit ihrer Zensur u. ihrem teilweisen Belagerungszustand. –

So viel glaubte man aber allgemein, dass Deutschland jetzt im Osten frei, seine überzähligen Truppen an den Westen transportieren u. dort die Entscheidung suchen werde. In Italien erfolgte der Sturm im Okt. 1917. Mit deutschen Truppen an den entscheidenden Stellen griff das österreichische Heer auf riesiger Front an, brach am Isonzo durch u. brachte das italienische Heer zu einem grauenhaften Rückzug, vielmehr zu einer Flucht. (Katastrophe am Tagliamento, wo 60000 Mann sich ergaben). Erst hinter dem Piave kam der Angriff an französ.-englischen Hilfstruppen zum Stehen. Italien erholte sich bald wieder. Im Frühling 1918 kam es dann eben dort zum Generalangriff, wo einzig die Hauptentscheidung fallen konnte, in Frankreich. In mehreren furchtbaren Offensivstossen [sic] stiessen die Deutschen in Frankreich vor. Zu äusserst westlich erreichten sie beinahe die Ränder von Amiens u. im Süden der Angriffsfront erreichte man die Marne, zum zweitenmal der Schicksalsfluss. Foch’s Reserven (Foch war durch die Not zum Generalissimus der Entente geworden) waren aber nicht erschöpft, ungeheure Massen kamen aus Amerika; der U-Bootkrieg versagte den Transporten gegenüber, jeden Monat kamen seit Mai 1918 durchschnittlich 300000 Mann. Mit diesen u. seinen letzten Kräften an Franzosen u. Engländern setzte Foch zum Gegenangriff an. (Mitte Juli.) Und das ist die Peripetie des grossen Dramas. Von da an kam Schlag auf Schlag das Unglück über Deutschland. Zu schwacb gegen die Übermacht, Mangel leidend an Material wie an Nahrung, schliesslich verlassen u. verraten von allen Bundesgenossen, schliesslich verlassen u. vor allem, durchseucht vom Bolschewismus, d.h[.] gelähmt an seiner inner Kraft, ist es jetzt zusammengebrochen, militärisch viel weniger als politisch.

Die Ereignisse folgten sich etwa so: Durch die vielerorts erfolgten übermächtigen Tankoffensiven der Alliierten (der Unzahl der Tanks vermochte die deutsche Artillerie nicht mehr beizukommen; selbst hatten sie von dieser Waffe fast nichts.) wurden die Deutschen zur Aufgabe aller in diesem Frühling eroberten Gebiete gezwungen. Dann kam der Rückzug zum Stillstand. Vor diesem deutschen Rückzug ist es noch bei den Österreichern zu einer unglücklichen Offensive gekommen. Ein Vorstoss über den Piave drang nicht durch, der ausserordentlich anschwellende Strom unterbrach die Verbindungen u. so kam die Notwendigkeit eines mühsamen, deprimierenden Rückzuges über den Piave.

Im Herbst nahm das Unglück ein rasendes Tempo an. Bulgarien verriet die Bundesgenossen u. liess nach einer militärischen Kommödie [sic] die Entente einmarschieren. Die Verbindung mit dem Orient war verloren. Die Entente beherrschte Bulgarien u. drang durch ganz Serbien vor. Gleichzeitig erlitten die Türken in Palästina geradezu vernichtende Niederlagen u. schlossen ganz nach den Bulgaren einen Waffenstillstand, der eine Kapitulation war Als letzter Verbündeter Deutschland[s] kam Österreich mit dem unerhörtesten Verrat. Das alte habsurg. Reich fiel auseinander. In 1 Woche erklärten die einzelnen Staaten der zusammengewürfelten Monarchie ihre Selbständigkeit. Einem italienischen Angriff leistete das Heer noch kurzen Widerstand, während hinten im Land der reinste revolutionäre Hexensabbat los war Dann löste sich die Armee einfach auf, schloss einen schleunigen Waffenstillstand, u. Kaiser Karl zögerte nicht, Sonderfriedensverhandlungen zu unterbreiten. Aber auch so rettete er seinen Tron [sic] nicht mehr. Österreich hat kapituliert wie kaum vorher ein Staat. In seinem Innern wütet die Revolution, u. die Entente hat das Recht, das Land zu besetzen. Vor einer guten Woche ist es aber zum Schlimmsten gekommen. Auch Deutschland hat die Revolution. Alles ist in Bewegung. Ludendorff ist schon länger zurückgetreten. In der Flotte haben kolossale, blutige Meutereien stattgefunden, Arbeiter- u. Soldatenräte traten überall zusammen; Bayern wurde über Nacht Republik, am 9. Nov., also vorgestern hat der deutsche Kaiser Wilhelm II abgedankt u. der Kronprinz verzichtet u. heute am 11. Nov. ist der Waffenstillstand mit der Entente abgeschlossen worden, der Deutschland jedenfalls wieder zum Sklaven macht, und eine furchtbare Katastrophe für lange sein wird. Möge nur um alles der Bolschewismus nicht lange triumphieren, sonst stirbt das, was man bisher echt deutsch nannte. Der deutsche Staat ist ja bereits gestorben, ohne einem verjüngten Wesen Platz zu Machen.

Jetzt komme ich auf unsere Verhältnisse zu sprechen. Sie sind bitter ernst, verzweifelt ernst. Letzte Woche hatten die Bolschewiki, deren wir ja so viele haben, den Jahrestag der russ. Revolution feiern wollen; dabei war ein gewaltsamer “Putsch” geplant. Da hat nun der zürcherische Regierungsrat offenbar sehr Angst bekommen und endlich einmal dringend Truppen in Bern verlangt. Und glücklicherweise hat man auch dort den Ernst der Sache erfasst und gleich energisch vorgesorgt. Innert 2 Tagen wurden 4 Inf. Regimenter und sämtliche 4 Kav.brigaden aufgeboten; die Kavallerie, hauptsächlich Bauern, war eine bestimmt zuverlässige Truppe, und an Infanterie hatte man auch gute Leute ausgewählt, vor allem Thurgauer u. Luzerner Truppen. Am 8. Nov. war bereits ein Regiment Inf. und eine Kav.brigade in und um Zürich bereit. –

Offenbar fand Ernst Kind vor der Jahreswende nicht Zeit, über den Fortgang und Ausgang des Landesstreiks zu schreiben. Erst am 13. Januar 1919 notierte er wieder in sein Tagebuch:

Fortsetzung am 13. Januar 1919.

Am 9. Nov. verreiste Papa per Auto an die Grenze, als stellvertretender Kommandant der 5. Division. Für den selben Tag war in der ganzen Schweiz ein 1-tägiger “Proteststreik[“] verkündet worden, Protest gegen das “herausfordernde” Truppenaufgebot. Soviel man nachher erfuhr, ist dieser Proteststreik nur in Zürich einigermassen zur Ausführung gekommen; er war eben nicht vorbereitet; auch gaben die zahlreichen Truppen jedenfalls vielen Arbeitswilligen den Mut, an ihrer Arbeit zu bleiben. Vormittags fuhren sogar die Strassenbahnen, allerdings nur die Leute vom Personal, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten, falls man ihnen Schutz zusichere. Deshalb standen vorn u. hinten auf der Plattform je 3 Mann Feldgraue mit aufgepflanztem Bajonett. Nachmittags musste der Tramverkehr trotzdem eingestellt werden.

Immerhin, schlimm war dieser Tagesstreik noch nicht; die Geschäfte und Läden waren zum grössten Teil offen; Gaswerk, Elektrizitätswerk u. Wasserwerk arbeiteten ruhig weiter, trotzdem man am Freitag abend schon das Gegenteil befürchtet hatte, und infolgedessen noch Badewanne, Eimer u. Krüge mit frischem Wasser gefüllt hatte! (Ich verwechsle das; erst am Montag, 11. Nov. morgens tat man das, als infolge Weiterdauerns des Streiks darob Befürchtungen entstanden.) Der Sonntag verging sehr unruhig, riesenhafte Demonstrationen infolge der bolschewistischen Agitation fanden im Stadtinnern statt. Das Militär sperrte wichtige Plätze ab. Beim Räumen des Fraumünster- und Paradeplatzes waren die Truppen gezwiugen, zur Warnung scharfe Salven über die Köpfe der Radaumacher hin abzugeben. Das Strassenbild war kaum zu vergleichen mit normalen Zeiten: Keine Strassenbahn, dafür häufig Militärlastautomobile mit schussbereiten Soldaten besetzt, sogar z.T. mit Maschinengewehren ausgerüstet. Auf alle Fälle spürte man, die Sache war noch nicht zu Ende mit dem Samstagsstreik.

In der Sonntagnacht beschloss wirklich das Oltener Aktionskomité [sic] eine Fortsetzung und Ausdehnung des Streikes im ganzen Land (das Oltener Komité ist so eine Art Sowiet, der gern die Nebenregierung neben dem Bundesrat spielt u. darauf ausgeht, schliesslich ganz ans Ruder zu kommen.) Also ging der gefährliche Unsinn am Montag weiter, auf unbestimmte Zeit; man wollte es auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wer es länger aushalte, die Bolschewiki oder der schweizerische Bürger. Hier sind am Montag wieder gewaltige Demonstrationen veranstaltet worden. Jetzt stockte aller Verkehr, auch alle Bahnen und der Briefpostverkehr. Bei Zusammenstössen mit Demonstranten ist ein Soldat erschossen worden; abends veranstaltete unsere national gesinnte Studentenschaft eine Zusammenkunft, um zu beraten, wie man helfen könnte, um die gestörten Betriebe wieder in Gang zu setzen. Vor allem sollte dem empörenden Schauspiel abgeholfen werden, dass an allen Ecken das ketzerische «Volksrecht» , unser Bolschewikiblatt, feilgeboten wird, während keine einzige bürgerliche Zeitung erscheinen kann. Die Versammlung war voll guten Willens zum patriotischen Helfen, wenn es auch infolge der Erregung dabei sehr laut herging. Ich habe mir dort den Keim zur zweiten Grippe geholt und habe das leidige Übel schon in er Nacht gehabt. Abends erfuhr ich noch neue Truppenaufgebote, beinahe 2 ganze Divisionen. Im Ganzen werden wir wegen dieser innern Unruhen etwa 60000 Mann aufgeboten haben. – Wie gesagt was nach dem Montag während des Streiks passiert ist, kenne ich nur aus der Zeitung u. vom Hören. Ich lag mit Grippe im Bett. Doch freute mich schon am Dienstag die Mitteilung, dass unter Mithilfe unserer Studenten ein bürgerliches Blatt herauskam, die nationale «bürgerliche Presse Zürichs». Vom Mittwoch an vertrugen meine Kommilitonen auch die Brief- u. Packetpost [sic]! Und in der Mittwochnacht sahen die Oltener Leute endlich ein, dass ein russisches Programm in der Schweiz noch nicht durchführbar ist, und sie gaben den Kampf auf; d.h. sie unterwarfen sich. Der endlich in der Not befolgte Zusammenschluss der Bürger hat ein drohendes Unheil abgewendet. Die Soldaten blieben aller Agitation gegenüber taub. Hingegen ist es oft vorgekommen, dass sie einen der ärgsten Schreier gehörig verklopft haben, wie es solchem unerzogenen frechen Jungburschengesindel gegenüber am besten ist.

Allmählich ist dann alles wieder zur Ruhe u. wieder in Gang gekommen. Seither steht ständig ein Regiment in und um Zürich bereit, neuen Putschen gleich entgegen zu treten. Doch bin ich überzeugt, dann ginge es schlimmer zu, blutiger. Unsere Truppen haben unter der Grippe während des Streiks schwer gelitten; über 800 Tote haben sie in der ganzen Schweiz verloren, einzig, weil der Streik sie zusammengeführt hat. Ein zweites Mal würden sie kaum mehr über die Köpfe schiessen, die Empörung u. der Rachedurst ist zu gross. –

Nachdem endlich die Spartacusbewegung in Berlin nach scheusslichen Strassenkämpfen niedergeworfen worden ist, glaube ich nicht, dass bei uns der Kampf wieder losgeht. Auf eine Wiederholung ist man aber, soviel ich merke, militärisch sehr gut vorbereitet. Ich bin der neugegründeten Stadtwehr beigetreten, die sich organisiert hat, um Eigentum und Arbeit bei neuen bolschewistischen Versuchen zu schützen. Seit 31. Dez. 18 bin ich Leutnant. (Kp. III/70, Zürich, Landschaft.)

Flugblatt Rückseite

Quelle; Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Einträge vom 08.11.2018, 11.11.1918 und 13.01.1919; zusätzliche Absätze zur besseren Lesbarkeit eingefügt) und W 240/1.3-11.4 (Beitragsbilder: Dokumentation von Jakob Jäger, 1874-1959, über den Landesstreik, Flugblatt der Volksstimme zum 13. November 1918, Vorder- und Rückseite)

Visitenkarte Major Riklin

Samstag, 2. November 1918 – Riklin darf endlich nach Hause

Der Psychiater Franz Beda Riklin-Fiechter, aus dessen Korrespondenz bereits einige Beiträge publiziert wurden (letztmals zum 8. Juni 1918) weilte immer noch im Militärdienst. Er war unterdessen Kommandant der ESA (Etappen-Sanitäts-Anstalt) in Solothurn. Anfang Oktober hatte man ihn zum Major befördert, was er im Brief an seine Ehefrau vom 7. Oktober folgendermassen kommentierte: Ich bin jetzt also Major, u. das macht mir sogar etwas Spass. Hier wird es ähnlich wie ein freudiges Familienereignis durchgenommen, u. es gab sofort Leute, die herumfuhren[,] um schleunigst die nötigen Uniformänderungen vornehmen zu lassen. Sonst bin ich ganz verstrickt in Seuchenbekämpfung [gemeint ist die Spanische Grippe] u. Wachsamkeit. Beim Militär ist hier der Höhepunkt wieder überschritten, aber in der Bevölkerung nicht. Wir hatten zwei Todesfälle im Ganzen, auf etwa 100 Erkrankungen, u. einige schwere Fälle, die durchkamen, darunter mehrere Offiziere. Zudem helfen wir der Civilbevölkerung hier u. in der Umgebung aus. […] Die Beförderung zum Major ist mir gleichsam die symbolisch-formale Bestätigung vieler anderer Erfüllungen, die ich auch erwarte, eine Art Rehabilitation und ein Symbol des Richtiggehens.

Auf der Visitenkarte (siehe Beitragsbild) steht: Diese Visitenkarte hat mir mein Bureau geschenkt. Herzlichste Grüsse an Dich u die Kinder v. Deinem treuen Major Franz Riklin Kommandant E.S.A. Wie steht’s mit der d. Weinlese? Schicke bald Wäsche 8.10.18. Solothurn

Im Brief vom 29. Oktober 1918 an seine Frau heisst es:

Liebste Frau!

Am 31. kommt mein Nachfolger, Oberstlt. Riggenbach. Wahrscheinlich komme ich dann schon am Samstag heim. Ich bin sehr froh darüber u. freue mich unendlich. Hoffentlich war es der letzte Dienst u. der letzte Akt u. die letzte kleine Mithilfe auf dem Wege zum Frieden.

Der Epidemieschub [Spanische Grippe] hier geht stark zurück, u. so ist meine Sache getan. Ich freue mich auf anderes, u. weg von der lieblosen Atmosphäre von Solothurn. Also auf ein frohes Wiedersehen.

Dein Franz.

Da die überlieferte Briefkorrespondenz mit dem 29. Oktober endet, ist anzunehmen, dass Riklin tatsächlich am betreffenden Samstag, also am 2. November, nach Hause fahren durfte und sein langer Militärdienst, der mit Kriegsausbruch 1914 begonnen  und oft monatelang gedauert hatte, damit beendet war.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter, Korrespondenz)

Grenzwache 1918

Donnerstag, 31. Oktober 1918 – Grippe im Militär und Gedanken zum Offizierssein

Auszug aus dem Tagebuch von Ernst Kind, später Rektor der Kantonsschule St.Gallen, über seine Offiziersausbildung im Sommer 1918:

31. Oktober 1918: Wenn ich auch in diesen Tagen von persönlich Erlebtem schreibe, wo doch Ereignisse in der Welt passieren, die den Wert des Einzelnen zerdrücken und uns tief ins Gemüt greifen, so kann ich das nur, weil mein Leben diesen Frühling, Sommer u. Herbst unter dem Eindruck dieser Zeit sich so abgespielt hat. Während dieser ganzen Zeit war ich immer Soldat. Am 13. März rückte ich hier in die Unteroffiziersschule ein, nach deren Abschluss wir gleich Gelegenheit hatten, unsere Fähigkeit als Vorgesetzte zu erweisen. Am 4. April begann diese Rekrutenschule, die ich als Korporal mitmachte, und am 8. Juni war sie zu Ende.

Meine Erfahrungen sind die: Als Vorgesetzter war ich etwas zu schwach, zu unentschlossen gegen meine Rekruten. Sie sind zwar im Ganzen rechte Soldaten geworden; aber ich glaube, ich brauche mehr Straffheit. Mit grosser Begeisterung und mit ein wenig ängstlicher Spannung rückte ich dann am 17. Juni (nach 9 Tagen Urlaub) zum Grenzdienst ein (mit ängstlicher Spannung in Erwartung der Mannschaft, die mir jungem Korporal zugeteilt würde, die schon 3 Jahre Grenzdienst erlebt haben u. zum grossen Teil viel älter als ich sein würden.) Die 3 Wochen Wachtdienst am Rhein bei Rheinfelden sind in meinem bisherigen militärischen Leben die uninteressantesten; man sass den ganzen Tag im Wachtlokal u. las, einzig unterbrochen durch die Wachtablösung alle 2 Stunden. Ein sichtbares Resultat hat dieser Grenzbewachungsdienst nicht gebracht, wir haben keine Schmuggler gefangen und hatten keine fremden Flieger.

Als dann die Ablösung kam, freuten wir uns auf einen richtigen Dienstbetrieb, wie wir uns den jetzt folgenden Juradienst vorstellten. Das Programm sah grössere Übungen auch mit kombinierten Waffen voraus. Da ist alles durch die zuerst im Juni aufgetretene Grippe zuschanden gemacht worden. Diese spanische Krankheit hat uns innert einer halben Woche mehr als die Hälfte des Bestandes niedergeworfen. In meinem Zug erkrankten sämtliche Unteroffiziere ausser mir in den ersten Tagen. Ein Zugführer war nicht zur Stelle, da unser Leutnant ebenfalls krank war, unser Zug aber von der Komp. getrennt allein in einem Bauernhof 5 Minuten von der Grenze entfernt lag. (In Steinboden, nahe der Lützel, 1 Stunde nördlich Pleigne.) So sah ich mich auf einmal gleichzeitig als Zugführer, Führer Rechts und als einfacher Korporal, wozu dann noch das Amt der Krankenpflege trat. Von Ausrücken zum Felddienst war damals keine Rede mehr, hatten wir doch nur noch 17 oder 18 Mann im Zug, die aufrecht waren, und die brauchten wir gerade zur Pflege der andern Hälfte, umsomehr, als wir das Essen bei der Komp. 20 Minuten weiter oben, immer für die Kranken holen und heruntertragen mussten. Da war es kein Wunder, dass ich schliesslich auch angesteckt wurde und dann 3 Tage inmitten meiner Soldaten krank im Stroh lag. Dann war das Fieber vorbei und nach weitern 2 Tagen, währenddessen wir noch den nötig gewordenen Umzug zur Komp[.] mit Gesunden, Kranken u. allem Material bewerkstelligten, reiste ich nach Zürich für 7 Tage Erholungsurlaub. Das konnten damals alle Gripperekonvaleszenten tun, u. unsere Komp. hat damals etwa 80 Mann auf diese Art in der ganzen Schweiz zerstreut gehabt. Ich verbrachte diese Zeit in St.Gallen, wohin Mama mit Silvia gereist war. (Doris war in Arosa.)

Dann rückte ich wieder bei der Einheit ein und traf auf überaus traurige Zustände. Die Komp. war zum Bat. nach Pleigne disloziert worden, da Pleigne infolge grossen Abganges leer geworden war. Ich fand die Komp., was an Gesunden noch da war, auf etwa 20 Mann zusammengeschrumpft, alle im gleichen Kantonnement; auch mir blieb kein anderer Ort zum Schlafen übrig. Ich habe die 4 Tage bis zu meiner zweiten Abreise ausgefüllt, in dem [sic] ich das schauderhaft aussehende Magazin der Kp. suchte in Ordnung zu bringen, ein ekliges Geschäft, da über 100 alte Exerzierkleider von Grippekranken herumlagen, deren Besitzer mi Krankenzimmer waren. Ich musste es unter den allgemeinen so niederdrückenden Zuständen, wie sie bei meiner Truppe waren, als wahre Erlösung empfinden, am 28. Juli wieder aus dieser denkwürdigen Grenzbesetzung zurückkehren zu können; die Grippe hatte nicht nur unser ganzes Programm über den Haufen geworfen, sondern die Stimmung überall so bedrückt gemacht, dass es traurig war, dies mitanzusehen.

Etwa 2 Wochen lang waren fortwährend 10-12 Mann der Kp. unterwegs, um beinahe jeden Tag einen andern toten Kameraden aus dem Spital in Delsberg oder andernorts zum Bauernhof zu begleiten, damit er in seiner Heimat begraben werde. Unsere Kp. hat 7 Tote verloren, das Bataillon ungefähr 24. Was aber an bleibenden Nachteilen für die Wiedergenesenen vorhanden ist, das kann man gar nicht ausrechnen; fast jeder hat eine längere Zeit nachher noch mit dem Herz zu tun. –

Ich bin also am 30. Juli in Zürich in die Offiziersschule eingerückt, von der Grippe ordentlich geheilt und darauf gefasst, einen strengen Dienst vor mir zu haben. Er ist streng gewesen, doch scheint es, dass man etwas Rücksicht auf die Grippe genommen hat und sich ängstlich in Acht nahm, sie von dieser Schule fernzuhalten. Bis in die zweitletzte Woche konnten wir so durchhalten, während sämtliche Schulen anderer Divisionen aufgelöst werden mussten. Dann, in Stans, hatten wir plötzlich soviele Fälle, dass eine um 8 Tage zu frühe Entlassung nötig wurde. Immerhin gilt die Schule für beendet[,] und ich bin froh, meine Offiziersausbildung hinter mir zu haben. Ende des Jahres wird jetzt die Ernennung zum Offizier erfolgen; damit ist mein diesjähriger Dienst zu Ende geführt.

Ich habe wenigstens für die viele geopferte Zeit ein gewisses Ziel erreicht. Seit dem 18. Oktober trage ich wieder Zivil u. freue mich meiner Ungebundenheit vor dem Publikum. Mein Standpunkt als Offizier ist nicht ganz der, zu dem man uns erzogen hat.  Ich verachte die Auswüchse des übertriebenen Ehrgefühls, ebenso auch die, welche leider bei jeder gemütlichen Zusammenkunft sich zeigen. Es gehört nun einmal absolut nicht zu einem Offizier, dass er einen Rausch gehabt haben muss. Das Ideal, das da immer zur Entschuldigung vorgebracht wird[,] nämlich die Erziehung zur Selbstbeherrschung durch den Trinkzwang, ist Blödsinn. Denn tatsächlich habe ich keinen unter unseren Offizieren u. Aspiranten gesehen, der sich noch beherrscht hätte, wenn er voll war; sondern alle haben das jämmerliche Bild eines betrunkenen Menschen gegeben, der sich im Offizierskleid solcher Schande aussetzt. Wir besitzen überdies genügend Mittel, um unsere Selbstbeherrschung zu üben u. zu erproben.

Ferner betrachte ich den Krieg nicht als etwas, worüber sich der Offizier freuen soll, denn wenn er sich über den Krieg an sich freut, so freut er sich eben über das Morden, und vielfach ist auch eigentlich das der Grund der Freude. Der rechte Offizier nach meiner Überzeugung freut sich im Kriege rein nur darüber, dass er sein Vaterland schützen darf, u. dass er hier allein Gelegenheit findet, im Ernst seinen Charakter und seine Mannheit zu zeigen. Aber wie darf er das innerste menschliche Gefühl aus der Seele bannen, dass da etwas Furchtbares geschieht, etwas Hirnwütiges, das eigentlich für das Menschengeschlecht eine Schande ist. –

Ich glaube, immerhin, meine Qualifikation in dieser Schule ist richtig: Ich soll etwas mehr aus mir herausgehen, die eigene Schüchternheit überwinden, mehr Selbstvertrauen haben. Das sind meine richtig erkannten Fehler. Ich bin noch zu schwächlich, erkenne eigentlich in mir immer noch sehr viel ganz Kindliches, nicht Männliches. Meine Erscheinung ist auf alle Fälle nicht die eines Offiziers, als mein Blick nicht scharf ist. Was aus meinen Augen spricht, ist nicht Entschlossenheit, sondern eher Schwachheit, – wenn ich mich zusammennehme, so sieht es wieder wie Bitterkeit u. Ärger aus. Ich sehe soviel mir auffällt, nicht jünger als meine Kameraden aus; aber der Mann schaut mir noch nicht aus den Augen. –

Was mich eigentlich jetzt unendlich mehr bewegt, die ungeheuren Ereignisse ringsum, davon zu schreiben brauche ich mehr Zeit. Die Lage ist zudem so unsicher, dass in einer Woche alles noch ganz anders aussehen kann. Unendlich traurig ist, was sich gegenwärtig ereignet. Die Lüge feiert gerade jetzt ihre grössten Triumphe, denn der sehnsüchtige Glaube an einen Rechtsfrieden ist zerschlagen, vorerst hat der Krieg entschieden und bleibt ungestraft. Die Anarchie wälzt sich von Russland her immer näher u. hat bereits ganz Österreich in ein wüstes Chaos zerrissen, und bei uns klopft sie nicht mehr bloss an die Tür, sondern steht bereits zur Hälfte im Land. Doch davon will ich bei besserer Gelegenheit schreiben.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Eintrag vom 31.10.2018) und W 132/2-334 (Beitragsbild zur Grenzbesetzung: Unteroffiziersposten der Geb. Sch. Kp. III/8. Kp. am Grenzacher Hörnli, Februar/März 1918)

Prorektorat Kantonsschule

Donnerstag, 24. Oktober 1918 – Grippefrei (mit Hausaufgaben)

Der Prorektor der Kantonsschule St.Gallen hielt in seinem Tagebuch fest:

Okt. 24

Gemeinsame Sitzung mit den Vertretern der städtischen Anstalten zur Besprechung der Frage, wie lange die Schulen der Grippegefahr wegen geschlossen bleiben sollen. Beschluss, bis auf weiteres den Unterricht nicht wieder aufzunehmen. Bei der Frage, ob sich ein gemeinsames Vorgehen aller hiesigen Schulen empfehle, erklärte ich unser Einverständnis, machte aber den Vorbehalt, dass unter Umständen die Kant. Schule [das Gymasium] ihrer besonderen Verhältnisse wegen ihre Handlungsfreiheit sich wahren müsse.

Nachmittag Besprechung mit den Abteilungsvorständen. Es wird beschlossen, wie in 7g & 2s, die schon am Montag Hausaufgaben erhielten, auch in 4t und 3m solche anzuordnen. Die Lehrer haben bis Samstag ihre Aufgaben dem Vorstand einzureichen, der sie zusammenstellt, vervielfältigt & den Schülern durch die Post zugehen lässt.

Meldung aller Beschlüsse an die Studienkommission.

Die Klassenbezeichnungen beziehen sich auf die gewählte Maturitätsrichtung: 7g ist die Klasse mit Maturatypus B (Latein), 4t diejenige mit Maturatypus C (Mathematik und Naturwissenschaften) und 3m diejenige mit Maturatypus E (Wirtschaft). Diese Klassen standen kurz vor den Maturaprüfungen. In der Klasse 2s sassen Seminaristinnen und Seminaristen.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, KA R. 130-4c-3 (Tagebuch Prorektor, 1913-1919)

 

Praevention von Krankheiten

Sonntag, 13. Oktober 1918 – Nochmals Spanische Grippe

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

13. Oktober 1918 Auch bei uns in St.Gallen sind alle Krankenhäuser überfüllt. Die untere Waid ist nun auch voll & die Sääle v. Schützengarten & Tivoli stehen in Bereitschaft. – In unserer nächsten Nähe, Goliathgasse 7, wurden an einem Tage 10 Personen weggeführt & ein davon ist schon gestorben. Bis zum 5. Okt. sind allein in unserem Kanton 21‘000 Fälle gemeldet worden & darunter 300 Todesfälle. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917, 20. April 1918, 1. Juli 1918, und 20. August 1918

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) und Staatsarchiv St.Gallen, A 553/1.6 (Bildtafel aus: Langstein, Leo und Rott, Fritz: Atlas der Hygiene des Säuglings und Kleinkindes, 1918-1922)

Degersheim um 1911

Freitag, 27. September 1918 – Doppelter Gebrauch von Elektri-zität: Bügeleisen als Kochplatte?

An diesem Tag reichte Hans Früh aus Degersheim beim Schweizerischen Amt für Geistiges Eigentum ein Hauptpatent für einen Ständer für elektrisch geheizte Bügeleisen ein:

Gegenstand vorliegender Erfindung bildet ein Ständer für elektrisch geheizte Bügeleisen, welcher gestattet, die Wärme des geheizten Bügeleisens während dessen Nichtgebrauch nutzbringend zu verwerten. […] Der gezeichnete Ständer besteht aus dem Unterteil a und dem Oberteil d. Der Unterteil a, welcher aus Metall oder anderem feuerfestem Material hergestellt ist, dient zur Aufnahme des elektrisch geheizten Bügeleisens, und zwar so, dass die Bodenfläche des Bügeleisens gegen oben gerichtet ist, während die Handgriffseite nach unten gekehrt ist. Zu diesem Zwecke sind die beiden Seitenwände des Unterteils etwas unterhalb des obern [sic] Randes auf der Innenseite je mit einer nach innen gerichteten Tragrippe versehen, auf welche die Bügeleisenplatte d aufgeschoben werden kann. Etwas unterhalb der Höhenmitte des Unterteils a ist dieser durch einen Boden f abgeschlossen, so dass eine nach unten geschlossene Kammer b gebildet ist, welche die vom von den Rippen e getragenen, geheizten Bügeleisen abgegebene Wärme nicht nach unten strahlen lässt. Über den Tragrippen e, im Abstande, der der Bügeleisenstärke entspricht, befinden sich Tragrippen g, welche den als Wassergefäss ausgebildeten Ständeroberteil d tragen, der während der Benutzung des Bügeleisens mit Wasser gefüllt sein kann. Sobald das in den Ständer eingesetzte Bügeleisen durch den elektrischen Strom geheizt wird, wird die erzeugte Wärme den Boden des Wassergefässes bestreichen und den Gefässinhalt erhitzen. Auf diese Weise kann bei der Heizung des Bügeleisens die Wärme nicht nur zum Plätten, sondern zwischen dem Plätten oder auch sonst zur Erwärmung von Wasser oder andern Flüssigkeiten verwendet werden.

Patent Buegeleisen

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZW 2 E/24d-080951 (Patentschrift) und W 238/09.05-21 (Beitragsbild, Ansichtskarte aus dem Verlag H. Biel, ca. 1911)