Donnerstag, 6. Juli 1916 – Der Arbeitersekretär in den Ferien (Teil 3): „Der Regen hat aufgehört!“

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung.

Scherrer befand sich immer noch in Flüeli in der Innerschweiz, wo er zusammen mit einem Kollegen einige Tage Ferien verbrachte.

Der Regen hat aufgehört! Wie lange wohl. Man muss immer vom Wetter schreiben. Die Nebel schleichen in schweren hellen Mahden den Bergen entlang. Doch in der Ferne gegen den Brünig blinkt ein kleines Stück blauer Himmel. Man sollte es fotografieren. Der Tag wird wirklich wunderbar. Wir gehen dann auch trotz dem nassen Grund und Boden auf die Tour. Am schönen frischen Morgen geht es in den Ranft, wo die Klause des heiligen Bruder Klaus steht. Zwei Kapellen sind im Ranft, die eine, wo Bruder Klausens Zelle steht, die andere, wo ihm die Mutter Gottes erschienen ist. Es ist eine friedliche Einsamkeit drunten im Ranft.

ErdbeereErdbeeren, Bild aus dem Viertklasslesebuch der Primarschulen des Kantons St.Gallen, herausgegeben vom Erziehungsrat 1916

Wir ziehen dann der Melchaa nach gegen das Melchtal. Wir sehen die Erdbeeren gemäht. Ein Bauer hatte die Erdbeeren weggemäht, wir konnten sie in den Mahden zusammen nehmen. Schliesslich steige ich und Kollege Bruggmann hinauf zur Kapelle des Einsiedler Ulrich, der dem Rate des Bruder Klaus folgend unter einem grossen Stein wohnte. Es ist dann von Ulrich wahrscheinlich die Kapelle, die sich neben dem Stein erhebt, geweiht worden. Von dieser einsamen Kapelle geht es weiter aufwärts nach St.Niklausen. In der Höhe, am steilen Waldesrand erhebt sich von Waldesdunkel ein nettes Kirchlein ab, St.Niklausen. Die Kirche ist interessant durch ihre Deckenmalerei, wo nebst verschiedenen Episoden aus der heiligen Schrift zahlreiche Heilige die Kirchendecke zieren. Die Rückkehr erfolgt über den Ranft in unser Flüeli. Die Schuhe und die Hosen sind zwar nass, aber es war doch ein herrlicher

Morgenspaziergang. Nur eines fehlte, mein treues liebes Weibchen! Am Nachmittag gehen wir im Verein mit Vater Anathasius von Sarnen, Ingenieur Becker wiederum nach St. Niklausen. In der dortigen Kaplaneiwirtschaft wird tüchtig gevespert und ein guter Käse mag einen guten Stradella und Bari aushalten. Die Kaplanei wird von dem dortigen Kaplan bewirtschaftet. Kaplan Bucher ist seit 42 Jahren auf der Kaplanei, ein solider und ganz seriöser Wirt. Da gibt es keinen Schnaps und keinen Senf. Wer etwa schon zu viel hat, der bekommt nichts mehr. Der gute alte Herr wird seiner Originalität wegen oft gefragt. – Der Tag lohnte sich und ich wünsche nur[,] meine Gattin auch bald hier zu haben, denn geteilte Freude ist doppelte Freude.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) sowie W 238/08.02-19 (Auszug aus Ansichtskarte, um 1910; typische Wanderausrüstung zur Zeit des Ersten Weltkriegs mit Rucksack, Stock, Feldflasche, Nagelschuhen und Feldstecher) und ZNA 01/0205 (Lesebuch für das vierte Schuljahr der Primarschulen des Kantons St.Gallen, hg. vom Erziehungsrat, St.Gallen 1916, S. 10)

 

Mittwoch, 5. Juli 1916 – Der Arbeitersekretär in den Ferien (Teil 2): Es regnet noch immer und man jasst weiter

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung.

Scherrer befand sich auf einer Art Ferienreise zurück nach Hause in die Ostschweiz. Er hatte in Flüeli übernachtet.

Im Bette werde ich am Morgen durch Donner aufgeweckt[,] und mit wenig Freude höre ich das unaufhörliche Plätschern des schweren Regens. Das Heimweh und die Sorge um meine Lieblinge in St.Fiden zieht mich ans Telefon. Bitte St.Gallen 2178 und endlich klingt es: – Frau Scherrer hier! Mein liebes Fraueli teilt mir mit, dass es wieder ordentlich zwäg ist und heute Waschtag hat. Die Schwiegermutter ist vom Rheintal eingetroffen[,] und sie muss für mich nun doch Ersatz haben. Am Abend wird ein Brieflein von meiner lieben Gattin abgehen, bis dahin heisst es sich nun gedulden!

Der Refrain: es regnet wird vorläufig immer wiederkehren! Den ganzen lieben Tag regnet es nun. Wir sind gehalten draussen zu bleiben. In den Ferien soll man möglichst nichts tun. So habe ich den Tag mit Jassen zugebracht. Am Abend holte ich meinen Kollegen Bruggmann auf dem Bahnhof in Sachseln ab, da er mit mir die Ferien hier zubringen will. – Die Gesellschaft ist im Flüeli nicht so übel. Mir fällt es zwar immer schwer[,] mich anzuschliessen. Aber das Regenwetter zwingt einem[,] Anschluss zu suchen. Da Kollege Bruggmann nun da ist, lässt sich die Sache machen. Wir gehen 10¼ Uhr ins Bett.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und W 108/3.3 (Ehepaar Josef und Maria Scherrer-Brisig, ca. 1928)

Dienstag, 4. Juli 1916 – Der Arbeitersekretär in den Ferien (Teil 1): „Es regnet wieder in Strömen!“

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung.

Josef Scherrer befand sich im Berner Oberland. Im Anschluss an eine Konferenz mit dem Bundesrat in Bern betreffend die Einrichtung eines Notstandsfonds übernachtete er im Hotel Weisses Kreuz in Interlaken. Von dort aus startete er zu einer Art Ferienreise nach Hause in die Ostschweiz. Die Tagebucheinträge der Ferientage sind deutlich länger als die sonstigen Kurzzusammenfassungen von Ereignissen im Leben von Josef Scherrer. Offenbar hat er mehr Zeit zum Schreiben:

Ich habe nicht besonders gut geschlafen, war vor 4 Uhr schon wieder wach. Aber es scheint ein schöner Tag zu werden. Wenigstens ist ein prachtvoller Morgen heraufgezogen. Es wäre das nun eigentlich der erste Tag meiner Ferien. Meinen Gruss sende ich im Geiste meiner herzensguten Gattin und meinen lieben Kinderchen! Möge Gott sie heute und allezeit behüten. In Wittenbach, dem trauten Orte, wo ich aufgewachsen bin, findet heute das Kirchenfest, Fest des heiligen Ulrich statt. Es werden jetzt, da ich dies schreibe, morgens 6 Uhr die Mörser donnern und den Friedenstag verkünden. Unter dem Schutze des heiligen Ulrich bin ich 20 Jahre gestanden und vielleicht verdanke ich ihm, was ich jetzt bin.

Ich hoffe nur, das schöne Wetter möchte jetzt recht lange anhalten. Denn ich sollte meine Gesundheit wieder etwas reparieren. Die Arbeit als Sekretär der Arbeiterorganisationen, Redaktor und schliesslich auch als Tablater Amtsvormund sind auf die Dauer etwas aufreibend und tut eine Abwechslung gut. Sie ist nun trotz des Krieges einfach notwendig geworden, sonst hätte ich natürlich heute nicht Ferien gemacht.

Von Interlaken geht es nun auf den Brienzersee in 1½ stündiger Fahrt nach Brienz. Am Eingang des Brienzersees ist nun eine staatliche Brücke montiert, die der neuen Brienzerseebahn zudient. Die Anlage scheint fast fertig erstellt zu sein. Es geht an den Giessbachfällen vorbei nach Brienz, das so ideal schön am Fusse des Brienzer Rothorns [liegt]. Von Brienz geht es mit der Bahn nach Meiringen. Auch dieser hübsche Ort des Oberlandes scheint ganz auf die Fremdenindustrie eingestellt zu sein. Nur ist auch hier, wie in Interlaken Saison [unlesbares Wort]. Einzig hin und wieder begegnet man einem französischen Internierten. Ich sehe in Brienz und Meiringen Offiziere, unter ihnen muss ein höherer Offizier gewesen sein, er trug am Käppi 4 weisse Streifen. Da ich nicht Militär bin, konnte ich den Grad nicht entziffern. Ein Offizier, der früher wohl ein schneidiger Mann war, hinkte traurig davon! Das ist das Schicksal von Menschen, wie es jetzt in Millionen vorkommt. Ach wie traurig! Und doch ist noch kein Ende dieses schauderhaften Krieges abzusehen.

In Meiringen muss man die weltberühmte Aareschlucht ansehen. Ich wurde zwar erst im Zuge darauf aufmerksam. Doch erinnere ich mich, dass wir in einem schweizerischen Reisespiel zuweilen nach der Brienzerseefahrt nach Meiringen kommen. Dort erfolgte der obligate Besuch der Aareschlucht. Man hat eine Extrabahn nach der Aareschlucht gebaut, die aber jetzt stillgelegt ist. Vor dem Eingang in die Aareschlucht muss ich mich wieder ärgern. Es wird wieder ein Franken Eintritt verlangt. Diese Naturschönheiten sind doch für alle da, wie kann man dann überall Eintritt verlangen. Gewiss wären da verschiedenste Bauten notwendig. Aber das sollte durch die Hotels etc. aufgebracht werden, die ja doch in normalen Zeiten davon den Gewinn hätten. Tausende und Tausende fallen so in diese Kasse. Der arme Teufel, wenn er überhaupt einmal dazukommt, muss damit überall noch Eintritt bezahlen, wenn er etwas sieht. Da schliesst man Naturwunder einfach ab und verlangt Eintritt. Nun die Aareschlucht selbst, die vielleicht 20 Minuten lang ist, ist in der Tat eine Sehenswürdigkeit. Unter Tosen und Krachen stürmt die wilde Aare durch die Felsenkluft, die sich zeitweise fast ganz schliesst. Die eingebauten Stiegen verschandeln zwar die Schlucht. Ich ging dann bald am Schlusse der Schlucht durch eine Felsenschlucht hinauf und ging dann über den Berg nach Meiringen zurück. Da wäre nun in der Regel ein Weg, auf dem man nicht bezahlen müsste! Wahrscheinlich sind aber in der Hochsaison noch spezielle Kontrolleure da!

Um 2.05 verliess ich das hübsche gefällige Meiringen mit der Brünigbahn. Die Bahn, die eigentlich eine Bergbahn ist, erhebt sich mit ziemlicher Steigerung 400 Meter über Meiringen bis zur Station Brünig. Man geniesst da eine wunderbare Aussicht auf das Aaretal, den Brienzersee und die Berner Alpen. Auf dem Wege studiere ich, wo ich nun aussteigen soll. In Lungern oder Sachseln? Wir fahren nun durch das Obwaldner Ländlein nach Sachseln. Ich habe mich nun entschlossen[,] nach dem Flüeli zu gehen. Das Ländlein ist wirklich schön und der Ort, wo einst Niklaus von der Flüh sein heiligmässiges Leben geführt hat, ist mir doch noch besonders heilig. Nächstes Jahr wird ja in der ganzen Schweiz das 500jährige Jubiläum gefeiert werden. Es wurde mir nun im Gasthaus zum Flüeli auch eröffnet, dass Freund Josef Bruggmann, der morgen eintreffen wird, und ich im Bruder Klausen Haus unsere Zimmer erhalten werden. Von Sachseln zum Flüeli hat man eine Stunde zu rechnen. Bei drückender Hitze steige ich den Weg mit meinem Köfferchen hinan. Es ist so schwül, dass ich froh bin, endlich das Ziel erreicht zu haben. Ich glaube, das Gasthaus zum Flüeli scheint recht zu sein. Die Leute sind freundlich und froh, wenn bei dieser Zeit Gäste kommen. – Zum Überfluss werde ich noch zu einem Jass eingeladen und schliesse damit das wenig grosszügige Tagewerk des 4. Juli.

Noch sende ich im Geiste meinen Lieben die herzlichsten Küsse und segne sie, die durch das Band der Liebe und des Blutes mit mir verbunden sind. Beschütze sie Gott der Allmächtige. – Es regnet wieder in Strömen! –

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und W 108/3.1 (Porträt, vermutlich von Louis Baumgartner, ca. 1919)

Montag, 3. Juli 1916 – Das „wahn-witzige Spiel des Imperialismus“ – ein Politiker macht sich Gedanken zum Krieg

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

[…]

Die Zeitungen melden den Beginn einer mit grossen Kräften unternommenen französisch-englischen Offensive. Oh Gott, wie viel Blut muss da wieder fliessen. Wann wird dem wahnwitzigen Spiel des Imperialismus endlich ein Ende gesetzt?

Es scheint ja allerdings, dass alles einer Entscheidung zudrängt, aber wird sie heute schon kommen. Das ist die Frage, von der alles abhängt. Die Schweiz kommt in eine immer schwierigere Lage. Die deutsche Note lastet gegenwärtig auf unserem Lande. Die Delegation, die von der Schweiz nach Paris ging, um bezüglich der von Deutschland verlangten Kompensationen zu unterhandeln, ist ohne einen Erfolg erreicht zu haben wieder in unser Land zurückgekehrt. Wie werden sich die Dinge nun gestalten? Wird Deutschland die Kulanzfuhr sperren? Die kommenden Tage werden auch diese Frage beantworten.

Nun will ich zur Ruhe gehen. Es brechen nun einige Tage Ferien an. Möge Gott mir in diesen Tagen nach angestrengter Arbeit gute Erholung der Kräfte geben. Alles im Namen Gottes zu seiner höchsten Ehre!

Hinweis: Zwei Tage zuvor, am 1. Juli 1916, hatte mit der französisch-britischen Offensive an der Somme eine der verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkriegs begonnen.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und B II 3733.3 (Panzerautomobil mit Maschinengewehren bewaffnet aus: Der Weltkrieg 1914-1915. Prachtausgabe für das Schweizer Volk, Bd. 3, St.Gallen 1915)

Samstag, 1. Juli 1916 – Politiker Scherrer macht sich Gedanken zum Krieg

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Krieg. Die Schweiz hat vor einigen Tagen von Deutschland eine Note erhalten, worin verlangt wird, dass gewisse Waren nach Deutschland exportiert werden müssen, die wir von der Entente erhalten haben. Eine schweizerische Delegation ist in dieser sehr ernsten Sache nach Paris gereist, um Unterhandlungen zu führen. Die Berichte über diese Unterhandlungen lauten sehr pessimistisch und ernst. Unsere Lage gestaltet sich immer schwieriger. Wir kommen immer noch mehr zwischen Hammer und Amboss.

Gestern Abend am 30. Januar zirkulierten wilde Gerüchte, Deutschland habe die Einfuhr nach der Schweiz vollständig gesperrt. Die Nachrichten haben sich heute noch nicht bestätigt, sind aber auch nicht dementiert worden. Gebe Gott, dass dieses entsetzliche Ringen und Kämpfen bald aufhört!

Schweizerische Genossenschaftsbank. Bruggmann und ich revidieren von 3–½6 Uhr auf der Bank die Darlehendebitoren. Am Abend erledige ich noch eine Reihe von Korrespondenzen.

Notstandsfond. Seit dem Frühjahr wird immer um einen Notstandsfond herumgedoktert. Am Montag findet in Bern wieder eine Konferenz mit Bundesrat Schulthess statt. Die Arbeitgeber wollen sich um ihre Pflichten herumdrücken. Wenn nur der Notstandsfond nie notwendig wird!

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und P 127 (Schreibmappe für das Jahr 1916, St.Gallen 1915, S. 67)

Montag, 26. Juni 1916 – Schönstes Wetter und Gewittersturm, der Arbeitersekretär geht mit seiner Familie spazieren

Am Abend gehe ich bei schönstem Wetter mit meiner

lieben Familie nach dem Wildpark „Peter und Paul“. Kurz nach der Dämmerung

bricht ein recht wilder Gewittersturm los.

Schweizerische Genossenschaftsbank.

Der Ausschuss besammelt sich zu einer kurzen Konferenz bezüglich

eventuellem Erwerb der Liegenschaft „Kürsteiner“.

Schreibe die Arbeitslosenunterstützungen heraus für den Hilfsfond. Erledige

diverse Korrespondenzen. Besorge diverse Beistandsgeschäfte.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebucheintrag von Josef Scherrer) und ZMA 18/02.00-02 (Aussicht vom Wildpark Peter und Paul in St.Gallen auf den Bodensee; Bild: Hans Gross, St.Gallen, nach 1907)

Freitag, 16. Juni 1916 – „Für 2.50 & 3.- muss man schaffen wie ein Ross, man geht fast zugrunde“

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

[…]

Textil-Versammlung der Firma Ottiker Uzwil. Sitzung abends 7 Uhr im Arbeiterinnenlokal in Oberuzwil. Uzwil

Ich referiere über die Arbeitslosenversicherung der Arbeiterinnen. Anwesend sind 13 Arbeiterinnen und 5 Arbeiter. Letztes Mal waren nochmals so viele Arbeiterinnen anwesend. Die Verhältnisse im Geschäft Ottiker sind keine gute[n]. Man treibt die Arbeiterinnen zur Arbeit. 18 Cts. pro 1000 Stich nach dem Kriege statt 30–32 Cts. vor dem Kriege. Heute hat man 25 Cts. pro 1000 Stich. Für 2.50 & 3.- muss man schaffen wie ein Ross, man geht fast zugrunde. Den Weberinnen sind die Löhne ein wenig erhöht worden. Man drückt die Löhne, trotz grosser Arbeit. – Die Weberinnen sind etwas enttäuscht, weil sie glaubten etwas zu bekommen, ohne der Kasse beizutreten. Die Löhne sind in der Bewähre 16 Cts. gewesen und jetzt 17 Cts. In 10 ½ Stunden Arbeitszeit 3.5 Fr. Der frühere Lohntarif wird nicht mehr gehalten. Der Fabrikant erklärte, wenn die Arbeiter mehr Lohn verlangen, so stecke er die Fabrik bei.

[…]

Ed. Ottiker

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und W 238/09.02-11 (Postkarte von Oberuzwil, erschienen bei G. Schoch, Oberuzwil)

Dienstag, 13. Juni 1916 – Schlechtes Wetter zum Heuet und immer noch Krieg

Tagebucheintrag (Auszug) von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Ich besorge die Buchhaltung des Lindenhofs. Kriegsberichte. Von Osten kommen wieder bedenkliche Berichte über eine grosse kraftvolle Offensive der Russen, die Österreich wieder bedroht. Krieg und immer noch neues Elend, neuer Jammer. In Italien ist das Ministerium Salandra gestürzt!

Es regnet nun reichlich die dritte Woche! Und noch ist keine Aussicht auf Besserung. Auch das ist ein Unglück für unser Land. Der Heuet ist eben noch nicht vorbei!

[…]

Es wird beschlossen zum Schlusse noch eine kurze Unterhaltungs-Sitzung zu veranstalten, eine letzte Sitzung der alten Sektion St.Gallen soll dann Ende Juli, Anfangs August stattfinden. Fräulein Hoffstetter übernimmt die Veranstaltung eines gemütlichen Teils der nächsten Schluss-Sitzung.

Tagebuch

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und (Illustration, Anzeige für Mähmaschinen der Maschinenfabrik Bucher-Manz in Niederweningen, erschienen in: St.Galler Bauer, Heft 20, 20.05.1916, S. 336)

Montag, 12. Juni 1916 – Familienleben eines Politikers

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Nachheiligtag. Wir gehen mit den beiden Kindern Gertrud und Fides zur Grossmutter und Tante nach Lüchingen im Rheintal. Das Wetter scheint am Morgen gut zu werden; doch am Abend regnet es wieder in Strömen. Doch war es ein Tag der Ausspannung von Last und Mühe des dornigen Alltags.

Die Familie Scherrer-Brisig wurde beim Verwandtenbesuch sicher gut bewirtet, möglicherweise auch mit einem kleinen Schnaps zum Sonntagskaffee. Ob es Produkte aus der Firma Schorta-Holenstein in Lüchingen waren, lässt sich natürlich nicht nachweisen. Die Firma vertrieb laut Briefkopf Bündner Enzian, Wachholder, Kirsch sowie sämtliche Spirituosen.

Porträt Scherrer

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und ZMH 02/027 (Ausschnitt aus dem Briefkopf der Firma J. Schorta-Holenstein, Lüchingen-Altstätten)

 

Stempel und Datum auf der ersten Seite des Tagebuchs von Josef Scherrer

Auch Politiker haben ein Privatleben

Im History Blog des Staatsarchivs St.Gallen finden sich ab 1. Januar 2016 Quellen unterschiedlichsten Inhaltes aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Auszüge aus Tagebüchern bieten manchmal unerwartete Einblicke, wie das folgende Beispiel zeigt. Das Tagebuch des christlichsozialen Politikers Josef Scherrer-Brisig (1891-1965) enthält  in der Regel Notizen zu seinen unterschiedlichsten Tätigkeiten, zu Besprechungen und Sitzungen. Ab und zu jedoch finden sich jedoch auch Hinweise zu seinem Familienleben:

29. Dezember 1915.
Ich gehe mit meinen beiden Kindern Gertrudli & Fidesli zu meinen lieben Eltern nach Wittenbach. Meine Eltern freuen sich sehr über die beiden Kinder. Es ist glücklicherweise allemal ein Fest, wenn Grossvater und Grossmutter ihre Enkelinnen sehen. Am Abend holt uns unsere liebe Maman auf dem Bahnhof ab und wir sind wieder glücklich vereint im festen Bunde.

Die Tagesnotizen von Josef Scherrer sind in Stenographie verfasst. Der Originaleintrag sieht folgendermassen aus:

Scherrer Tagebuch

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1