Donnerstag, 14. September 1916 – Bestnote für einen Maturaaufsatz über die Armee

Maturaaufsatz im Fach Deutsch von Jakob Sonderegger, Schüler der Klasse 5t an der Kantonsschule am Burggraben in St.Gallen. Die schriftlichen Maturitätsprüfungen fanden vom 13. bis zum 16. September statt. Der Aufsatz ist nicht datiert.

 Was verdanken wir in den jetzigen Zeiten unserer Armee?

Disposition.

A Einleitung: Die Armee verdient heute mehr als je unsere Aufmerksamkeit.

B. Hauptteil; Was ist die Armee dem Staate?

I. Sie hilft dem Staate in der Wahrung seines Ansehens im Ausland.

a. Stellung unseres Staates[,] als er keine starke Armee besass (1798)

b. Stellung der Schweiz in diesem Kriege.

c. Wir verdanken letztere unserer Armee.

II. Sie hebt auch den innern Wert des Staates.

a. Sie kann Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten.

b. Sie erzieht tüchtige Bürger.

C. Schluss. Die Armee ist wert, dass man sie pflegt und ausbaut.

In gewöhnlichen Zeiten redete man wenig von unserem Heere. So einmal im Jahre, zur Zeit der Herbstmanöver, erwachte jeweils das Interesse für das Soldatenleben, um dann über den Winter wieder einzuschlummern. Heute dagegen redet man kaum mehr von etwas anderem. Man spricht und schreibt über sie, man zankt sich über ihren Wert und ihre Befugnisse und gerät dabei allzuleicht in Gefahr zu vergessen, was wir ihr verdanken.

Jeder Schweizer ist stolz, dass unser kleines Land inmitten grosser, mächtiger Nachbarn selbständig geblieben ist. Wir wollen uns aber hüten diese Selbständigkeit als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Die Ereignisse von 1798 und 99 zeigen uns ja, wie leicht sie verloren gehen könnte; denn damals war es ja nur die Gnade oder Ungnade der Grossmächte, die über unser Schicksal entscheiden konnte. Wohl besass jeder der alten Orte ein kleines Heer. Doch es war vernachlässigt und von einer gemeinsamen Ausbildung aller dieser kleinen Einzelkontingente, die allein eine widerstandsfähige Waffenmacht hätte schaffen können, war keine Rede. Zudem standen ja die meisten schweizerischen Patrizier in fremdem Solde, den sie sich entweder wirklich im Waffendienst erwarben, oder aber durch Verrat an ihrem Vaterlande. Als sich daher in der Revolutionszeit und in den napoleonischen Kriegen fremde Heere auf unserem Boden herumschlugen, konnten die Schweizer nichts Besseres tun als zuzusehen. Am Willen und an der moralischen Kraft zum Widerstande hätte es vielerorts nicht gefehlt; das zeigen uns die Schwyzer und Unterwaldner, die von den zweifelhaften Neuerungen der französischen Revolution nichts wissen wollten. Was nützte aller Mut und alle Kraft der Einzelnen gegen das planvolle, geordnete Vorgehen der Franzosen? Wäre die Schweiz damals nicht in einem so verlotterten Zustande gewesen, so wäre ihr ganz sicher jene schmachvolle Zeit erspart geblieben.

Auch heute ist überall um uns herum Krieg, nur wir geniessen den Frieden. Bei uns herrscht Ruhe und Ordnung, jeder geht seinem Gewerbe nach und denkt nur an den Krieg, wenn er ihn in der Ausübung seines Berufes hindert. Was ist die Ursache dieses unverdienten Glückes? Gewiss, die Schweiz ist neutral. Neutralität aber schützt sie nicht, denn sie wird in diesem Kriege nicht hoch eingeschätzt. Nur die Macht verdient den Segen des Friedens, die sowohl innerlich als auch nach aussen stark ist, und die sich bewusst ist, dass sie bereit sein muss, den Frieden zu wahren. Ob wir diese innerliche Stärke besitzen, darüber kann man sich streiten. Denen, die daran zweifeln, sei unsere Armee ein Trost. In langer Friedensarbeit, während welcher unendliche Hindernisse, wie der vielberüchtigte Kantönligeist überwunden werden musste, ist ein Heer geschaffen worden, das sich sehen lassen darf. Es mag wohl sein, dass die Verhältnisse, wie sie lagen, uns das Schicksal Belgiens ersparten. Wir wissen aber nicht, wie es gekommen wäre, wenn unser Heer ebenso so verlottert gewesen wäre, wie das belgische. Auch durch die Schweiz hindurch hätte Deutschland in wichtige französische Industriegebiete vorstossen können unter Umgehung der starken französischen Festungen.

Es muss also wohl die Tüchtigkeit unserer Armee in erster Linie der Grund sein, dass wir unangetastet geblieben sind. Sie hat uns unsere Selbständigkeit bewahrt.

Viele Schweizer sind überzeugt, dass wir nie in einen Krieg verwickelt werden, und dass unser Heer darum völlig unnütz sei. Von dieser Überzeugung kann man ja halten, was man will; niemals aber darf man behaupten, dass deswegen die Armee abgeschafft werden sollte; denn auch im tiefsten Frieden hat ein Volksheer seine Daseinsberechtigung. Ruhe und Ordnung, ohne die ein Staat nicht bestehen kann, werden zuweilen gestört. Mit Worten einzuschreiten ist nutzlos; die Regierung muss eine starke Macht hinter sich haben, die die Ruhestörer zur Ruhe zwingt. Diese Macht ist das Militär, ohne welches wir in letzter Zeit vielleicht auch in der Schweiz Revolutionen erlebt hätten.

Der Dienst an sich übt auch seine Wirkungen auf den Soldaten aus; Eigendünkel und Selbstgefallen werden durch ihn gründlich korrigiert; dafür wird der Soldat sich seiner Kraft bewusst, er weiss was er zu leisten vermag und gewinnt Freude daran; die strenge Disziplin lehrt ihn, dass sein eigener Wille sich einem grossen Ganzen, unterordnen muss, und dass er zum Wohle dieses Ganzen, seines Vaterlandes, seine Pflichten peinlichst genau erfüllen muss. So erzieht der Dienst den Soldaten zu einem Manne, der sich bewusst ist, dass sein Wohl weniger wichtig ist als das des Staates, und der deshalb auch ein guter Bürger sein wird.

Wenn wir den guten Willen haben, so können wir aus voller Überzeugung sagen: die Armee ist das beste Mittel, mit dem sich ein Staat nach aussen und innerlich stärken kann. Wir verdanken ihr unsere Selbständigkeit und unsere Ehre, und darum wollen wir sie pflegen und immer weiter ausbauen.

Der Aufsatz wurde mit Note 6 (der besten Note) bewertet.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.130-4e-8 (Aufsatz) und ZOA 001/8.025 (Armeeeinheit vor dem Bernina-Hospiz, zwischen 1914 und 1917 (Foto: Franz Vettiger, Uznach))