Von Josef Scherrer geknipstes und selbst entwickeltes Bild vom Familientreffen am Bettag 1916 in Wittenbach bei seinen Eltern. Das Bild ist hinten in einem seiner Tagebücher eingeklebt.
Eidgenössischer Dank-, Buss- & Bettag.
Der eidgenössische Dank-, Buss- & Bettag kehrt zum drittenmal in der Kriegszeit. Tod und Schrecken sind rings an den Grenzen unseres Landes an die Stelle des Friedens getreten. Ein Ende des Ringens der Völker ist nicht zu denken. Da müssen wir Schweizer Gott, unserem einzigen Schirmherrn und König, mit umso grösserer Liebe danken, dass er unser Land nicht in den Krieg führte, sondern gnädiglich verschonte. Wir haben diese Gnade zwar nicht verdient, nicht verdient hat sie unser Volk und zuletzt ich selbst. Wir hätten eigentlich die gleichen Strafen verdient wie die übrigen Völker! Denn auch unser Vaterland ist von den alten Fehden der ewigen sittlichen Normen abgewichen. Mit bangem Herzen denkt man in dieser Gerichtsstunde daran. Möge Gott der Herr uns auch fernerhin, für uns und unsere Kinder das hohe Gut des Friedens bewahren!
Am Morgen empfange ich gemeinsam mit meiner lieben Gattin in der Kathedrale in St. Gallen das heiligste Altarsakrament. Oh wie unendlich gut ist doch Gott, dass er sich mit uns sündigen schwachen Menschen in der heiligen Brotsgestalt vereinigt und sich uns zur Seelennahrung gibt. Ich opfere die heilige Kommunion auf in erster Linie für meine herzensgute, treue und liebe Gattin, die vor ca. 15 Tagen durch Gottes Willen wieder Mutter geworden ist. Ich bete auch für meine Kinder, meine Eltern, Geschwister und Verwandten. Möge Gott sie alle auf dem rechten Wege führen und sie einst in das ewige Vaterland einziehen lassen.
Am Nachmittag gehen wir alle zusammen zu meinen Eltern nach Wittenbach. Ich freue mich immer darauf[,] auch meinen lieben Eltern einige Stunden zu widmen. Ich bin immer so stark engagiert, dass ich ja nur selten das grosse Glück habe, mit meiner Familie den ganzen Sonntag teilen zu können. Heute konnte ich das wieder einmal. Wittenbach ist immer noch ein liebes trautes Dörfchen. Tausend Jugenderinnerungen verbinden mich noch mit meiner eigentlichen Heimat. Denn da, wo man geboren und aufgewachsen ist, da grüsst die Heimat. Ich will damit nicht meinen Bürgerort Mosnang an zweite Stelle setzen. Mosnang mochte für meine Ahnen die Heimat sein, ich kenne es nicht und muss mich eigentlich schämen, noch nie meine Heimatgemeinde gesehen zu haben. In den Kirchturm hat vor einigen Wochen der Blitz eingeschlagen und bedeutenden Schaden verursacht. Man ist gegenwärtig daran, den Schaden zu reparieren.
Meine Mutter ist verhältnismässig ordentlich daran, meinem Vater geht es augenscheinlich nicht gut. Er hat sehr gealtert. Die Tage des Alters mit allen Gebrechen haben begonnen und ich bete zu Gott, dass er meinen lieben Eltern in den vielen Widerwärtigkeiten Trost und Geduld geben möge. Meine Eltern haben nur ein Leben der Sorge durchgekostet, besonders meine[r] liebe[n] Mutter möchte doch die Sonne noch etwas scheinen an ihrem Lebensabend!
Ich fotografiere noch die ganze Gruppe, ob die Bilder etwas werden, ich weiss es nicht, denn ich arbeite auf diesem Gebiete bis jetzt bedenklich schlecht! Möchte der heutige Tag aber doch in einem schönen Bildchen für immer festgehalten sein.
Der Abend führt uns zurück nach dem Krontal, wo wir seit Mai 1916 unsere Niederlassung genommen haben. Die Kinder und meine liebe Gattin, alle meine Herzlieben sind müde und gehen bald ins Bett. Ich gönne mir noch keine Ruhe, denn die aufgenommenen Bildchen müssen noch entwickelt sein! Die kommende Woche würde ich hiezu doch keine Zeit finden.
Gott, ich danke dir für den heutigen, so schönen Tag! Mögen solche Tage, die nur der Familie gehören, wiederkehren und möge der rotleuchtende Liebesmorgen immer bleiben, bis ein feierlicher Abend blinkt zum ewigen Start!
Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Text und Bild)