Samstag, 24. März 1917 – Kontaktaufnahme ohne Smartphone

1917 mussten die Jugendlichen noch ohne Smartphone und Social Media wie Facebook oder WhatsApp auskommen. Um sich dem Objekt des Begehrens – einer jungen Dame oder einem jungen Herrn – möglichst diskret zu nähern, war also romantische Kreativität gefragt. Daran fehlte es auch dem mütterlicherseits aus St.Gallen stammenden Ernst Kind, welcher in Zürich die Kantonsschule besuchte, ganz und gar nicht:

Im Telephonbuch spürte ich heraus, dass Margrit Peter wahrscheinlich an der Vogelsangstrasse (No 54) wohnt. Dorthin machte ich heute einen Patrouillengang. Tante Emmy war vormittags von St.Gallen angekommen und ich musste am Nachmittag ihr Köfferchen am Bahnhof holen. Weil es noch nicht vorhanden war, hatte ich gerade Gelegenheit zu meinem Spaziergang. Ich fand das Haus; aber meine geheime Hoffnung, sie bei dieser Gelegenheit zu entdecken, ging nicht in Erfüllung. Ich bin deshalb ein wenig deprimiert weggegangen. (Ich weiss ja zwar gar nicht, ob ich die rechte Adresse gefunden habe; aber es ist ziemlich wahrscheinlich.) Leider hören jetzt die Begegnungen an der Rämistrasse auf, da die Töchterschule schon heute Ferien hat, und während der Ferien ist wahrscheinlich gar keine Möglichkeit eines Antreffens da. Ich wollte, es käme bald wieder zu einer Tanzzusammenkunft, wie man ja ausgemacht hat. Dann würde ich wenigstens wieder mit ihr sprechen können. Das blosse Grüssen auf der Strasse ist doch nicht genug, wenn es mich auch jedesmal freut. – Wie ich schon einmal gemerkt habe: normal ist diese Freude nicht. Wann habe ich je eine solche Freude gehabt, wenn ich einen Menschen grüssen durfte? Aber nicht nur das. Ich träume auf offener Strasse und den ganzen Tag von ihr, und ich male mir auf die farbigste Weise Situationen aus, bei denen sie zeigen könnte, ob ihr auch an mir etwas liegt. Obschon ich es lächerlich finde, freue ich mich an solchen Gedanken und will 2 meiner Hirngespinste festhalten:

Ich komme vom Zeltweg her beim Pfauen ums Eck. Sie kommt die Rämistrasse herunter und ist von mir nur noch einige Schritte entfernt. In diesem Moment fällt ein Schuss. (Irgend ein Wahnsinniger kann geschossen haben.) Der Schuss trifft mich auf die Brust und ich stürze hintenüber. Da springt sie herzu und stützt meinen Kopf in ihrer Hand, bis ich aus meiner Ohnmacht erwache. (Der Schuss kann ja abgeprallt sein.) Ich bin selig und danke ihr. Aber weil ich so schwach bin, führt sie mich nachhause, und dabei kann ich ihr unterwegs erzählen und mit ihr sprechen, worüber ich will, vielleicht gerade über den Egoismus, nachdem sie gerade vorhin meine bittere Ansicht davon durch ihre Tat besiegt hat.

Eigentlich braucht da gar kein Schuss mitzuspielen. Ich brauche ja nur mit dem Velo zu stürzen oder vielleicht, indem ich ein paar durchgebrannte Pferde aufhalte und mich ihnen in die Zügel werfe.

Solche kindische Gedanken können mich wirklich freuen; das ist ganz ungewöhnlich, und ich würde mich überhaupt über die ganze Geschichte schämen und meine Gedanken einfach abschütteln, wenn nicht immer eine so tiefe und süsse Freude daraus entstrahlte, die mich wach hält und meinem Leben ein wenig Sinn gibt, während ich vorher lange keinen dahinter habe finden können.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), P 770 («Offizielles Adressbuch von Gross-St.Gallen 1917». Das Adressbuch umfasste auch die Gemeinden Straubenzell und Tablat, welche bereits vor ihrer Verschmelzung mit der Stadt St.Gallen faktisch mit dieser zusammengewachsen waren; die meisten Haushalte besassen noch keinen Telefonanschluss.)

Sonntag, 18. März 1917 – Ein junger Gentleman verguckt sich

Bereits im Frühjahr 1914 hatte der damals siebzehnjährige Kantonsschüler Ernst Kind begonnen, ein Tagebuch zu führen. Der Jugendliche lebte nach Kinder- und Jugendjahren in Chur nun mit seinen Eltern und einer Schwester in Zürich. Sein Vater, ein Berufsoffizier, hatte 1894 die elf Jahre jüngere Ida Aldinger geheiratet, die Tochter eines in St.Gallen ansäs­sigen süddeutschen Kaufmanns. Ernst Kind weilte deshalb – gerade auch in Ferienzeiten – oft in St.Gallen bei seiner von ihm verehrten Grossmutter.

Nach einem Geschichtsstudium unterrichtete Kind ab 1925 als Geschichtslehrer an der Kantonsschule St.Gallen, welcher er von 1932-1963 auch als Rektor vorstand. 1932 heiratete Kind die elf Jahre jüngere Arzttochter Wanda Bolter.

Die erste Jugendliebe von Kind entspann sich freilich nicht in St.Gallen, sondern im Spätwinter 1917:

Heute vor 2 Wochen war der Tanzstundenball, auf dem ich mich zum Teil gefreut und zum Teil gelangweilt habe. (Diese Privattanzstunde im Saal zu «Zimmerleuten» ging von Doris› Parallelklasse an der Töchterschule aus, und Doris [die 1899 geborene Schwester von Ernst Kind] und ich waren dabei auch aufgefordert worden.) Diese Tanzstunden fanden ihren Abschluss am Donnerstag (8. März) und auf einem Katerbummel ins Nidelbad am 11. März am Sonntag Nachmittag. Ich hatte dabei ein starkes Erlebnis, das ich mir nicht recht deuten kann, das aber so sehr jetzt in mir nachwirkt, dass ich es beinahe keinen Augenblick aus meinen Gedanken bringe. Wieso kam ich dazu, mich mit einem bestimmten Mädchen lieber zu unterhalten als mit den anderen? Ich spürte das erst am Donnerstag in der letzten Tanzstunde, das [sic] es etwas anderes war, mit ihr zu reden als mit andern. (mit Margrit Peter; was soll ich den Namen nicht hinschreiben, mein Tagebuch soll jedes Geheimnis wissen, und was brauche ich mich zu schämen – meiner ersten Liebe! Ich glaube, das ist es, Liebe.

Wie anders habe ich mir diese vorgestellt. Liebe ist etwas rein geistiges, eine magnetische Wirkung der Seele, von Seele zu Seele, aber eben nicht von jeder Seele zu jeder. Wenn ich jetzt immer an dieses Mädchen denke, so ist es eigentlich nur die Sehnsucht, mit ihr zu sprechen, und zwar über das Ernsteste, Tiefste, was mich bewegt. Daher kommt es auch, dass ich gerade mit diesem Mädchen darüber sprechen will, dass ich schon einen Anfang gemacht habe. Letzten Sonntag im Nidelbad kam ich während eines Tanzes darauf, einen meiner traurigsten Gedanken auszusprechen, nämlich den Glauben an den Egoismus, der uns Menschen alle erfüllt. Ich glaube, ich sagte, alle Menschen handelten nur aus Egoismus und könnten sich nicht höher hinaufringen. Es wurde mir von ihr widersprochen und ich gab dann zu, dass nicht alles rein aus Selbstsucht getan werde. – Aber es ist ja eigentlich einerlei, was ich damals gesagt habe; Hauptsache ist, dass ich etwas sprach, was mich nicht nur äusserlich berührte. Ich spreche sonst zu keinem Menschen etwas von tiefern Fragen und wie ich dazu stehe. Ich wage das nicht; (sogar meinen Eltern gegenüber schweige ich über alles und trage deshalb an allem unendlich schwerer, und komme vielleicht deshalb zu keiner Klärung.) Deshalb liegt es also ganz am Charakter dieses Mädchens, dass ich mich entschliessen konnte, solches zu sprechen.

Sie hat sich auch früher in der Tanzstunde oft nachher erkundigt nach Dingen, von denen ich ein anderes Mal geredet hatte. (Oft z. B. von Musik) daraus bekam ich das Gefühl, sie kümmere sich doch auch ein wenig um das, was ich redete; einfach gesagt, was ich zu ihr bekam und jetzt zu ihr habe, ist viel Vertrauen. Wenn ich jetzt eine so starke Sehnsucht nach ihr habe, so kommt das, weil ich mit aller Kraft einen Menschen suchte, mit dem ich es wagte, zu sprechen. Nun habe ich den Vertrauten in einem mir bisher ganz unbekannten Mädchen gefunden, und die Freude darüber heisse ich Liebe. Jetzt sind die Tanzstunden vorbei, also auch die Möglichkeit weiterer Unterhaltung mit diesem Mädchen. Deshalb ist meine Liebe zur Sehnsucht geworden. Ich bin in einem anormalen Zustand. Instinktiv und beobachtend (schärfer, als ich es sonst kann) treffe ich es immer so, dass ich am Morgen oder am Mittag zur gleichen Zeit auf dem Schulweg bin wie sie. Dann begegne ich sie [sic] in der Rämistrasse, wenn sie von oben herunter kommt und zum Schulhaus an der Hohen Promenade hinaufgeht. Ich gehe links der Strasse (vom Pfauen her)[,] sie kommt mit einer anderen Freundin (die auch an der Tanzstunde war) rechts herunter. Ich entdecke sie schon ganz von weitem und schaue nicht weiter hin, bis ich sie grüsse und für eine halbe Sekunde ansehe. Ich grüsse sie höflich und ruhig; ich verändere mein Gesicht ganz gewiss um keine Spur. Auch sie nickt höflich und freundlich herüber. Ich spüre es aber, wenn ich sie [sic] einmal nicht begegne; es tut mir ganz leis weh; aber wenn ich sie sehe, freue ich mich sehr. Ich kann mir das nicht erklären, denn das hat offenbar nichts mit dem ersehnten ernsten Gespräch zu tun.

Es ist eigentlich eine Art Romantik, finde ich. Ich will aber dafür sorgen, dass das nicht aufhört; denn es ist merkwürdig, wie ich seit diesem ganzen Erlebnis wacher bin als vorher. Der Halbschlaf, in dem mein Geist immer war und den meine Anstrengungen nicht durchbrachen, ist nicht mehr so stark; ich werde etwas frischer. Das ist eine ganz gewaltige Erlösung für mich; denn es hat schon oft nicht viel gefehlt, dass ich beinahe an mir verzweifelt bin. Alles, was ich lerne, bleibt unproduktiv. Ich nehme auf und spüre nichts davon. Es ist, wie wenn sich alles im Hirn verhärten und absterben wollte. Ich kann mein Wissen nicht anwenden, ich kann es nicht wiedergeben. Oft habe ich das Gefühl, selbst etwas schaffen zu können, aber es bleibt in Gedanken verworren und kommt zu keinem Ausdruck. Ich wünschte mir deshalb schon lange eine starke Seelenerregung, weil ich hoffte, damit geistig zu erwachen. Diese Seelenbewegung hat jetzt stattgefunden. Jetzt muss ich nur hoffen, dass sie nicht einschläft oder im anderen Fall nicht noch stärkere Depression schafft.

Wenn ich Margrit Peter sehe, empfinde ich eine tiefinnere Freude und daneben eine Sehnsucht, die mich gleicherweise schmerzt und mir wohl tut. Meine Gefühle den andern gegenüber zu verbergen, ist mir nicht schwer. Ich habe das eigentlich von jeher getan, seit ich überhaupt gelernt habe, über ernsthafte Dinge, die nicht erklärt sind, nachzudenken.

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.

Sonntag, 31. Dezember 1916 – Ausblick auf 1917: Endlich Frieden?

Oben: Neujahrspostkarte mit einer Auflistung der Daten sämtlicher Kriegserklärungen von 1914 bis 1916 und einem Friedensengel (Pax = Friede), herausgegeben von K. Essig, Kunstverlag, Basel.

Neujahrsbild II

Neujahrspostkarte zur Erinnerung an die Grenzbesetzung 1914-1916, herausgegeben von Perrochet-Matile, Lausanne, gedruckt bei Klausleider (?) in Vevey.

Laut ursprünglicher Konzeption sollte das Projekt «History Blog» mit diesem Beitrag zum 31. Dezember abgeschlossen sein. Die vielen positiven Reaktionen bestärken uns aber darin, den Blog für das Jahr 1917 noch weiterzuführen, allerdings in deutlich reduzierter Form. So werden wir also nicht mehr jeden Tag eine Quelle publizieren. Auch beschränken wir den Quellenfundus und werden nur noch auszugsweise Regierungsratsprotokolle veröffentlichen.

Näheres zum Inhalt im Beitrag zum  Montag, 1. Januar 1917!

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 207 (Postkarten aus dem Album „Aus den Kriegszeiten“, zusammengestellt von Joseph Otto Ferdinand Fischer (1892-1967))

Samstag, 30. Dezember 1916 – „Ein Jahr von Blut und Eisen“

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Es neigt ein Jahr dem Schlusse zu. Ein Jahr von Blut und Eisen. Ach Gott, welches Unglück hat 1916 der Welt wieder gebracht. Ich habe zwar Anlass nur zum Danken gegenüber Gott, dem allmächtigen Vater. Meine Familie blieb von grösseren Unbilden glücklicherweise verschont. Das Jahr 1916 hat den Tod des Kollegen Lander gebracht. Da vorläufig kein Ersatz bestimmt wurde, hat meine Arbeit gewaltig zugenommen. Um einen besseren Verdienst zu haben, sah ich mich veranlasst, die Amtsvormundschaft in der Gemeinde Tablat zu übernehmen. Ich kann so wieder ein Gebiet studieren und wieder ein Stück Leben kennenlernen.

Heute bekomme ich von Trogen unerwartet Bericht, dass mein Bruder Franz dort schwer krank darniederliegt. Auf telefonisches Befragen erklärt man mir, dass mein Bruder Franz sehr ernst erkrankt ist und Todesgefahr besteht. Ich veranlasse mit Charge-Express den hochwürdigen Herrn Pfarrer Eberle in Speicher meinen Bruder sobald als möglich zu besuchen, um ihm doch den letzten Trost rechtzeitig spenden zu können. Hoffentlich kann mein Bruder mit gutem Verstand die heiligen Sakramente empfangen. Möge Gott ihn am Leben erhalten.

Im nachfolgenden Tagebucheintrag vom 31. Dezember 1915 heisst es, der Vater habe den Bruder besucht. Es gehe dem jungen Mann noch nicht gut, aber es scheine nicht allzu gefährlich zu sein.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1

Freitag, 29. Dezember 1916 – Einheizen mit Holz ist einfacher mit „Büscheli“

August Keller aus Niederwil reicht beim Schweizerischen Amt für Geistiges Eigentum (später Eidgenössisches Amt für Geistiges Eigentum) ein Patent für eine Vorrichtung zur Herstellung von Reisigwellen und dergleichen ein:

Gegenstand vorliegender Erfindung ist eine Vorrichtung zur Herstellung von Reisigwellen und dergleichen, und es ist der Erfindungsgegenstand auf der beifolgenden Zeichnung in einem Ausführungsbeispiel dargestellt; (…). (…)

Die Anwendung vorliegender Vorrichtung kann in geeigneter Weise derart erfolgen, dass der Presshebel 10 in die Fig. 3 gestrichelt dargestellte Lage ausgeschwenkt wird. Hierauf wird das zusammenzubindende Reisig, das vorgängig zu ungefähr gleichlangen Stücken zugerichtet worden ist, auf die Träger 7, 8 aufgelegt, worauf das Pressgut durch Zurückschwenken des Presshebels auf den Reisigbündel zwischen dem Presshebel 10 und den Trägern 7,8 insbesondere diesem letztern, zusammengepresst wird. Dabei schiebt sich der die Sperrzähne 9 tragende Teil des Trägers 8 zwischen die beiden Teile des Presshebels 10 ein und die Sperrklinke kann in die Zahnlücken zwischen den Zähnen 9 eingreifen. Durch mehrmaliges Nachlassen und Wiederholen des Druckes mittelst Handgriffes 12 wird das Reisigbündel immer mehr und mehr zusammengedrückt und nach Erreichung der genügenden Pressung wird das durch Versperrung mittelst der Sperrklinke unter Pressung bleibende Reisigbündel z.B. mittelst Drahtes zur Reisigwelle gebunden. Hierauf kann die Sperrklinke 13 gelöst, der Hebel 10 ausgeschwenkt und die Reisigwelle der Vorrichtung entnommen werden.

Sollen längere Reisigwellen z.B. an mehreren Stellen gebunden werden, so sind an Stelle des einen Presshebels mehrere nebeneinander anzuordnen, oder mehrere derartige Vorrichtungen nebeneinander in derselben Linie aufzustellen. Auf diese Weise können z. B. auch Faschinen leicht hergestellt werden. (…)

August KELLER.

Vertreter: STAUDER-BERCHTOLD, St.Gallen

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, ZW 2 A/2e-074811 (St.Galler Patentschriften)

Donnerstag, 28. Dezember 1916 – Porträtfotos zum Jahresende

Das Bild ist auf der Rückseite datiert und die Personen identifiziert: Die „Custerli‘s“ 28/12/16 Heiner & Ruedi. Der Fotograf ist unbekannt. Die beiden Buben tragen die damals zeittypischen Matrosenhemden.

Heinrich L. Custer war später Drogist und hobbymässig Genealoge in Rheineck, sein Bruder wählte den Beruf des Apothekers.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 076/1.61.6.13 (Porträtfotografie der Brüder Rudolf Custer (1913-?) und Heinrich L. Custer (1911-1999) von Rheineck)

Dienstag, 26. Dezember 1916 – Mehr Schonung für Pferde in Kriegszeiten

Bis über den Ersten Weltkrieg hinaus war das Pferd das wichtigste private und teils auch öffentliche „Fortbewegungs- und Transportmittel“. In den Kriegszeiten litten nicht nur Menschen an Mängeln verschiedenster Art und Überarbeitung, sondern auch Tiere. Viele Pferde hatten, wie untenstehende Quelle zeigt, viel zu wenig Energie, um frei zu galoppieren wie auf dem Briefkopf des Pferdehändlers gezeigt.

Kreisschreiben des Polizei- und Militärdepartements des Kts. St.Gallen an die Bezirksämter, Gemeinderäte und sämtliche Polizeiorgane desselben betreffend den Pferdeschutz.

Vom 26. Dezember 1916.

Nach den Mitteilungen der schweizerischen Pferdeschutz-Vereinigung und des „Roten Sterns“ gehen aus allen Teilen der Schweiz Klagen über den schlechten Ernährungszustand der Pferde und deren masslose Ausbeutung ein. Die Gründe dieser Erscheinung lägen einerseits im Mangel an Kraftfuttermitteln und anderseits in der schlechten Qualität des sonstigen Futters. Da es nun zurzeit nicht möglich sei, diesen Futtermangel zu beseitigen, so müsse dadurch ein Ausgleich geschaffen werden, dass den reduzierten Kräften der Pferde entsprechend, auch reduzierte Anforderungen an diese gestellt würden, d.h. das Ladegewicht herabgesetzt und ein langsameres Tempo ec. verlangt werde.

Diese Ausführungen und Begehren erscheinen durchaus begründet, wesshalb [sic] anmit alle Polizeiorgane angewiesen werden, in erhöhtem Masse darauf zu achten, dass keine Überladungen vorkommen und wo solche betroffen werden, die Last verringert und die fehlbaren Fuhrleute unnachsichtlich verzeigt werden. Dabei ist zu erwarten, dass die Strafbehörden im Sinne von Art. 200 u. ff. des Strafgesetzes und der Verordnung über Tierquälerei vom 23. Mai 1868, solche Delikte gehörig ahnden.

Eine Überladung wird dann vorliegen, wenn ein Fuhrwerk nur bei Anwendung roher Strafmittel in Bewegung gesetzt und darin erhalten werden kann. Das Gewicht der Ladung muss in angemessenem Verhältnis zur Kraft und Leistungsfähigkeit der Zugtiere und dem Zustand und der Steigung der zu befahrenden Strasse sein.

Alle Fuhren arten im Winter auch dann zu Tierquälereien aus, wenn durch mangelhaft oder gar nicht geschärftes Beschläg die Zugpferde auf glattem Boden die Last nicht vorwärts zu bringen vermögen und von den Fuhrleuten trotzdem auf rohe Weise dazu angehalten werden.

Für das Polizei- und Militärdepartement

Der Regierungsrat:

Dr. A. Mächler.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZA 001 (Kreisschreiben betreffend Pferdeschutz, erschienen im Amtsblatt für den Kanton St.Gallen, 91. Jg., Bd. II, Nr. 26 vom 29. Dezember 1916, S. 922) und ZMH 53/020a (Briefkopf von 1913)

Montag, 25. Dezember 1916 – „Roselis Weihnachten im Kriegs-jahr“: Weihnachtsgeschichte von Jakob Bührer (1882-1975)

Jakob Bührer gehörte zu den Mitgründern des Schweizerischen Schriftstellervereins. Er kannte die Auswirkungen der Armut, war er doch selber in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Ab den 1930er Jahren wurde er wegen seiner gesellschaftskritischen Einstellung und seines Übertritts in die Sozialdemokratische Partei von der bürgerlichen Presse boykottiert.

Roselis Weihnachten im Kriegsjahr.

Von Jakob Bührer

Roseli Morgenthaler wischt im Hause des Kaufmanns Müller die Treppe. Das elektrische Licht brennt, denn hinter dem grossen, vom Geländer schräg durchschnittenen Fenster liegt noch graue, neblige Morgendämmerung. Alle Augenblicke fährt das Holz an Roselis Besen geräuschvoll in die Treppenwinkel. Da öffnet sich oben ein Türspalt, und eine scheltende Stimme ruft: „Aber Roseli, mach doch nicht solch einen Spektakel!“

Roseli fährt zusammen; wie die Türe wieder ins Schloss geklinkt ist, streckt es sich, reibt sich die Augen mit dem Handrücken und muss gähnen, ganz laut, so dass es von unten und oben widerhallt. Jetzt rasch, rasch, den Besen wieder zur Hand und und nun leise, leise. Aber noch ist es in seiner Arbeit nicht auf dem untersten Tritt angelangt, so ruft die Stimme von oben schon wieder: „Aber Roseli, es ist doch schon lange Tag, warum lässest Du das Licht brennen! Wieviel Mal muss man dir das Gleiche wiederholen?“

Roseli knipst das Licht aus, wischt den Staub von der untersten Stufe in die Schaufel und steigt mit ängstlichem Herzen in die Wohnung des Kaufmanns Müller hinauf. Was wird es alles wieder schlecht besorgt, wieviel wird die „Madame“ wieder auszusetzen haben! Am Morgen ist sie immer so schlecht gelaunt.

Auf dem Küchentisch steht in einer blauen Tasse der Kaffee eingeschenkt und daneben liegt ein grosses Stück Butterbrot. „Iss, Roseli, aber rasch, du musst noch Kohlen holen, und es ist bald Zeit!“ Und in ihrem blauseidenen Morgenrock verschwindet Frau Müller durch die Türe. Die blaue Tasse sieht so gemein aus, und drin im Esszimmer hat Roseli vorhin den Tisch gedeckt mit Porzellan und Silber, wunderschön. Es schluckt und druckt an seinen Brocken, die fast nicht hinunter wollen.

Einige Minuten später trabt es, die Schultasche am Arm, die Vorstadt entlang. Am kalten Egg begegnet ihm der Gusti Uehlinger; der fährt mit der Hand nach oben, aber mitten in der Bewegung hält er inne und kratzt sich am Gesicht. Er hat die blaue Gymnasiastenkappe herunterreissen wollen, wie immer, wenn er bisher dem Roseli begegnete; aber da ist ihm wohl im letzten Augenblick Roselis altes, verschabtes Mäntelein aufgefallen, und dann hat er auch wieder das andere gewusst.

„Ach, dieser Krieg,“ seufzt Roseli, und nachdenklich und unfroh kommt es in der Schule an.

Der Lehrer, ein alter stiller Herr mit einer sanften, tiefen Stimme und ganz hellblauen Augen, in die man nicht sehen kann, wenn man irgend etwas Unartiges oder Nachlässiges kurz hinter oder vor sich hat, hebt eine Kriegskarte an die Wandtafel und erläutert, dass wieder eine bedeutende Veränderung der Heeresstellungen auf den Kriegstheatern vor sich gegangen ist. Dann erzählt er eine kleine Geschichte, die er von einem Verwundeten gehört habe:

„In einem deutschen Lazarett dicht hinter der Front lag eine Anzahl Schwerverletzter, darunter auch zwei Leutnants. Der eine stöhnte von Zeit zu Zeit furchtbar. Da rief ihm der andere zu: „Herr Kamerad, können Sie nicht ein bisschen stiller sein?“- „Herr Kamerad,“ kam es mühsam zurück, „mit einer Kugel im Bauche kann man nicht stille sein!“ Am andern Morgen waren beide tot!

Die Augen der Mädchen hafteten starr an den Lippen des Lehrers. Die kleine Geschichte hatte ihnen das blutige Geschehen da draussen mit furchtbarer Augenblicklichkeit vor die Sinne gestellt. Viel und oft hatte ihnen der Lehrer von dem gegenwärtigen Kriege erzählt; aber bald hatte es sie nicht viel mehr interessiert als die Geschichte von den alten Griechen und Römern. Wohl sprach man ja aller Wegen und Enden von nichts anderem als von dem Krieg; aber gerade das stumpfte die Vorstellung ab und keines machte sich einen lebhaften Begriff von dem, was da irgendwo weit draussen geschah. Die kleine Episode aber, die einzelnen Leidenden, die sich in der Sterbestunde noch mit „Herr Kamerad“ anredeten, das vermittelte der Klasse einen tiefgehenden Begriff von dem ungeheuren Mass von Leiden, das derzeit über die Welt ausgestreut wurde.

Roseli Morgenthaler hatte sich heimlich zwei Tränen abgewischt. Kurz vor dem Stundenschluss frägt der Lehrer: „Wie wärs, wenn wir einmal unsere Eindrücke und Erlebnisse in diesen Kriegstagen zu Papier bringen würden? Ich meine natürlich nur die bedeutendsten.“ Mit Begeisterung wird der Vorschlag aufgenommen, und man beschliesst, am ersten Schultag nach Weihnachten die Aufsätze einzuliefern.

In der Pause wird auf dem Schulhof lebhaft beraten, was man schreiben könnte; aber bald stellt sich heraus, dass das Thema seine Schwierigkeiten hat. Was hat man denn im Grunde erlebt, [sic] In den ersten Augusttagen war eine grosse Aufregung. Aber seither? Ein paarmal Vorbeimarsch der Truppen; der General im Automobil, Flieger über der Stadt, eine Menge Uniformen, alte und neue … im Grunde genommen alles nichts „Bedeutendes“. Nur das Roseli Morgenthaler meint zu Bethli Meier: „Darüber könnte ich ein ganzes Buch schreiben.“ – „Ja,“ macht das Margreth Frey, „das hat leicht, dem ist halt auch sein Papa im Dienst gestorben!“ – „Eben.“ – „Natürlich.“ – Und sie sind alle aufgeklärt, warum das Roseli über das schwierige Thema ein ganzes Buch schreiben könnte. Mit der Erinnerung erwacht auch wieder das Mitleid mit der frühen Waise. Aber dem Dörli Froschauer ist es unbequem, dass das Roseli wieder im Mittelpunkt der Unterhaltung steht. „Ich wüsste einen Titel für Roselis Buch,“ wirft es hochmütig dazwischen. – „Welchen?“ [„]Was denn für einen?“ fragt es durcheinander. „Die Memoiren des Abwaschmädchens der Madame Müller!“ Alle lachen, und mit einer kleinen Bewegung ihres schlanken, feinen Halses wirft das Dörli sein zierliches Gesichtchen mit den beiden dünnen, tiefschwarzen Augenbrauen über den dunkeln Sternen in die Höhe und verschwindet im Schulhause. Die meisten folgen ihm. Nur das Bethli bleibt bei Roseli zurück. „Was für ein Hochmutsnarr!“ macht es und schiebt seine Hand unter Roselis Arm. Hässlich, mager, voll gelber Flecken ist diese Hand, die jetzt auf Roselis Arm liegt, und nun schaut es der Besitzerin der Hand ins Gesicht, in ein Paar kleine, boshafte Aeuglein, die unter einer niederen, gelbfleckigen Stirne liegen. Schmierigbraune Haare ziehen über ein braunes Schädelchen nach einem formlosen kleinen Knötchen am Hinterkopf. Man erzählt sich hässliche Sachen von dem Bethli, alle meiden es. Und das will nun Arm in Arm mit ihm, dem Roseli, gehen, seine Freundin werden! Roseli macht sich los und rennt ins Schulhaus.

Am Mittag eilt es zu Müllers, nimmt in der Küche sein Mittagessen ein und hat dann eine Menge Geschirr abzuwaschen, mit dem es just vor Schulbeginn fertig wird. Abends hat es für Müllers noch einige Gänge zu besorgen. Gegen sechs Uhr kommt es nach Hause. So geht das nun schon über einen Monat. „Wie geht es dir, Roseli?“ ist immer die erste besorgte Frage der Mutter über die Nähmaschine, an der sie Militärwäsche schneidert, weg, wenn das Roseli eintritt.

„O, es geht sehr gut, Mutti,“ hat sich das Roseli angewöhnt zu sagen, angewöhnt in jener Nacht, da die Mutter stundenlang geweint, als es geklagt hatte, es glaube, es halte es nicht aus bei Müllers. „Müllers meinen es doch so gut mit uns, so gut!“ hatte die Mutter immer wieder gesagt, und das war ja wahr. Es fehlte nur an Roseli. „Gelt, es ist doch zum Aushalten?“ lächelte die Mutter auch heute wieder. „O ja, warum denn nicht?“ und Roseli machte sich in die Küche.

Aber als es einige Stunden später in seinem Bette lag, die Mutter und die beiden Brüderlein ruhig schliefen, meinte es doch, es sei nicht mehr zum Aushalten. Und doch, was war denn heute geschehen? Der Gusti hatte es nicht gegrüsst, das hochfahrende Dörli hatte das hässliche Wort von dem „Abwaschmädchen der Madame Müller“ aufgebracht und das verachtete Bethli hatte seine Freundschaft gesucht. Das war alles. Was war denn das gegenüber dem Schlag, als die Nachricht kam, der Vater sei im Dienst verunglückt, als die Mutter vor Schreck und Leid hatte zusammenbrechen wollen. Damals war es so mutig gewesen, hatte die Mutter getröstet! Und wie schön war das gewesen, als es nach dem ersten Monat bei Müllers der Mutter drei schöne, harte Fünffrankenstücke hatte auf den Tisch zählen können? Warum war es heute mit einemmal so schwach? Die Armut war doch gar nichts so schlimmes. Oder doch? War es nicht, als ob sie einen in einen Abgrund hinunterstiesse, in dem man rettungslos, haltlos immer tiefer hinunterglitt? War nun nicht schon der Gusti Uehlinger und alle, die einmal eine Gymnasiastenmütze getragen hatten, aus seinem Gesichtskreis verschwunden? Stand das Dörli Froschauer, mit dem es noch diesen Sommer Arm in Arm durch die Stadt spaziert war, nicht unerreichbar hoch über ihm, und nur das verachtete Bethli hatte noch etwas mit ihm gemein? Das war das Grauenhafteste, dass die Armut einem auch die Stellung im Leben und in der Zukunft anwies! Selbstverständlich musste Roseli im Frühjahr aus der Töchterschule austreten; es musste der Mutter helfen. – Sehr gern! Aber was würde dann aus ihm werden?

Da stöhnt sein Brüderlein laut im Schlaf. „Pst, pst,“ macht Roseli. Aber der Bruder fährt fort zu stöhnen. Da fällt Roseli ein: „Herr Kamerad, können Sie nicht ein bisschen stiller sein?“ Roseli lächelt. Indessen gibt das Bübchen nicht Ruhe, und Roseli muss Licht anzünden und das Kerlchen aus dem Bett heben. Wie es nun mit seinem langen Nachthemd auf dem Thrönlein sitzt, die hellen Locken wild zerstrubelt, wird es ganz wach und frägt: „Roseli, gelt, jetzt kommt dann das Christkindchen und bringt mir eine Trommel und einen Säbel?“

„Freilich,“ beruhigte Roseli.

„Du, aber gelt, das ist sicher wahr? Schwör einmal.“

„Aber gewiss doch, Butzi!“

 Kind mit Spielzeugkanone

Robert Wenner (1909-1979) mit Spielzeugkanone, ca. 1914. Es war lange Zeit üblich, kleine Knaben mit Spielzeugwaffen und -armeen, z.B. aus Zinn (Zinnsoldaten), zu beschenken. Der Wunsch von Roselis Bruder in der Geschichte war deshalb überhaupt nicht abwegig.

Aber er gibt nicht nach, bis sie die drei Schwurfinger erhoben hat, und nun schläft er, seiner Sache ganz sicher, weiter. Aber wie es nun wieder dunkel und still ist, überkommt Roseli von neuem das Grauen, und diesmal ist es nicht so fest davon überzeugt, dass die Armut nichts gar so schlimmes ist. Für die Erwachsenen, da ging es ja. Es hatte auf den neuen Mantel verzichtet, weil es begriffen hatte, dass es eben nicht möglich war, einen neuen zu kaufen. Aber das Büblein da konnte nicht verzichten, weil es nicht begreifen konnte. Dem Brüderlein seine Weihnachtswunsch nicht erfüllen zu können, tat weh, bitter weh. Und Roseli schluchzte leise in seine Kissen hinein. Aber wie ihm das Schluchzen an die eigenen Ohren klingt, fällt es ihm wieder ein: „Herr Kamerad, könnten Sie denn nicht ein bisschen stiller sein!“ Und wieder steht das Bild vor Roselis Augen, das es heute in der ersten Schulstunde so klar gesehen hat. Es denkt an den Krieg und an das namenlose Leid, das jetzt über die Erde geht, und darüber wird ihm das eigene Leid so nichtssagend, unbedeutend, dass es ihm lächerlich scheint, daran zu denken, geschweige davon zu reden. Und mit diesem Gedanken erwacht es am nächsten Morgen. Und in den folgenden Tagen ist er immer zuvorderst.

An einem Mittag hatte Roseli die Madame Müller etwas zu fragen, das fast nicht heraus wollte und auch ungeschickt zu sagen war. Als es die Frau Müller mit viel Freundlichkeit herausgeklaubt hatte, ward sie ernstlich böse: Sie, die Morgenthalers, hätten doch jetzt kein Geld für derartige Spielereien. Sparen sei jetzt ihre erste Pflicht. Aber da kam Herr Müller dazu; der wollte wissen, um was es sich handle, und Roseli musste noch einmal auspacken. Und Herr Müller lacht und sagt: „Selbstverständlich muss dein Bruder eine Trommel und einen Säbel haben, zumal wenn du geschworen hast; aber dass du deshalb eine Stunde länger bei uns arbeiten müssest, aus dem gibts nichts!“

Am Weihnachtsabend brannte bei Morgenthalers ein kleines Bäumchen. Der Jüngste hatte seine Trommel und seinen Säbel, und auch alle anderen ein kleines Geschenklein. Dieses Weihnachtsfestchen war lange nicht so traurig, wie es die zaghafte Witwe gefürchtet hatte. Als aber die Kerzen heruntergebrannt und die Buben ihm [sic] Bett waren, nahm Roseli sein Aufsatzheft und schrieb:

Mein wichtigstes Erlebnis in den ersten Kriegsmonaten.

(Aus den Memoiren des Abwaschmädchens der Madame Müller.)

Aeusserliche Dinge habe ich in diesen Monaten viele erlebt. Aber ich glaube nicht, dass [es] auf diese viel ankommt. Innerlich ist mir zum Bewusstsein gekommen, dass er Krieg dazu da ist, dass die Menschen von sich selber weg zu sehen lernen und sich selber nicht mehr so sehr wichtig nehmen. Dazu musste wohl so grosses Leid in die Welt kommen. Wenn ich wieder einmal zum Stöhnen elend bin, dann will ich zu mir sagen: „Herr Kamerad, könnten Sie nicht ein bisschen stiller sein,“ und daran denken, dass immer, auch wenn nicht Krieg ist, namenlos viel Elend und Leiden in der Welt sind.

Weihnachtsbaum

Weihnachtsbaum und Gabentisch in einer bürgerlichen Stube (Bild zwischen 1908 und 1921).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 913 (Heimatklänge. Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung, Nr. 52, 1916) sowie ZOF 002/02.07 (Salonzimmer mit geschmücktem Weihnachtsbaum, Bild aus der Diapositivsammlung der Psychiatrischen Klinik St.Pirminsberg, ungefähr zur Zeit des Ersten Weltkriegs, W 054/112.6.1 (Robert Wenner) und W 054/69B.8 (Christbaum mit brennenden Kerzen)

Sonntag, 24. Dezember 1916 – Weihnachtsfeier für Arbeiterkinder

Nicht alle Familien konnten sich einen Weihnachtsbaum und Geschenke leisten. Der Verband der Zimmerleute St.Gallen veranstaltete deshalb für seine Mitglieder eine kleine Feier, an der an bedürftige Kinder auch Gaben verteilt wurden. Die Feier war an zwei Sitzungen vorbesprochen und organisiert worden:

Protokoll der Sitzung vom 29. November 1916 im Vereinshaus.

[…]

Der Präsident gibt einleitend Aufschluss über die Ar[r]angierung einer bescheidenen Christbaumfeier u. regt zugleich die Abhaltung eines kleinern Familienfestchens an.

Zwecks einer regelrechten Gabenverteilung wird die Anzahl der zu beschenkenden Kinder durch Ausfüllung eines Fragebogens festgestellt.

Als Geschenkartikel sollen nur nützliche, für den täglichen Gebrauch bestimmte Sachen in Betracht fallen. Nach erfolgter Bescherung, d. heisst, sobald sich die Kinder nach Hause begeben haben, soll für die Erwachsenen noch eine kleine, gemütliche Nachfeier veranstaltet werden. Für den Einkauf der Gaben sollen Frauen dreier Kameraden nach näher bezeichneter Wahl bestimmt werden.

[…]

Protokoll der Vorstandssitzung v. 9. Dezember 1916 im Vereinshaus.

Der Präsident eröffnet die Sitzung um 7¼ Uhr in Anwesenheit der Kameraden Blaser[,] Schenk u. Bossart.

Als einziges Traktandum wird aufgeführt die Kristbaumfeier [sic].

Der Präsident macht Mitteilung über die Anzahl der Kinder, die zu beschenken wären. Es sind 47 angemeldet worden. Nach einer überschlägigen Berechnung müsste zur Durchführung der angeführten Feier die Summe von frs. 200 aufgewendet werden u. beantragt der Präsident, Kamerad Lautenschlager, der Versammlung ein diesbezügliches Kreditbegehren zu unterbreiten.

Der Kassier macht im Interesse der von ihm verwalteten Kasse Einwendungen. Der Präsident begründet aber die Höhe der Einkaufssumme mit der Preissteigerung aller Bedarfsartikel in dieser ausserordentlichen Zeit. Immerhin soll sich die Menge der Gaben nach den uns zur Verfügung stehenden Mitteln richten.

Als Käuferin[n]en der Gaben werden sodann bestimmt die Frauen Lautenschlager, Spoerry u. Bossart.

Als Bezugsquellen sind vorgesehen die Geschäfte von Braun, Globus u. Mai u. Cie.

Schluss der Sitzung um 8 ¼ Uhr.

Der Aktuar

Gottfr. Bossart

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 240/1.2-13.04 (Auszüge aus dem Vorstandsprotokoll des Verbandes der Zimmerleute St.Gallen, Stempel)

Donnerstag, 21. Dezember 1916 – „Warum feiern die Menschen noch Weihnachten?“ Gedanken eines zukünftigen Pfarrers

Oben: Briefkopf der „Helvetia“, Abstinentenverbindung an schweizerischen Mittelschulen. Stephan Martig benutzte dieses Briefpapier, um seinem Freund, Ernst Kind (1897-1983), zu schreiben.

Ernst Kind studierte ab 1917 an der Universität Zürich Germanistik und Geschichte. Er war später Rektor der Kantonsschule St.Gallen. 1932 heiratete er Wanda Bolter.

Stephan Martig (1898-1984) studierte ebenfalls an der Universität Zürich, aber Theologie. Er war anschliessend Pfarrer in Langwies, Luchsingen, Romanshorn und Winterthur. Während der Zeit im Gymnasium und während des Studiums war er aktives Mitglied der Antialkoholbewegung (Hevetia und Libertas). Er verheiratete sich 1922 mit Lina Gisep.

Chur, 21. Dez 1916

Mein lieber Ernst!

Nun erhälst [sic] Du auch wieder einmal ein Lebenszeichen von mir. Bitte entschuldige, das ich nicht früher geschrieben habe. Ich habe aber immer viel zu tun. Kann heute auch nur kurz machen, denn auf Weihnachten hat man immer so viel zu schreiben. Vor allem wünsche ich Dir, Deinen lb. Eltern und Schwestern recht fröhliche und schöne Festtage und ein wahres, erlösendes Weihnachtserleben. Trotzdem der Krieg um unsere Grenzen weitertobt und die Aussichten auf baldigen Frieden sehr klein sind, kommt auch am Endes [sic] dieses jammervollen Jahres die frohe Botschaft des heilenden Christus zu uns. Doch immer wieder steigt in mir eine lange Furcht auf, die fragt, warum feiern die Menschen noch Weihnachten, sie wollen ja auch heute noch wie vor 19 Jahrhunderten nichts vom Christus wissen. Was hat das Weihnachtsfest angesichts dieser bis ins Innerste zerrütteten Welt noch für einen Sinn? Doch dies sind nicht christliche Gedanken, es sind Gedanken, die die Welt uns aufdringen will. Wir müssen sie abweisen, müssen gegen sie ankämpfen. Und da hilft uns gerade die Weihnachtsbotschaft. Sie zeigt uns das geistige Wesen des Menschen, den Christus in jedem Menschen, die Macht der Liebe und Wahrheit Gottes. Auf diese Macht sollen wir unsere Gedanken richten, sie, Gott immer mehr bejahen, auf ihn vertrauen; dann, nur dann, wenn Gott für uns alles geworden ist, sehen wir ein, dass all diese[s] menschliche Elend der Herrlichkeit Gottes weichen muss. Darum wollen wir froh und zuversichtlich Weihnachten feiern und uns vertiefen in das, was Weihnachten bedeutet, damit wir während dem folgenden Jahre immer wieder neu Weihnachten erleben. –

Dann muss ich noch mich entschuldigen, dass ich auf meiner Rückreise aus der welschen Schweiz nicht zu Dir gekommen bin. Ich konnte nämlich keinen Aufenthalt machen in Zürich, da ich noch am gleichen Tage nach Chur gelangen wollte und in Wädenswil einen Zug überspringen musste um meine dortigen Verwandten zu besuchen. Allerdings wurde ich dann in Wädenswil dennoch festgehalten, sodass ich gut noch bis am Abend in Zürich bleiben hätte können.

Am 2. Jan. 17 habe ich in Zürich od. in Rapperswil eine Zentralausschussitzung der „Helvetia“, deren Aktuar ich bin. Wenn Du in Zürich wärest, würde ich Dich, wenn möglich, schnell besuchen. Es würde mich ausserordentlich freuen, Dich wieder einmal zu sehen. Aber nicht, dass Du etwa meinetwegen Deine Ferienpläne umänderst!

Ich muss hier abbrechen. Wünsche Dir und Deinen lb. Angehörigen ein segensreiches, friedenbringendes

Neujahr und grüsse Dich

Herzlich Dein

Alter Freund

Stephan Martig.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/5 (Nachlass Kind)