Briefpapier Grand Hotel

Mittwoch, 11. April 1917 – Interniertenlager in Château d’Oex

Der Psychiater Franz Beda Riklin leistete in den Waadtländer Alpen Dienst. Er leitete in Château-d’Oex ein Interniertenlager u.a. für englische Offiziere und hatte sich im Grand Hotel einquartiert, was er sich eigentlich nicht leisten konnte (s. weiter unten).

Während des Ersten Weltkriegs beherbergte die Schweiz über 12’000 Kriegsverletzte aller Parteien in verschiedenen Luftkurorten der deutschen und der welschen Schweiz.

Über seinen Einsatz schrieb Riklin in einem Brief vom 8. April 1917: Mein Vorgänger ist ein Arzt von hier, der genug hat, aber mir noch in Musse alles zeigen kann. […] Was schert mich im Grunde dieser Betrieb. Ich bin eine Art Anstaltsdirektor od. dgl., u. offenbar auch eine Art Diplomat. Ich fange erst morgen um 9 Uhr an zu arbeiten und bin im übrigen vollständig Einzelwesen [?].

Manchmal dauerte die Tätigkeit bis abends spät, wie er zwei Tage später schrieb: Es war schlimm, gestern nochmals bis fast Mitternacht aufbleiben zu müssen; aber es kam von Vevey der noch höhere Offizier, ein Major de la Harpe, der mich sehen wollte. Ich habe hier eine eigentümliche Stellung, die ich zuerst noch erfühlen muss; jedenfalls ist es für mich persönlich mehr eine diplomatische u. administrative Stellung; rein ärztlich habe ich nichts zu tun. Es muss mehr jemand da sein, der zur Sache sieht und eine Instanz ist. […] Ich werde hier isoli[e]rt bleiben müssen, denn die Engländer sind hier Internierte u. Klatschbasen u dgl., u. da muss ich würdevolle Distanz behalten. Also muss ich mehr in die Ferne denken. Ich rede dann zum mindesten den bessern englischen Akzent als die Herren hier, was auch die engl. Offiziere angenehm bemerkten.

Am 11. April schrieb Riklin gleich zwei Briefe an seine Ehefrau, hier der eine:

Chateau d’Oex, 11. April 1917.

Liebster Schatz!

Heute regnets wieder u. ist kalt. Gestern war ich zu Inspektion in Rougemont. das ist ein  noch unverdorbenes Dorf, mit einem [unlesbar] u. hübschem Schlössli u. Kirche. Ich lasse mir von den behandelnden Ärzten alle Leute vorzeigen u. sehe die verschiedenen Kriegsfolgen, zunächst am Leib: Glasaugen, amputi[e]rte Beine, Lähmungen, grosse Narben, das ganze Heer der Krüppel. Zweitens allerhand interne Übel. Drittens sieht man ziemlich viel Alkoholismus. Die alten Kastenoffiziere sind durchschnittlich widriger u. ungebildeter als die der sog. neuen Armee. Aber man fragt sich doch, in was für eine Welt von Geistiger [sic] Armutei [sic] man hineingeraten ist. Anderseits hat man durch die Leute den Kontakt mit allerhand Ereignissen: Fliegerkämpfen, [Wortanfang gestrichen] und bekannten Daten der Kriegsgeschichte. Es sind auch Gurk[h]as hier mit ihrem religiösen E[th]os [?] u. Begräbniszeremoniell, Kanadier, Australier, Irländer u.s.f.

Ich habe heute Fr. 50.- auf den Postcheckkonto einbezahlt, vorläufig der Betrag, den ich mitgenommen hatte.

Es gibt Tage, wo ich doch ziemlich viel zu tun habe; ich bin den Anstalts- & Familienpflegebetrieb doch nicht mehr so gewohnt.

Ich will heute noch den Kindern schreiben.

Nimm für den Moment mit diesem Vorlieb [sic], da man zum Essen klingelt, u. ich bin ausserordentlich begierig, was in Morcote ist, u. was mein lieber Schatz dort erlebt.

Mit den herzlichsten Grüssen

Dein treuer

Franz

Der andere Brief des Tages lautete so:

Ch. d’Oex, 11. April 1917.

Liebster Schatz!

Heute vormittag kam Dein erster Brief mit all den guten Nachrichten. Jetzt fährst Du gerade nach Morcote, bist schon bald in Lugano u. hast schönes Reisewetter. Vorläufig ist es hier nicht uninteressant, man sieht in einem Menge neue Verhältnisse hinein. Natürlich wiegt das Administrative vor. Aber es ist auch lustig, zu sehen[,] wie alles auf Englisch aussieht. Ich habe mir eben eine englische Ordonnanz geben lassen; es sieht besser aus, u. ich erfahre auch, wie der Soldat u. Mann aus dem Volk dort denkt. Gestern habe ich etwas billigere Pensionen angesehen, 6-7 frs.; die Zimmer sind recht; aber die Eigentümer sehen nach meinen Begriffen etwas grusig [schweizerdeutsch für unappetitlich] aus u. das Mobiliar auch ein wenig, sodass ich fast stutzig geworden bin. Ich sehe mir jetzt noch eine an.

Mein ganzer Sold beträgt sogar frs. 21.50 cts pro Tag.

Also die «Verkündigung» [Titel eines von Riklin gemalten, verkauften Bildes] ist verreist. Von hier aus empfinde ich merkwürdig wenig dazu, obwohl ich weiss, dass viel Kühnheit u. Wagen im Bilde ist.

Gestern kam mir der Gedanke wieder, ganz impressionistisch – od. expressionistisch über innere u. äussere Eindrücke hier zu schreiben. Das gäbe noch ein wenig Geld u. wäre eine Verarbeitung von dem, was ich doch aufnehmen muss. Der Gegensatz zwischen Muss und dem freien Annehmen der Eindrücke würde gemildert. Material wäre reichlich da, wenn man aus allem etwas formen könnte.

Malen kann ich noch nicht. Das Wetter war zu schlecht u. das Zimmer im Hotel nur abends etwas geheizt. Heute ists [sic] schön, aber wir machen eine Inspektionsreise.

Herzliche Grüse von Deinem treuen

Franz.

Zu Franz Beda Riklin vgl. auch die Beiträge vom 20. und vom 26. Juli 1916.

Zu den Internierungen in der Schweiz vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8704.php

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Briefe von Franz Beda Riklin an seine Ehefrau, 1917; Texte und Beitragsbild)

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Dienstag, 10. April 1917 – Frühlings- und Sommermode 1917 (Teil 2)

Fortsetzung des Berichts vom 8. April, neben den genannten Trends ist auch die bestickte, sogenannte russische Bluse en vogue:

In Sommerkleidern dürfte die Auswahl recht gross werden. Neben Kreppgeweben werden Voilestoffe, meistens aus Baumwolle, gebleicht, gefärbt, bedruckt oder bestickt, eine Hauptrolle spielen. Gewöhnlich kommen bei den Frühjahrsrevuen die leichten Sommerkleider bei den Vorführungen etwas zu kurz; das Gesehene lässt aber namentlich für die jüngere Damenwelt recht reichhaltige und geschmackvolle Ausführungen voraussehen. Die russische Bluse aus Krepp oder Voile, mit zartfarbigen Stickereien verziert, wird dabei ziemlich Erfolg haben.

In Kinderkleidern, die dieses Jahr auch vorgeführt wurden, spielen die vorgenannten leichten Stoffe die Hauptrolle, auch Batiste- und Rohseidengewebe, bedruckt oder bestickt, eignen sich gut hiefür. Für Sommerartikel könnte unsere schweizerische Plattstichweberei mit hübschen Neuheiten sich jedenfalls noch mehr Eingang verschaffen.

Der Hauptaufwand ist in Abend- und Gesellschaftskleidern gemacht worden, in denen wirklich vornehme und geschmackvolle Kleider vorgeführt worden sind. Als Stoffe sind qualitätsreiche Satins, wie satin duchesse, satin merveille, satin élégant verarbeitet worden, dazu Tüll oder Spitzen oder Perlstickereien. Namentlich in Schwarz mit farbigen Corsages sind reiche Kostüme vertreten, wobei schwarzer broschierter Tüll die leuchtende farbige Seide dämpft und anderseits Gold- oder Silberspitzen zu reicherer Garnierung dienen. Seidenstoffe spielen für Abendkleider eine hervorragende Rolle, wobei neben weichen glänzenden Geweben auch Taffet- und Faillegewebe vertreten sind. Sehr gut gefallen hat z.B. eine Robe aus Reseda changeant Taffet, das Corsage mit Rosen in brauner Seide bestickt und dasselbe oberhalb mit Goldspitzen garniert. Perlstickereien dürften bei diesen kostbaren Kleidern die effektvollere Garnitur sein und sehen derart ausgearbeitete Roben, namentlich auch in ganz Schwarz, sehr reich und vornehm aus. Für Festanlässe sind für die jüngere Welt die hellern, zarten Farben selbstverständlich vorgezogen worden. Einige crèmefarbene Kleider in Crêpe de Chine mit gleichfarbiger feiner Bordenstickerei. St.Galler Kunsterzeugnisse, haben ausserordentlich gefallen. Lebhaftere Farben, da oder dort entweder als gestickte Blumengrüppchen, als Gürtel oder Halsgarnitur angebracht, beleben die hellen Gewänder; auch mit künstlerischen Dessins bedruckte durchsichtige Stoffe bringen hübsche Variationen hinein. Einige sattfarbige Jungtöchterkleider, sogar eines mit mohnroter Bluse, hat man ganz gern gesehen, sie bringen etwas keckes in die auf graue, matte und dunkle Farben abgestimmte Mode.

Selbstverständlich wird bei der ausgesprochenen Tricotstoffmode die schweizerische Wirkerei- und Strickereiindustrie auf ausgiebige Beschäftigung rechnen können. Nicht nur in Sportkleidern, sondern auch in Ausgangskleidern hat man recht hübsche Kostüme aus Kunstseide oder Wolle zu Gesicht bekommen, namentlich für jugendliche Gestalten passend.

Zu den Strassenkleidern sind bei den Moderevuen auch die dazu passenden Hüte getragen worden. Es scheinen Matelot- und Rembrandtformen nebem Toques und sonstigen Gebilden der Hutmacherkunst zu gehen. Sehr fein sind die Hüte, die in ihrer Farbe mit dem Kleid der Trägerin übereinstimmen, gewöhnlich mehr durch gediegenes Material als durch Garnitur wirkend. Seidenbänder dürften als Hutgarnitur ziemlich starke Verwendung finden, daneben auch Federn und künstliche Blumen. Oefters sind abgesetzte, mehrfarbige und glänzende Motive in der Mitte des Hutes vorn der einzige Schmuck.

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Wie bereits erwähnt sind die Jupes länger geworden und die „forme tonneau“ bezeichnet den neuen Schnitt. Ziemlich liberal sind Variationen gestattet, vom elegant fallenden darpierten Rock über „Paniers“ bis zum unten sichtlich einwärts gerundeten und inwendig gesäumten Rock, der dadurch fast etwas Orientalisches aufweist. Bei alledem sind die Jupes immer noch kurz genug, um einen eleganten Strumpf und Schuh zur Geltung zu bringen. Die Schuhwarenfirma Doelker A.-G. in Zürich hatte für verschiedene der Moderevuen die zu den Kleidern passenden Schuhe zur Verfügung gestellt, wie sie die feinere Robe und das moderne Gesellschaftskleid verlangen, wenn das Gesamtbild harmonisch zur Geltung kommen soll. Anstatt der bisher beliebten hohen Schnürschuhe wird demnach in dieser Saison der Halbschuh dominieren, bei Strassenkleidern die zahlreichen Lack- und Wildlederarten und auch der weisse Schuh wird ein Favorit der Mode sein. Für Gesellschaftsroben werden immer noch der „Doré“ und fein nuancierte „Brocate“ beliebt sein, für die man aparte Muster in Gold- und Silberbrokaten benötigt. Als besondere Neuheit gelten die bis über die Fesseln hinaufreichenden Bindspangen-Halbschuhe.

So hat in Zürich trotz des Krieges die internationale Mode reich an Neuheiten und an künstlerischer Gestaltung ihren Einzug gehalten und die kommenden wärmern und schönern Tage werden zu ihrer erfreulichen Entfaltung beitragen.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 124 (Mitteilungen über Textil-Industrie, 24. Jg., Nr. 5/6, März 1917) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 29.03.1917, Abendblatt: Beitragsbild und 23.03.1917, Abendblatt: Anzeige für Modellhut-Ausstellung)

Briefkopf Platten

Ostermontag, 9. April 1917 – Ein St.Galler organisiert Lenins Reise nach Petrograd

Im April 1917 verhalf der Arbeiterführer und Linkssozialist Fritz Platten (1883-1942) dem im Zürcher Exil ausharrenden Lenin, in einem «versiegelten» Bahnwagen über deutsches, schwedisches und finnisches Gebiet nach Petrograd (St.Petersburg) zu gelangen. Hier rief Lenin zur sozialistischen Weltrevolution auf. Kein Geschoss, schrieb Stefan Zweig in seinen Sternstunden der Menschheit, war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte als dieser Zug. Es mag eine Randnotiz der Weltgeschichte sein, dass ausgerechnet ein St.Galler Bürger diese Reise mitorganisierte. Die Informationen zur Einbürgerung der Familie Platten finden sich unten im Text. Im Beitragsbild sieht man den Briefkopf des Schreibens, mit welchen sich der Vater von Fritz Platten an den Regierungsrat des Kantons St.Gallen wandte und um das Bürgerrecht nachsuchte.

Die Zugfahrt nach Petrograd

Regelmässig besuchte ein ruhiger introvertierter Herr die Zentralbibliothek Zürich. Der unscheinbare Vielleser wohnte im Niederdorf an der schmalen Spiegelgasse 14 bei Schuhmacher Titus Kammerer. Heute erinnert eine Gedenktafel daran, dass hier Wladimir Ilitsch Ulianow Lenin vom 21. Febr. 1916 bis zu seiner Abreise am 2. April 1917 wohnte.

Von ganz anderem Kaliber war Fritz Platten, der Sekretär des Arbeiterbildungsvereins «Eintracht». Er war kein stiller und verbissener Ideologe, sondern leidenschaftlich und den Freuden des Lebens, wie dem Tanzen und Jassen, durchaus zugetan. Da Platten die Kasse des Hilfsvereins für russische Flüchtlinge und politische Gefangene betreute, lernte er Lenin kennen und nahm mit ihm zusammen 1915 an der Zimmerwalder Konferenz teil. In einem Brief bezeichnete Lenin seinen Mitstreiter Platten als unfähigen Wirrkopf. Wie sehr ihm dessen Verhandlungsgeschick aber entgegenkam, zeigte sich bald.

Platten führte erfolgreich die Verhandlungen mit Freiherr von Romberg, dem deutschen Botschafter in der Schweiz und organisierte nach Ludendorffs Bewilligung die Reise Lenins nach Petrograd. Lenin wollte auf schnellstem Wege nach Russland. Die Zeit drängte, denn bereits seit dem 8. März 1917 rebellierten dort die hungrigen Arbeiter. Soldaten liefen zu den Aufständischen über, und die Staatsduma proklamierte eine neue Provisorische Regierung. Der Zar hatte am 15. März abgedankt.

Die deutsche Kriegsseite erhoffte sich von der Infiltration radikaler Revolutionäre beim russischen Gegner den dringend benötigten separaten Friedenschluss im Osten, da die Provisorische Regierung, im Gegensatz zu Lenin, den Krieg gegen Deutschland nicht beendigen wollte. Jeder Verbündete zur Zersetzung der russischen Front war willkommen, und so akzeptierte man die von Lenin gestellten Reisebedingungen weitgehend.

Am Ostermontag, dem 9. April, rollte der Zug mit insgesamt 33 Emigranten, darunter war das Ehepaar Lenin und dessen engste Mitarbeiter Georg Sinowjew und Karl Radek, aus dem Zürcher Hauptbahnhof. Die Reiseleitung oblag Fritz Platten. Deklariert war der verschlossene Wagen als Rücktransport sibirischer, in die Schweiz entflohener Sträflinge nach Rußland: Streng geheim – Exterritorialer Transport – Zusteigen verboten. Plombiert waren aber nicht die zwei Wagen des Zugs, sondern das Gepäck. Später stieg der Deutsch-Schwede Wilhelm Jansson, als Mitglied der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften, hinzu. Als von General Luddendorff auserwählter Transportleiter auf deutscher Seite stieg Arwed Freiherr von Planitz, Rittmeister des Regiments der Sächsischen Gardereiter, an Bord.

Die Fahrt ging vom Grenzübergang Gottmadingen über deutschen Boden mit Zwischenhalt in Berlin nach Sassnitz. Von dort aus fuhr die Gruppe mit der Fähre nach Trelleborg in Schweden, dann über Stockholm nach Tornio im Norden Finnlands, das damals zu Russland gehörte. Während Platten an der schwedisch-russischen Grenze von der republikanischen Regierung aufgehalten wurde und deshalb zunächst in die Schweiz zurückreiste, ging Lenis Reise weiter nach Petrograd, dem heutigen Leningrad, wo die Gruppe am 16. April 1917 abends ankam.

Der Husarenstreich durch Feindesland gelang. Kaum war Lenin angekommen, hielt er vor versammelten Arbeitermassen eine erste Rede.

In der Oktoberrevolution siegten Lenins radikale Bolschewisten über die bürgerlich-liberale Regierung. Der Separatfrieden im Osten änderte jedoch nichts am deutschen Kriegsschicksal, und Lenin wurde auch vorgeworfen, mit dem Feind kooperiert zu haben.

Höhen und Tiefen einer kommunistischen Karriere: Fritz Plattens Schicksal

Ende 1917 brach Platten erneut in Richtung Petrograd auf. Im Folgejahr soll er Lenin vor einem Revolverattentat gerettet haben und dabei an der Hand verletzt worden sein. Regelmässig pendelte Platten zwischen Russland und der Schweiz hin und her. 1921 wurde in der Schweiz die kommunistische Partei gegründet. Platten wurde ihr erster Sekretär sowie erster kommunistischer Nationalrat. Im Herbst 1923 gründete Platten eine schweizerische landwirtschaftliche Kommune in Simbirsk und bewog seine Eltern, mit ihm nach Russland auszuwandern. Dieses Unternehmen war erfolglos, und die Mutter verstarb 1928 verarmt im Altersasyl in Tablat. Platten selber wurde Opfer von Stalins Säuberungswellen und am 22. April 1942 in einem Arbeitslager erschossen.

Zeitgleich zu Plattens Rückführungsplanung der radikalen Exilanten versuchte der sozialistische Nationalrat Robert Grimm eine allgemeine Rückführung zu organisieren. Die selbständige Abreise der Bolschewisten wurde vom Emigrantenkomitee als Provokation wahrgenommen. In Zusammenarbeit mit Grimm hatte der St. Galler Bundesrat Arthur Hoffmann, ohne Kenntnis seiner Regierungskollegen, versucht, an der Weltkriegs-Ostfront einen Separatfrieden zu vermitteln. Obwohl er stets betonte, nur im Interesse der Schweiz gehandelt zu haben, wurde ihm von den Westmächten vorgeworfen, dass er Deutschland begünstigen wollte, damit deutsche Truppen zur Stärkung der Westfront hätten abgezogen werden können. Hoffmann trat auf Grund dieser Affäre am 19. Juni 1917 zurück.

Plattens Herkunft und Kindheit in St.Gallen

Das Staatsarchiv St.Gallen besitzt nur Quellen zu den frühen Jahren dieser abenteuerlichen, an Höhen und Tiefen reichen Biographie und Familiengeschichte, da die Familie bereits 1892 nach Zürich übersiedelte. Dort besuchte Fritz Platten die Sekundarschule.

Im Zivilstandsregister der vormals selbständigen St.Galler Gemeinde Tablat findet man im Geburtenregister A von 1883 unter der Nr. 169 die handschriftlich, zwischen die vorgedruckten Zeilen eingetragenen Angaben des Zivilstandsbeamten Carl Weyermann:

«Den achten Juli achtzehnhundert achtzig & drei um sieben Uhr Vormittags wurde in Hoggersberg lebend geboren: Friedrich ehelicher Sohn des Peter Platten, (Beruf: Schreiner von Mi[n]den, Bez[irk] Coblenz. Preuss[en] [heute: Nordrhein-Westfalen] in Hoggersberg [Höggerberg] und der Paulina Strässle von Bütschwyl. Eingetragen den neunten Juli achtzehnhundert achtzig & drei auf die Angabe des Vaters Peter Platten, Abgelesen und bestätigt: Peter Platten

Nachträglich vermerkte Staatsarchivar Josef Anton Müller am 8. Juli 1917 am Rand, dass Fritz Platten 1892 das Bürgerrecht von Tablat erhalten hatte.

Die Einbürgerungstaxe für die Familie betrug laut Quittung der Kantonsbuchhaltung 150 Franken.

Im Taufbuch der Dompfarrei von St.Gallen findet man zusätzlich auf Seite 164 unter der Nummer 289 den Taufeintrag des später konfessionslosen Kommunisten und erfährt, dass Friedrich, Sohn von Peter «Platen» (sic!) und Paulina Platten-Strässle (urspründlich aus Bütschwil SG), am 8. Juli morgens um 7 Uhr geboren und am 29. Juli getauft wurde. Als Wohnort der Eltern ist Rosenberg, Tablat angegeben.

Im Bürgerregister von Tablat findet sich das Blatt der Eltern von Fritz Platten: Peter Platten (08.07.1852-28.04.1925, Schmied!) und Maria Paulina Strässle (25.02.1851-11.12.1931). Sie hatten am 15. April 1879 in St.Gallen geheiratet. Neun Kinder sind aufgelistet, wobei die Reihenfolge in ein chronologisches Durcheinander ausartete:

1) Barbara Paulina (*16. Mai 1879)

2) Josefina Babetta (*28. Nov. 1880)

3) Franz (*23. Juni 1882)

4) Anton (*30. Aug. 1884)

6) Florian (*10. Nov. 1886)

5) Friedrich (*8. Juli 1883)

8) Veronika (*1. Juni 1891)

9) Albertina (*15. Jan. 1894)

7) Hugo Paul (*19. Jan. 1887)

Der zuständige Beamte legte der Familie ferner noch ein (unten fett markiertes) «Kuckucksei» ins Nest. Den Einträgen in den grossen blauen Zivilstandsregistern von St.Gallen und Tablat entnimmt man Folgendes:

Geburtsdatum Name Eltern Beruf d. V. Adresse
1 1879, 16. Mai Barbara Paulina Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Unterer Harfenberg 15 St.Gallen
2 1880, 28. Nov. Josefina Babetta Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Engelgasse 1, St. Gallen
3 1882, 23. Juni Franz Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Engelgasse 1. St.Gallen
4 1883, 8. Juli Friedrich Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Höggersberg
5 1884, 30. Aug. Anton Peter Platten Paulina Strässle Schreiner St. Fiden
6 1886, 10. Nov. Florian Peter Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Kleinberg
7 1887, 19. Jan. Hugo Paul Anton Anton Platten Maria Catharina Eberle Schreiner Kronthal
8 1891, 1. Juni Veronika Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Kleinberg
9 1894, 15. Jan. Albertina Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Zürich

Die Eltern des unter Nr. 7 in der Liste aufgeführten Hugo Paul Anton hiessen Anton Platten und Maria Catharina Eberle. Da besagter Anton Platten wie obiger Peter Platten ebenfalls aus Minden kam, muss man annehmen, dass es sich um dessen Bruder handelt. Den Beweis hierfür liefert der Ehebucheintrag von Anton Platten (geboren 09.08.1861) und Maria Katharina Eberle (geboren 20.08.1858), die am 6. August 1885 in St.Gallen geheiratet hatten. Als Eltern des Bräutigams Anton Platten werden hier ebenfalls Johann Platten und Margaretha Jacobs aufgeführt. Die Brüder Anton und Peter ergriffen beide das Schreinerhandwerk und fanden in der Gemeinde Tablat eine neue Heimat, was die Verwechslung natürlich begünstigte.

Als Peter Platten am 6. Mai 1882 von St.Gallen nach Tablat kam, erwarb er ein eigenes Haus und ging neben dem Wirtschaftsbetriebe hauptsächlich der Schreinerei nach, wie man dem Schreiben des Tablater Ortsverwaltungsrats vom 13. November 1891 betreffend Einbürgerungsgesuch des Peter Platten entnehmen kann. Der Vater wurde als arbeitsamer wie tüchtiger Mann charakterisiert, der für seine musterhafte Wirtschaftsführung bekannt gewesen sei (vgl. Briefkopf im Beitragsbild).

Text und Recherche: Benno Hägeli, Staatsarchiv St.Gallen

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZVD 64.2 (Zivilstandsregister Tablat, Geburtenregister A, 1883, Nr. 169), ZLA 2b/77 (Bürgerregister Tablat, Band B, Nr. 605), ZLA 002/312 (St.Gallen, Dompfarrei: Taufbuch, 1879-1884, S. 164, Nr. 289), ZLA 002/315 (St.Gallen-Dompfarrei: Ehebuch, 1870-1892, S. 178, Nr. 80) und KA R.88-5-a (Einbürgerungen, Dossier Peter Platten, 1891)

Literatur über Fritz Platten:

Hahlweg, Werner: Lenins Rückkehr nach Russland. 1917, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte.5. Jg. 4. Heft von 1957, S. 307-333. (http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1957_4.pdf).

Belzner, Emil: Die Fahrt in die Revolution, oder Jene Reise. Aide-Memoire. München, 1988

Platten, Fritz N.: Mein Vater Fritz Platten: ein Leben für die Revolution, in: Turicum, Sept. 1972, S. 17-22

Zweig, Stefan: Der versiegelte Zug: Lenin, 9. April 1917, in: Ders.: Die Sternstunden der Menschheit: Zwölf historische Miniaturen. Zürich: Ex Libris, 1982, S. 240-252

Miller, Ignaz: Der geheime Zug. In: NZZ am Sonntag, 02.04.2017

Huber, Peter: Stalins Schatten in die Schweiz. Schweizer Kommunisten in Moskau: Verteidiger und Gefangene der Komintern. Zürich: Chronos, 1994, S. 275-293

 

Ostersonntag, 8. April 1917 – Frühjahrsmode (Teil 1)

Im Archiv der Textifachschule Wattwil findet sich eine Zeitschrift mit dem Titel Mitteilungen über Textil-Industrie. Sie erschien im Kriegsjahr 1917 nur noch einmal, statt wie vorher zweimal pro Monat jeweils auf das Monatsende hin. Wann genau die Ausgabe von ihren Abonnenten (und vielleicht auch Abonenntinnen) gelesen wurde, ist (wie bei allen Monatszeitschriften) nicht nachzuvollziehen. Möglich, dass der eine oder die andere erst am Osterwochenende Zeit hatte, sich die Artikel zu Gemüte zu führen.

Im folgenden Bericht geht es um die – allen Kriegszeiten zum Trotz – mit viel Aufwand abgehaltenen Modeschauen in Zürich, die auch in St.Gallen Beachtung fanden. Da Industrie- und Gewerbezweige von der Mode abhingen,  war man interessiert, die neusten Trends der Frühlings- und Sommermode im Detail zu studieren. Saisonfarben waren Sandtöne, Blau, Braun, Weinrot und Schwarz, bei den Schnitten dominierte die sogenannte Forme tonneau:

Die internationale Frühjahrs- und Sommer-Damenmode 1917 in Zürich.

F.K. [Fritz Kaeser, Redaktor] Im Monat März haben die Moderevuen der grossen zürcherischen Modefirmen stattgefunden, die jeweils an die neuesten Pariser Modell selbst neue Kleider kreieren und sie mit ihren Mannequins den geladenen Gästen oder einem weitern eleganten Publikum vorführen. Solche Anlässe sind in Zürich bereits zu gut besuchten Veranstaltungen geworden, so die am 8. März begonnene, eine Woche dauernde Modenschau in den obern Sälen von Adolf Grieder & Co., dann die zweimalige Vorführung von Spoerry Detail A.-G. im Hôtel Baur au Lac und die nachfolgende von E. Spinner & Co., die ebenfalls in zwei Malen in den Sälen des letztgenannten Hôtels stattgefunden hat.

Nachfolgende Kollektivdarstellung soll ein Gesamtbild über die voraussichtliche Gestaltung der internationalen Frühjahrs- und Sommermode ermöglichen, wie sie sich aus vorgenannten Modevorführungen ergibt. Als besondere Kennzeichen der neuen Mode ist die Umformung des Glockenrockes zur „forme tonneau“ zu erwähnen. Rock und Bluse oder Corsage sind zusammen verarbeitet in der Art der Prinzesskleider mit ziemlich viel Faltenpartien, die Jupes sind über den Hüften weiter und bauschiger, nach unten sich wieder einwärts rundend und zudem etwas länger werdend. Zu diesen Kleidern sind eine Anzahl neuer Stoffe von tricotartigem Aussehen erstellt worden, die auch die Eigenschaften des Dehnens und Wiederzusammenziehens zeigen. Namentlich in der zürcherischen Seidenindustrie sind verschiedene wohlgelungene Neuheiten dieser Art erstellt worden, so seidene Gabardine, Jersey, Krepp-Jersey, Tricotine, Voile Gabardine und Armure Gabardine, die neben aparten Wollstoffen wie Nattine, Tricotine, Gabardine, Diafine, Serge und Covercoat für Tailleur- und Nachmittagskleider, sowie für Mäntel guter Aufnahme begegnen dürften. Daneben finden auch die andern Seidenstoffe Verwendung, die seit einiger Zeit im Vordergrund stehen, so Crêpe de Chine, Crêpe Georgette, Serge, Satin, Popeline, Bengaline, Voile, Mousseline chiffon etc. Taffete scheinen von ihrer frühern Beliebtheit eingebüsst zu haben, werden aber für feinere Roben und Abendkleider noch gerne verarbeitet.

Neu bei den Tailleur- und Nachmittagskleidern sind die hellfarbigen, aus leichten, meist durchsichtigen Stoffen ausgeführten, mit den Jupes zusammen verarbeiteten Corsages und Blusen. Währenddem Rock und Jakett [sic] von gleichem Stoff und Farbe sind, zeigt sich beim Ausziehen des Jaketts ein öfters angenehm überraschender Farbenkontrast, der durch die meistens geschmackvolle Ineinanderverarbeitung interessant wirkt. Als Farben dominieren allerlei graue, gelbliche und rötliche Sandfarben, Blau in vielerlei Nuancen und Tonabstufungen, daneben Braun, Weinrot und Schwarz. Sind die Schönheit der Stoffe und die feine Linie des Schnittes besonders zu erwähnen, so wird die Wirkung durch wenig, aber effektvolle Garnitur an Kragen, Manchetten [sic], Taschen und Gürteln erhöht. In diesen, den einzelnen Modellen gut angepassten farbigen Kurbel- oder Steppstichstickereien, bei reichern Toiletten auch Gold- oder Silberverzierungen oder Perlstickereien, sieht man sehr geschmackvolle Ornamente, zum Teil auch abgepasste Motive in Kreis. Oder Quadratform. Die jüngere Damenwelt wird an diesem Kleiderschmuck Gefallen finden, wie auch an den russischen mit Schärpen lose gebundenen Blusen mit ebensolchen Verzierungen. Vornehm wirkende Kleider werden diejenigen sein, die aus Seiden-Gabardine, Voile- oder Armure-Gabardine, Crêpe Jersey mit Seidenchiffon, oder mit gold- oder silberbesticktem Tüll zusammen verarbeitet werden, wie man vielerlei solcher prächtiger Kleider gesehen hat.

Die neuen Damenmäntel sind in Stoffen und Farben den Strassenkleidern gut angepasst; der Schnitt derselben ist lose anschliessend gehalten, wobei hie und da breite Kragen oder Kapuzen recht „chic“ aussehen. Diese Mäntel werden zum Teil mit Seide gefüttert; zu erwähnen ist z.B. ein Mantel aus gelbbrauner Gabardine, ganz mit bedrucktem Seidenstoff gefüttert und diesen über den breiten Kragen nach aussen ausgelegt. Das vielfarbige Cachemirdessin [sic] auf weisser Seide wirkt sehr reich.

Fruehjahrsmode

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 124 (Mitteilungen über Textil-Industrie, 24. Jg., Nr. 5/6, März 1917; Text) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 12.03.1917, Morgenblatt: Beitragsbild; 19.03.1917, Morgenblatt: Inserat der Firma S. A. Pollag & Co. St.Gallen)

Donnerstag, 5. April 1917 – Worauf es letztlich ankommt

Die Liebe ist ein Ding, Das ewig sich erneut

Und immer gleich sich bleibt. Es wechseln nur die Leut.

Der letzte Satz soll aber nicht etwa heissen, dass der Gegenstand der Liebe immer wechselt, sondern die Liebe ist etwas, das von einer Generation weitergeht auf die andere, ewig, solange es Menschen gibt.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 200/58 (Ausschnitt aus einer Liebesbrief-Postkarte)

Mittwoch, 4. April 1917 – Sleepless in St.Gallen

Auch bei seinem Aufenthalt in St.Gallen denkt der Kantonsschüler Ernst Kind unentwegt an seine Tanzstundenbekanntschaft:

(St.Gallen.)

Fern von der Liebsten bin ich jetzt

Und denke Stund um Stunde nur an sie,

Die Augen tränenfeucht, im Herzen süsse Furcht

Und hilflos wie ein Kind, das nach der Mutter weint.

In tiefem Sehnen liegt mein Sinn,

Mein Geist ist wach und sieht doch einen Traum,

Denn wach und träumend seh die eine ich allein,

Die meinen Geist erweckt und Liebe mich gelehrt.

Ich glaube, schon lange ist mit mir keine so starke Veränderung vorgegangen wie jetzt, seit ich Margrit Peter kenne. Ich bin überhaupt in allem anders; ich erkenne in mir einen andern Menschen als vorher. Ohne Pause trage ich denselben Gedanken mit mir herum und lebe nur noch für diesen Gedanken. War ich früher so leidenschaftlich? Jetzt bin ich es.

Und ich, den sie «Cato» nennen und der als Mädchenverächter bekannt ist, gerate wegen einem Mädchen in diesen kuriosen Traumzustand; ich fange sogar an zu dichten; ich möchte immer nur von diesem Mädchen reden und wage es doch nicht; ich spüre, wie ich tiefrot werde, wenn ihr Name einmal über meine Lippen kommt; ich betrachte auf dem kleinen Bild, das ich von unserer Tanzgesellschaft habe, nur dieses einzige Gesicht und (am merkwürdigsten bei meinem schlechten Gedächtnis) ich erinnere mich an jedes Wort, das sie zu mir sprach, an jedes kleine Ferienerlebnis, das sie mir erzählte; ich erfahre von ihr, dass sie diese Frühlingsferien in Peseux ob Neuenburg sein wird, und sofort steht mein Plan fest, meine Velotour nicht nur bis Solothurn, sondern weiter bis zum Neuenburgersee auszudehnen und einen kleinen Abstecher auf gut Glück eines zufälligen Begegnens nach Peseux hinauf zu machen. –

(Margrit P. ist gar nicht etwa hübsch zum Ansehen. Aber sie hat ein liebes Gesicht und ihre Art ist natürlich und vertrauend.)

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Waesche in Garten aufgehaengt

Montag, 2. April 1917 – Grosse Wäsche und Frühjahrsputz

Waschmaschinen gehören heute zum Alltag, und auch Waschküchenpläne sind weniger strikt als noch vor einigen Jahrzehnten. Hausfrauen waschen also, wann sie es für nötig halten, und viel öfter als früher.

Vor hundert Jahren war nur alle paar Wochen oder sogar nur zweimal pro Jahr grosser Waschtag. Waschen war eine körperlich anstrengende, langwierige und mit viel Aufwand verbundene Tätigkeit, die sich über mehrere Tage hinzog, wie die untenstehenden Zitate aus Johann Baptist Thürlemanns Tagebuch zeigen.

Zeitgenössische Berichte beschreiben die einzelnen Vorgänge einer grossen Wäsche. Zunächst wurden die schmutzigen Kleidungsstücke nach Farbe und Stoffarten sortiert und über Nacht in (anfangs) lauwarmes, mit Soda versetztes Wasser eingelegt. Am andern Tag musste man Stück für Stück auf der rechten und der linken Seite gründlich einseifen. Die eingeseiften Wäscheteile wurden hernach in einem Dampfhafen in Waschpulver und Seife zwei Stunden lang gekocht, um den Schmutz zu lösen. Erst danach begann das eigentliche Reinigen: Über die angerichtete Wäsche wird kochendes Seifenwasser gegossen und darin [!] jedes Stück tüchtig gerieben, sei es mit der Hand, am Waschbrett oder mit der Maschine, bis keine Flecken mehr darin sind. Dann kommt noch ein Aufguss siedendes, reines Wasser darüber, das die Seife entfernen soll. Endlich wird die durchgeseifte Wäsche in den Brunnentrog gelegt und solange tüchtig gespült, bis das Wasser rein abläuft. Dann erst wird das Weisse nach Belieben gebläut, indem ein Stück nach dem andern durch kaltes, mit Waschblau gefärbtes Wasser gezogen wird.

Neben diesen Arbeitsschritten musste man dafür sorgen, dass das Feuer unter dem Dampfhafen nicht ausging und dass dauernd genügend kochendes Wasser vorhanden war.

Bevor man die Wäsche anschliessend zum Trocknen ins Freie aufhängen konnte (vgl. Beitragsbild), musste man sie erst auswringen. Bei grossen Stücken wie beispielsweise einem Leintuch waren dazu zwei Personen nötig.

Stundenlanges Einseifen, Reiben und Spülen der Wäsche in teils heissem, teils kaltem Wasser griff die Haut der Hände empfindlich an und machte sie rissig und rauh. Wer es sich leisten konnte, stellte eine Waschfrau an.

Im Hause Thürlemann in Oberbüren hatte Caroline die grosse Wäsche für den Zweipersonenhaushalt auf die Woche vor Ostern angesetzt und gleich noch mit dem Frühjahrsputz der Wohnung verbunden:

Montag, 2. April 1917: Meine Haushälterin Caroline Wick war den ganzen Tag angestrengt mit ihrer Frühlingswäsche beschäftigt.

Dienstag, 3. April 1917: Caroline war den ganzen Tag mit ihrer Wäsche beschäftigt. Abends putzte und scheuerte sie die Waschgeräthe [sic] & die Küche. –

Mittwoch, 4. April 1917: Caroline war heute mit ihrer Wäsche beschäftigt. – Schon um ½ 9 Uhr vormittags hieng [sic] sie dieselbe zum Trocknen in der Hauswiese auf, wozu ihr Carl’s Knecht, Niedermann die Seile gespannt hatte. Nachmittags von 1-4 Uhr war sie mit dem Scheuern und Putzen meines Schlafzimmers beschäftigt.

Hoher Donnerstag, den 5. April 1917: Caroline war den ganzen Tag mit Bügeln beschäftigt. Abends putzte und scheuerte sie das Nebenzimmer; ich hatte aus diesem Grunde um ½ 5 Uhr abends das südliche Vorfenster der Nebenstube entfernt. –

Waschmaedel

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035a (Tagebuch Thürlemann) sowie BTN 1/1.2-65 (Beitragsbild: Lichtensteig, ca. 1909) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 03.03.1917, Morgenblatt, Anzeige für Teigseifen)

Hinweise zum Waschen aus: Langhans-Sulser, Emma: Erleben und Lernen. Ein Buch für unsere Mädchen, Bern 1911, S. 161-174 (Kapitel: Kleine Leute haben grosse Wäsche.)